Freitag, 29. Februar 2008

Musik und Philosophie

Musik und Philosophie

Über das innige Verhältnis zweier Erscheinungsformen des Geistes


Immer wieder begegnen uns in Konzert- oder CD-Kritiken Hinweise auf philosophische Ansätze von Interpretationen. Viele mag dies erstaunen, weil Musik doch im allgemeinen als Ausdruck der Empfindungen gesehen wird. Viele Komponisten, Johann Sebastian Bach, Carl Phillip Emanuel Bach, Joseph Haydn, Richard Wagner, Richard Strauss, Gustav Mahler etc. haben sich mit Philosophie beschäftigt und aus philosophischen Werken als unmittelbaren Inspirationsquellen für ihre Kompositionen geschöpft. „Also sprach Zarathustra“ , das als Nietzsches Hauptwerk angesehen wird, hat Richard Strauss in seiner symphonischen Dichtung gleichen Namens im Jahre 1896 vertont. Nietzsche hatte selber einmal gesagt: „Unter welche Rubrik gehört eigentlich dieser ‚Zarathustra‘? Ich glaube beinahe, unter die ‚Symphonien“. In der Tat erinnert die Vierteiligkeit des Werkes an die viersätzige Anlage der Symphonienform. Philosophen haben sich fast ausnahmslos intensiv mit Musik befasst und sahen sie unter den schönen Künsten nicht nur als etwas Besonderes an sondern betätigten sich selber als Komponisten. Jean Jacques Rousseaus Oper „Der Dorfwahrsager“ ist ein interessantes Beispiel dafür.

Es gibt also rein äußerlich sehr viele Schnittmengen zwischen Musik und Philosophie. Grund genug, auch einmal die inneren Zusammenhänge zu beleuchten, gerade weil Kunst in der individualistischen Kultur unserer Gegenwart bedauerlicherweise immer nur als etwas Privates, Individuelles und vor allem Subjektives gesehen wird. Bei Philosophie geht man zu recht viel eher von etwas Übergeordnetem, Rationalem und Objektivem aus. Doch man täusche sich nicht: das Objektive existiert im Subjektiven ebenso wie das Subjektive im Objektiven.

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Sozialisierung des Begriffes Philosophie und jene der Musik.


Schnittmengen


Philosophie – kaum einem anderen Begriff widerfährt im Sprachgebrauch unserer Tage mehr sorglose, ja missbräuchliche Verwendung. Dies geschieht im Bereich privater Kommunikation ebenso wie in Politik und vor allem Reklame.

Das Wort Philosophie wird so häufig gebraucht, dass der Eindruck entstehen könnte, unsere Gesellschaft bestünde aus lauter Weisen. Die wahre Ursache liegt jedoch im Grundproblem der bürgerlichen Gesellschaft und Ihren kapitalistischen Produktionsverhältnissen. In deren Vermarktungstaumel und daraus resultierenden Werberitualen müssen Dinge bekanntlich wertvoller erscheinen als sie in Wirklichkeit sind. Philosophie klingt wesentlich eindrucksvoller und vor allem ethisch hochstehender als „Verkaufs- bzw. Vermarktungsstrategie. Die Effekte solchen Täuschungsmanövers führen freilich kulturell wie gesellschaftlich zu geistiger Inflation, zu Sinnentlehrung bis hin zu völliger Bedeutungsumkehrung. Es ist nämlich gerade das Wesen der Philosophie, dass sie niemals manipuliert.

