Donnerstag, 9. Oktober 2008

Schubert - Über Musik und Empathie

Schubert – über Musik und Empathie

Abscheulicher! Wo eilst du hin?
Was hast du vor in wildem Grimme?
Des Mitleids Ruf, der Menschheit Stimme,
Rührt nichts mehr deinen Tigersinn?
(Leonoreim1.Aufzug von Beethovens Fidelio)

Beziehungsfähigkeit - Empathie
Eine derjenigen Fähigkeiten, worin sich die Menschheit definitiv vom Tier unterscheidet, ist Beziehungsfähigkeit. Durch sie vermag der Mensch das zu empfinden, was im oben angeführten Zitat aus Beethovens einziger Oper Fidelio (1805)
eindrucksvoll „Stimme der Menschheit“ genannt wird: Mitleid. Gemeint ist hier nicht etwa Bedauern, auch nicht die göttliche Tugend, das Erbarmen. Die Meisten fühlen sich als Empfänger derartiger Empfindungen heutzutage in ihrer Würde herabgesetzt. Gemeint ist im Zitat die ursprüngliche Bedeutung von Mitleid: nämlich das Vermögen, sich in einen Anderen hineinzufühlen, sich vorstellen zu können, wie „es“ für ihn sein mag und entsprechend ethisch zu handeln. Wegen der Bedeutungsverschiebung des Begriffes Mitleid wird hier „Empathie“ bevorzugt. Sie ist freilich von Individuum zu Individuum jeweils in unterschiedlichem Maße vorhanden. Man kann sie üben, jedoch nicht unbegrenzt vermehren und schon gar nicht erzwingen. Aber sie ist definitiv eine Quelle ethischer Prinzipien und Forderungen. Bei Tieren steuern Instinkt und Trieb das Zusammenleben in Rudel oder Herde. Für die Organisation menschlichen Zusammenlebens, der Gesellschaft also, braucht es ethische Prinzipien und ethisches Handeln. So kam es über einen langwierigen Entwicklungsprozess, geprägt durch den Monotheismus des Judentums, das Christentum, den Humanismus und die Aufklärung zur Vision unserer modernen, freiheitlichen, demokratischen, dem Individuum gemäßen Gesellschaftsordnung, welche sich den Menschenrechten verpflichtet fühlt.
Dazu gehört dann aber noch ein Weiteres. Es ist das, zu dem jeder Mensch einen natürlichen Drang verspürt: Freiheit.
Am Ende des ersten Fidelioaktes erklingt der Gefangenenchor, wenn die Gefangenen einmal auf Drängen Leonorens und auf Geheiß Roccos aus ihrem Kerker heraus an das Tageslicht und die freie Luft gehen dürfen. Hier wird die Freiheit als unentbehrliches Gut der menschlichen Existenz und somit der Gesellschaft metaphorisch beschworen:
„O welche Lust, in freier Luft
Den Atem leicht zu heben!
Nur hier, nur hier ist Leben,
Der Kerker eine Gruft.“.
Mit der Französischen Revolution hatte man den „Kerker“ – die Alte Gesellschaft zu zerstören versucht. Man wollte die neue Gesellschaft aufbauen, was ja bekanntlich fehlschlug. Aber die freiheitlichen Ideen lebten weiter und wirkten. Beethovens „Fidelio“ belegt dies und stellt ein beständiges politisches Postulat dar. Die bürgerliche Gesellschaft ließ sich auch nicht durch reaktionäre Feldzüge aufhalten. Mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 wurde die Restauration in Gang gesetzt. Man versuchte letzten Endes vergeblich, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Künstler und Denker litten unsäglich unter dem Terror von Zensur, Verfolgung und Inhaftierung.
Beethoven, von kämpferischer, selbstbewusster Natur, war als prominenter Künstler weniger gefährdet. Gleichwohl blieb seine Symphonie Nr.3 Es-Dur, die Eroica, in Prag noch bis 1848 mit Aufführungsverbot belegt. Franz Schubert jedoch geriet ins Visier der Metternichschergen, weil einige seiner Schriftstellerfreunde sowie deren Texte als Bedrohung des Staates angesehen wurden.
Seine Freunde beschrieben Schubert als umgänglichen Menschen, der aber auch sehr heftig und unhöflich werden konnte, wenn ihm etwas nicht behagte oder aufstieß. Schubert fühlte sich dem Wahrhaftigen verpflichtet. Ein Indiz dafür liefert das Credo in seiner ersten Messe aus G-Dur (1814). An der Stelle „ich glaube an den Heiligen Geist“ unterließ Schubert den Passus „die Heilige, Katholische Kirche“. Sie war in den Augen der Fortschrittlichen mit dem alten Regime, welches es zu beseitigen galt, zu eng verflochten. Darum nahm sich der gläubige Schubert „die Freiheit“ und ließ diesen Passus weg. Für uns erscheint so etwas heutzutage selbstverständlich, weil unsere Gesellschaft so freizügig geworden ist, zu Schuberts Zeiten bedeutete es nahezu eine Heldentat.

Form - Freiehit - Empathie

Die freie Gesellschaft, wie wir sie kennen, nahm ihren Anfang zur Zeit Schuberts. Alte Probleme wurden beseitigt, neue wurden geschaffen. Das Handeln nach eigenem Willen war ins Zentrum des modernen, bürgerlichen Freiheitsbegriffes gerückt. Weil aber der Wille vom Individuum nicht vollkommen kontrollierbar ist, erweist sich dieser Begriff als Phantasmagorie. Im fortgeschrittenen Stadium einer Kultur bzw. Gesellschaftsform, die auf einem Willenorientierten Freiheitsbegriff basiert, kreisen die Individuen um sich selber, gleichsam Satelliten im Gravitationsfeld ihres Willens. Das Ego wird zum Zentrum, Transzendenz oder Orientierung an etwas Übergeordnetem verliert kollektiv an Bedeutung, die Subjektivität expandiert enorm. Alsbald wird das subjektiv Wahrgenommene nicht mehr von der objektiven Realität unterschieden. Bei den Individuen einer solchen Kultur verringert sich die Individuation und damit auch empathisches Vermögen. Man verharrt in der eigenen, stets guten Absicht. Diese rechtfertigt das eigene Handeln und entbindet den Handelnden scheinbar von seiner Verantwortung für das tatsächliche Resultat der Handlungen. Ich habe es doch gut gemeint, ich wollte nur das Beste etc. , solche Entschuldigungen sind uns ja allen bekannt.
In den Schönen Künsten ergeben sich selbstverständlich Probleme, wenn empathische Fähigkeiten sich reduzieren und die Absicht in den Vordergrund rückt. Das Verhältnis-Dreieck Künstler – Kunstwerk – Publikum, welches im Idealfall gleichschenkelig wäre, erfährt eine gewaltige Deformation. Der Künstler und sein Kunstwerk liegen nun ganz eng beieinander, das Publikum ist weit entfernt. Man kann sich ein Dreieck mit extrem langer Grundlinie vorstellen, wobei der linke Schenkel winzig