Auf persönlicher Ebene befindet sich das Subjekt in der Gefangenschaft totaler Subjektivität. Die eigene Wahrnehmung wird mit der Realität gleichgesetzt. An die Stelle notwendiger Fragen zum ergründen tritt die Energische, oft genug aggressive Verteidigung des Wahrgenommenen als Wirklichkeit bzw. (noch schlimmer) als Wahrheit. So gebrauchen die entfremdeten, im ungesunden Narzissmus gebannten Individuen immer Wieder den Begriff Philosophie im Sinne von Selbstbehauptung oder geistiger Aufwertung. Philosophie ist etwas ganz anderes als bloß „persönliche Ansicht“. Auch hier wird dem Begriff folgenreicher Schaden zugefügt, der gleichfalls zu Inflation, Sinnentlehrung und schließlich völliger Bedeutungsumkehrung führt. Er wird missbraucht, Willen oder Ambitionen zu rechtfertigen oder zu bemänteln und um der Subjektivität den Anschein des Objektiven verleihen zu können. Philosophie ist höchstens Erkenntnis eines Willens, niemals jedoch ist sie dessen Bemäntelung oder gar Vollstreckung. Philosophie versucht ins Licht zu rücken und nicht ins Dunkle zu führen

Musik – sie teilt im selben kulturellen, gesellschaftlichen Stadium befindlich ein ähnliches Schicksal mit der Philosophie. Der totale Veräußerungsprozess des Kapitalismus macht auch vor der Kunstmusik nicht Halt. Längst schon ist ihre Behandlung nicht mehr jene eines Kulturgutes als göttliches Geschenk sondern von Kaufhauswaren. Entsprechend schnöde sind die Rituale ihrer Anpreisung im Werbebereich, man höre nur einmal Bayern4-Klassik. Skrupelloseres widerfährt der Kunstmusik aber auch im Bereich von Alltagsprodukten. Hier wird sie von der Werbung missbraucht, um billigen Massenwaren ihren Glanz, ihre Aura des Kostbaren auszuleihen, damit die so aufgewerteten Produkte besseren Absatz finden. War es zunächst die Leistung der bürgerlichen Gesellschaft gewesen, die Gebrauchsmusik der Adelsgesellschaft zur hoch konzentrierten Ausdruckskunst zu transformieren, so wandelt sie der Terror des Marktes unserer Zeit zum Schlimmeren: zur Missbrauchsmusik. Besonders deutlich wird dies, wenn beispielsweise eine Messvertonung des 16. Jahrhunderts die Reklame für eine bestimmte bayerische Buttermarke zu untermalen hat.

So erfährt klassische Musik nicht nur durch die Möglichkeit permanenter Berieselung in Kaufhäusern oder privaten Haushalten ebenfalls Inflation, Sinnentlehrung und Bedeutungsumkehrung.

Musik und Philosophie haben, wie es der Untertitel dieses Vortrages bereits verrät, ein inniges Verhältnis. Dieses resultiert nun aber nicht aus der Gemeinsamkeit ihrer Schleifung in unseren Tagen. Beide sind – wie natürlich alle Schönen Künste und die Wissenschaften - Erscheinungsformen des Geistes. Als solche spiegeln sie immer das Gleiche wieder: den geistigen und gesellschaftlichen Status eines Kulturkreises durch die diversen Epochen hindurch. Wir erleben als Individuen der individualistischen, westlichen Kultur geistige Phänomene natürlich als eine Reihe individueller Produkte. In Wirklichkeit aber sind sie Produkte der Kulturdynamik und Kulturmechanik, die in jedem Kulturkreis wirken und ihm seine typischen Merkmale verleihen. Kulturdynamik und Kulturmechanik erhalten ihren Antrieb durch das Zusammenwirken zweier Stränge. Der eine Strang ist der Geist, das Spirituelle würde man heute sagen, der andere ist die Gesellschaft. Beide Stränge stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander, bald befinden sie sich in Harmonie, bald in Widersprüchen bis hin zum schroffen, unversöhnlichen Gegensatz, der zum kulturellen Quantensprung führt. Im Bereich zwischen den Strängen befinden sich die Individuen. Sie stehen im dialektischen Verhältnis sowohl zueinander als auch zu den beiden Strängen. Selbstverständlich wissen wir, dass die Erfindung eines Individuums die Wirklichkeit verändern kann. Eine Erfindung ist jedoch immer abhängig von der jeweils geistigen und gesellschaftlichen Realität – sonst hätte man beispielsweise das Auto bereits in der Antike zufällig erfunden haben können.

War zu Beginn dieses Vortrags von der Schleifung der Musik und des Begriffes Philosophie in unseren Tagen die Rede, so ist zu unterstreichen, dass diese das Resultat unserer europäischen Kulturdynamik ist. Das Ergebnis einer Ursachenanalyse darf nicht zu Schuldzuweisungen führen, sie soll vielmehr ein Verantwortungsbewusstsein wecken. Schuldzuweisungen verstellen die Sicht auf die Wirklichkeit, die sich in Musik und Philosophie ja wiederspiegelt. Wie sinnlos es ist, Entwicklungen per Beschluss von oben her aufzuhalten oder umzuwandeln, haben die Diktaturen des 20. Jahrhunderts hinreichend bewiesen.

Resultate Europäischer Kulturdynamik: Spaltung des Rationalen und Emotionalen, Herrschaft des Willens

Diese Wirklichkeit lehrt uns indes ein weiteres Resultat europäischer Kulturdynamik: Vernunft und Empfindung haben sich in unserer Kultur deutlich voneinander entfernt. Dies spiegelt sich in der Meinung, Philosophie sei in erster Linie dem Rationalen, Musik in erster Linie dem Empfindsamen zuzuordnen. Schaut man auf Werke der zeitgenössischen Philosophie, so werden Viele sich in ihrer Meinung bestätigt sehen, weil das Gelesene den Nichteingeweihten so komplex und dicht gewoben erscheint, dass sie es kaum verstehen können. Der Konsument solch tiefschürfender Lektüre mag dann zu dem Schluss kommen, er habe es mit akademischen, intellektuellen Verstiegenheiten zu tun. Philosophie, davon wird noch gesprochen werden, erforscht alles Seiende, insofern hat sie sehr wohl mit Empfindungen zu tun, auf der Seite des „Untersuchungsgegenstandes“ und der eigenen gefühlsmäßigen Reaktion auf gewonnene Einsichten. Die Musik wirkt selbstverständlich viel unmittelbarer auf die Gefühle als es die Philosophie tut. Dennoch birgt die Musik ebenfalls wesentliche rationale Komponenten. Ohne sie wäre Musik gar nicht mitteilbar. Form und Satztechnik sind die unabdingbare Grundlage für eine rezepierbare Musik. Der „Konsument“ merkt dies nicht vordergründig, er muss es auch nicht merken. Bestünde Musik aber nicht sowohl aus dem Rationalen als auch dem Empfindsamen, so hätte sich in ihr die kulturelle Separation von Empfindung und Vernunft nicht so deutlich und folgenreich abspielen können. Lauschen wir zum Beispiel Kunstmusik aus der Epoche der Avantgarde (50er bis späte 70er Jahre des letzten Jahrhunderts), müssen wir konstatieren, dass hier wenig Gefühl oder Emotion zu spüren ist. Wir vernehmen Kompositionen, die vollkommen durchorganisiert, durchkonstruiert und vom Willen des Komponisten total durchdrungen sind. In der Begegnung mit Unterhaltungsmusik der selben Zeit, beispielsweise Hardrock, werden wir mit Musik konfrontiert, welche kaum Rationalität erkennen lässt bzw. anspricht, weil sie ausschließlich den emotionalen, trieb- und instinkthaften Persönlichkeitsteil stimulieren möchte. An dieser Stelle wird sich Mancher zum beliebten Einwand berufen fühlen, es sei schon immer der Unterschied zwischen Kunst und Unterhaltungsmusik gewesen, dass sich die eine dem Rationalen, die andere dem Emotionalen zuwendet. Ein Blick in die Frühzeit der europäischen Musik lehrt uns etwas anderes. Die Spaltung in E- oder U-Musik, wie sie uns geläufig ist, hatte noch nicht existiert. Es gab funktionsgebundene Musik, hie höfische, da Spielmanns und dort geistliche Musik. Bei der höfischen Musik erscheint uns Rationales und Emotionales durchaus ausgewogen und die Tanzmusik der niederen Volksschichten viel weniger entfesselt, ohne Appell ausschließlich an niedrige Persönlichkeitsanteile.

Ein weiterer, bedeutsamer Unterschied zu damals besteht vor allem im ungeheuren individuellen Willen, in der Absicht, der Zielrichtung und im Spezialisierten aller Sparten der Künste. Dagegen stehen in früheren Zeiten Hingabe und Orientierung am Gesamten im Vordergrund. Das Zeitalter des Humanismus (Ende des 15. Jahrhunderts und 16.Jahrhundert), wo der Mensch in den Mittelpunkt aller Dinge gerückt wurde, erweckte das Individuelle und den Willen in der Kultur. Beide traten in den darauffolgenden Jahrhunderten ihren Siegeszug auf sämtlichen ebenen an. Für die Philosophen und alle Künstler stellt sich grundsätzlich die Frage, in wie weit Hingabe oder Wille sie empfänglicher für Eingebungen oder Erkenntnisse macht. Hingabe ist Fähigkeit und Tugend, Wille ist Trieb und Impuls der Persönlichkeit. Ursprünglich wurzelt er im Instinkthaften, im Überlebenstrieb, der Kontrolle durch Vernunft entzogen. Wille kann den Erkenntnisakt oder den kreativen Akt blockieren, wenn er das Individuum verhindert, mit dem großen übergeordneten Kontext in Kontakt zu treten und zu „kooperieren“ .


Vom „Sündenfall des Menschen“ zum „Sündenfall der Philosophie und der Kunst “

Kooperativ zeigten sich vor allem Adam und Eva im Paradies. Die Schlange verführte sie zum Verstoß gegen Gottes Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Mit der Fähigkeit zur Erkenntnis dessen, was gut, vor allem aber was böse sei, war das Paradies bereits verloren. Die beiden Sünder waren entgegen der Verheißung der Schlange nicht wie Gott geworden, sie waren Menschen, dem Guten und Bösen preisgegeben. Neben dem theologischen Aspekt dieser eindrucksvollen Bibelpassage, lässt sich auch ein psychologischer und andropologischer Aspekt anschauen. Hier wird Individuation geschildert, die im Menschen als Spezies und als Individuum eine große Rolle spielt. In ihr erkannte der Mensch bzw. erkennt ein Individuum sich als Person mit eigener Gefühls- und Gedankenwelt und sein Gegenüber als die andere Person. Das Dämmern der Existenz von Anderen oder vom Anderen im Sinne einer Umwelt bringt die Notwendigkeit von Kommunikation und wirft Fragen auf. „Wie ist Etwas und warum ist es so“. Freilich ist der Wissensdrang je nach Persönlichkeit oder Begabung unterschiedlich stark. Die Fragen werden differenzierter, die Kommunikation wird es ebenfalls. Ab einem gewissen Grade der Differenzierung, wenn die Bedeutung des Kommunizierten über Alltägliches hinausgeht und mit dem Metaphysischen in Kontakt tritt, entstehen die Künste.

Wenn dann das Fragen nicht mehr aufhört, wenn sich Fragen nicht nur auf Personen, Sichtbares und Greifbares sondern auch auf das, was sich über oder hinter der Natur der Dinge befindet, kommen wir zur Philosophie. Ein herrliches Wort „Liebe zur Weisheit“, aber auch „Freund des Wissens“ kann man es übersetzen. „Philosophieren wurde zum erstenmal bei Herodot (484-425 v. Chr.) gebraucht.

Bei den Philosophen der griechischen Antike (z. B. Pythagoras, Platon , Aristoteles) wird offenbar, dass Philosophie als die Urwissenschaft schlechthin anzusehen ist. Die Frage „wie etwas ist und warum es so ist“ führt nicht nur ins Wesen der Dinge (wobei die „Reise“ niemals enden wird). Die Anhäufung der gewonnenen Erkenntnisse führt zwangsläufig zum Sortieren in bestimmte Fachgebiete. Die Philosophie entwickelte in der frühen Antike sozusagen Ableger: die Naturwissenschaften. Die Philosophen versuchten, Natur und Wirklichkeit in Formeln und Gesetzmäßigkeiten zu fassen, um sie so der Rationalität einfacher zugänglich und verfügbar zu machen. Hier liegt der Ursprung für die abendländische Neigung zur Spezialisierung wie auch zum Übergewicht des Rationalen. Die Philosophen der Frühzeit waren also immer auch Naturwissenschaftler. Von Naturwissenschaften sprach man jedoch bis weit in die Geschichte hinein noch nicht. Man zählte sie zu den Künsten. Musik als Kunst gehörte demnach in die selbe Rubrik und stand selbstverständlich, wie sämtliche Schönen Künste, im Focus philosophischer Betrachtungen.

Aristoteles (383 – 322 v. Chr.) verband als Erster die Kunst mit dem Denken und Erkennen, was er als „Seelentätigkeit“ bezeichnete. Dieser Aspekt hat höchste Relevanz für die abendländische Anschauung dessen, was Kunst berechtigter Weise einfordern soll. Dies gilt ganz besonders ab der Wiener Klassik ( spätes18.Jahrhundert), sowohl für Interpreten als auch für die Rezepienten von Kunstmusik. Es geht nicht nur um den Genuss schöner Melodien, um hehre Empfindungen sondern auch um Gedankenarbeit, die mitverfolgt werden soll. Aber auch schon das Werk Johann Sebastian Bachs fordert dies.

Bei Platon, der die anderen Schönen Künste eher verächtlich betrachtete, spielte die ethische Wirkung von Musik eine wesentliche Rolle, weshalb er in „Politea“ der Musik ein großes Kapitel widmete. Darin behandelt er diese Wirkung im Bezug auf mögliche Nutzen oder Schäden für Staat und Gesellschaft.

Musik aus der Zeit der Antike ist uns leider kaum erhalten.

Augustinus (354 - 430), dessen musikalische Vorstellungen noch stark die Einflüsse Platons erkennen lassen, verfasste die erste ganz auf die Musik ausgerichtete philosophische Schrift „De Musica“. Für ihn galt Musik als zweierlei. Der Philosoph sah in ihr den Spiegel der Welt als göttliche Schöpfung. Der Theologe erklärte sie als „Donum Dei“ – als Gottesgeschenk. Bis weit in das 18.Jahrhundert hinein bestand denn auch die Auffassung, Musik habe die perfekte Schöpfung Gottes zu spiegeln und zu preisen. Augustinus sah in Gott den tiefsten Wesensgrund und höchsten Wertmaßstab zugleich. Er forderte diese Sichtweise sowohl für die Philosophie als auch für die Musik. Erst das Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen lässt Philosophen oder Musiker ihre Aufgabe in der richtigen Weise begreifen und erfüllen.

Böthius (um 480 – 524) wurzelte in Augustinus, er führte die unterschiedlichen musikphilosophischen Ansätze Platons und Aristoteles zusammen. Gerade hieraus ergab sich ein Impuls für das innige Verhältnis von Musik und Philosophie. Der aristotelische Ansatz, wonach Kunst Denk- und Erkenntnisprozess sei, beförderte Böthius, Musik als Instrument der Philosophie zu sehen.

Vor allem aber wirkten die Vorstellungen Augustinus bedeutungsvoll und folgenreich auf spätere Epochen.

Im Mittelalter wurde die Philosophie „ancilla theologicae“ – eine Magd der Theologie.

Wie eng das Rationale und Empfindsame damals kulturell noch bei einander gewesen sind, bezeugt Folgendes: zum Kern eines jeden Universitätsstudiums gehörten im Mittelalter nämlich die „Artes liberales“ – die „Freien Künste“. Dazu zählten: Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie - und Musik. Musik befand sich damals also in bester Gesellschaft mit dem, was wir heute dem Akademischen, Intellektuellen, trocken Wissenschaftlichen zuordnen würden.

Mit dem Humanismus emanzipierte sich die Philosophie von der Theologie. Der Mensch als Mittelpunkt aller Dinge wagte an Vorgaben der Theologie zu zweifeln.

Johannes Duns Scottus (1265 – 1308) hatte schon lange zuvor gar die Unabhängigkeit von Philosophie und Theologie gefordert. Nicht Gott als Person sondern das Seiende als Seiendes sollte Gegenstand der Betrachtungen sein. Solche Trennung ist wahrhaftig essenziell, weil Philosophie ergründet, fragt und vor allem zweifeln muss, wogegen die Theologie zu verkünden, erklären, gebieten und auch zu verbieten hat.

Als die spezifisch europäische Kulturdynamik zum Humanismus geführt hatte, der den Menschen an die erste Stelle aller Dinge rückte, wandte sich der Blick kulturell gesehen vom Gesamten zum Einzelnen, zum Subjekt. Logischerweise gewann das Subjektive nun immer mehr an Bedeutung. Erst solche Konzepte, in denen geistige Erkenntnisse nicht auf das Allgemeine sondern auf das Individuelle ausgerichtet waren, ermöglichten die Begründung einer empirischen Wissenschaft. Francis Bacon (1561 - 1626) ) forderte eine Abkehr von Spekulation oder Autoritätsgläubigkeit. Dieser Weg wurde seit dem 16. Jahrhundert zunächst zaghaft, schließlich zielstrebig verfolgt.

Descartes - Bach

Und so kommen wir bei René Descartes (1596 – 1650) an. Johann Sebastian Bach (1685 – 1750) hatte sich mit Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) beschäftigt und wurde durch ihr Denken auch in seinem Schaffen beeinflusst. Die Fuge repräsentiert den Stand der kulturellen Subjektivität zu Descartes Zeit und weist auch darüber hinaus interessante Entsprechungen zu dessen Denkmethode auf.

Darin wurde zum ersten Mal die Subjektivität als relevant in philosophische Betrachtungen einbezogen. Descartes entwickelte eine Erkenntnistheorie, die nur das als richtig akzeptierte, was durch die eigene Analyse und logische Reflexion plausibel nachweisbar war.

Ein Fugenkomponist erfand ein eigenes musikalisches Gebilde, das bis zum Ende des Barock (Mitte des 18.Jahrhunderts) angemessenerweise Subjekt genannt wurde. Aus diesem alleine setzte er ohne Variierungen der erfundenen Substanz sein Werk zusammen.

Nach Descartes Ethikvorstellung hatte sich das Individuum im Sinne bewährter gesellschaftlicher Konventionen pflichtbewusst und moralisch einwandfrei zu verhalten.

In der Fuge waren verbindliche, erkennbare, niemals abgeänderte Kompositionsprinzipien vorgegeben. Ein Beispiel hierfür ist die Imitation. Alle beteiligten Stimmen setzen wie beim Kanon nacheinander mit dem Subjekt ein. Nachdem alle Stimmen eingesetzt haben, wird das Subjekt in einer von ihnen immer wieder zitiert. Das Subjekt darf nicht verändert werden, es sei denn, dass es in seiner veränderten Form dann verbindlich so weitergeführt wird.

Gefühlsregungen wie Liebe oder Hass etc. sieht Descartes als natürliche mentale Ausflüsse der Körperlichkeit des Menschen als Kreatur. Er verpflichtete diesen aber zu ihrer Kontrolle durch den Willen und die Vernunft.

Länge, Dramatik, Gefühlsintensität und Charakter seiner Fuge ordnete der Komponist seinem Willen und seiner Vernunft unter.

In diesem Stadium europäischer Kultur erscheinen Gefühl und Vernunft bereits als sich emanzipierende, sich abgrenzende Sektoren.

Kurz bevor das Subjektive in der Kultur das Objektive überschritt, komponierte Bach 1750 „Die Kunst der Fuge“, als habe er den kulturellen und folgenreichen Wechsel vorausgeahnt. Ein Werk höchster Vollendung, in welchem das Subjektive noch dem Objektiven, die Empfindungen noch dem Rationalen sinnvoll und zweckmäßig untergeordnet sind.

Sieg des subjektiven

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgte dann der Kopernikuseffekt in der Kultur. Animositäten zwischen Aufklärungsphilosophie und Anhängern der Ideen Jean Jacques Rousseaus (1712 – 1778), mit der Betonung des Empfindsamen, des Natürlichen und Individuellen, spiegelten eine bereits beträchtliche erworbene kulturelle Unausgewogenheit. Doch selbst die Aufklärung konnte sich der Übernahme durch das Subjektive nicht entziehen. Der Kopernikuseffekt zeichnet das Spätwerk Immanuel Kants (1724 – 1804) aus, wenn er sagt, das Objektive sei von der Erkenntnisfähigkeit des Subjekts abhängig.

Die Werke Carl Phillip Emanuel Bachs (1714 –1788), die man dem „Sturm und Drang zuordnet (für Musik ein unglücklicher Ausdruck), zeichnen sich nicht nur durch hohe Expressivität und Kühnheit sondern vor allem durch Zerrissenheit aus. Diese hat ihren Ursprung in der Konfliktsituation zwischen dem Rationalen und dem Empfindsamen auf kultureller Ebene, die sich in der Persönlichkeit des Komponisten bereits abzeichnete. Es entbehrt nicht einer gewissen Kuriosität, dass die Kompositionen Rousseaus, der das Empfindsame und Natürliche in seinem philosophischen Ansatz so stark betonte, verglichen mit Carl Phillip Emanuel Bach auffällig zurückhaltend, höfisch und vorsichtig wirken.

Es war das Verdienst der Wiener Klassik, das Rationale und das Empfindsame, die Form und den Ausdruck wieder in „Korrespondenz“ ja sogar Balance zu bringen.

Joseph Haydn (1732 – 1809) ging 1790 nach London, weil er den ungewöhnlich hoch dotierten Auftrag für eine Opernkomposition ausführen wollte. Der Titel des Werkes: L’Annima di Filosofo ossia L’Orfeo e Euridice”. Weil es zu Eifersüchteleien zwischen dem englischen König und dem Thronfolger kam, wurde eine Aufführung des Werkes verboten, es ist daher unvollendet. Vielfach wird herumgerätselt, woher der eigenartige Titel rührt. Ein Blick ins Libretto gibt Aufschluss. Die bekannte Handlung des Orfeo-Stoffes orientiert sich im Wesentlichen an Glucks Eurydic e-Vertonung. In Haydns Version wurde jedoch noch eine Art Meta-Ebene eingeführt, welche über die philosophischen Aspekte der Handlung und der Gefühle reflektiert. Darin wird besonders deutlich hervorgehoben, wie schwer es letztlich ist, Gefühle mit der Vernunft zu vereinbaren oder zu kontrollieren.

Das ist bereits eine Art Vorausschau auf Schopenhauer oder überhaupt das Grundproblem des 19. Jahrhunderts. In der neuen bürgerlichen Gesellschaft, wurde geradezu euphorisch der Geist des Alles Machbaren bzw. vom Individuum Kontrollierbaren geschürt. Philosophen und Künstler mussten zu allen Zeiten immer wieder schmerzhaft erkennen, wie schwer es ist, Instinkt- oder Triebhaftes ohne Not zu kontrollieren oder zu unterdrücken. Bei Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) werden wir Zeugen, in welche Tragik die intellektuellen, rationalen Allmachtsvisionen ein geniales Individuum stürzen konnten, weil ihm die Kontrolle über seinen instinkt- und Triebhaften Persönlichkeitsanteil entzogen blieb. Frustration ist unüberhörbare Quelle seines Weltpessimismus. Es drängt sich der Verdacht auf, als sei der unkontrollierbare archaische Persönlichkeitsanteil jener Weltwille, an dem sich das Subjekt in einer Gesellschaft des Scheins und der Triebunterdrückung - vorne hui, hinten pfui – aufreiben muss. Die Entsagung, die Unterwerfung unter den Weltwillen, wie Schopenhauer sie forderte, ist nichts anderes als zähneknirschende Aufgabe. Sie hat nichts mit der buddhistischen erkenntnisbegründeten Hingabe an die Realität zu tun, obwohl Schopenhauer dies fest geglaubt hatte. Hingabe ist nicht Aufgeben, Hingabe ist freiwillig, sie ist Bereitschaft, der sich Hingebende ist mit ihr ohne Jammer identifiziert. Hingabe ist das umgekehrte Prinzip zum Willen.

In Richard Wagners (1813 – 1883) Tristan und im Parsifal besitzen Musik und Philosophie nicht nur ein inniges Verhältnis, hier werden sie gleichsam identisch. Beide Bühnenwerke sind Reflektionen von Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“.

Doch bereits mit den idealistischen Philosophen Fichte, Schelling etc. fällt es schwer, von genuiner Philosophie zu sprechen, denn seit dem 19.Jahrhundert hat die Subjektivität absolute Oberhand über die Kultur – mit erheblichen Folgen.

Ihr Wesensprinzip, wonach Manipulation jeglicher Erkenntnis zuwider läuft, kann die Philosophie in totaler Subjektivität nicht länger aufrecht erhalten, weil stets nur interpretiert wird und subjektive Wahrnehmungen als allgemeingültige Wahrheiten verkauft werden.

Die privaten Weltbilder machen ihre Väter zu Rivalen, weil nur einer recht haben kann oder darf. Dieser Prozess spiegelt sich in den Künsten darin wieder, dass nunmehr rivalisierende, konträre Kunstkonzeptionen unversöhnlich das Feld beherrschen. Kultur und Gesellschaft zahlen einen hohen Preis dafür. Es bleibt nunmehr dem Zufall überlassen, wann das subjektive künstlerische oder philosophische Angebot vom individualistischen Subjekt als passend oder verständlich empfunden wird. Allgemeines Beurteilungsvermögen sinkt, den Täuschungsmanövern fragwürdiger wirtschaftlicher Protagonisten sind Tor und Tür damit weit geöffnet.

Wenn Philosophie die Welt individuell verkündet, individuell erklärt, individuell interpretiert, sind wir bei Ideologie. Das Subjekt vermag nur zu Philosophieren, wenn es das Objektive außerhalb seiner Selbst akzeptiert, es von sich unabhängig macht und umgekehrt.

Philosophie ist die Wissenschaft, deren Hauptmerkmal darin liegt, dass die Antwort auf eine Frage immer nur eine weitere frage ist.

Pythagoras soll schon gesagt haben, nur Gott besitze Sophia, ein Mensch könne nur nach ihr streben. Gemäß Platon schließen sich Streben nach Weisheit und Besitz derselben sogar aus. Letzterer, so Platon, käme nur einem Gott zu. Auch hierin befinden sich Musik und Philosophie in einem innigen Verhältnis. Der produzierende wie der reproduzierende Künstler kommen der Vollendung im Laufe ihres Lebens durch unermüdliches Streben näher – ohne sie jemals zu erreichen. Perfektion indessen bleibt dem genuinen Schöpfer, Gott also, vorbehalten.

Hingabe und nicht Wille, der Blick auch auf das Gesamte nicht nur auf das Einzelne oder sich selber bringen uns philosophischer oder künstlerischer Vollendung näher.

In den Produktionsverhältnissen unserer Gesellschaft lässt sich bedauerlicherweise nicht nach folgender ethisch hochstehender griechisch antiker Haltung leben: was man um des Lohnes willen tun muss, ist dem Menschen nicht angemessen“.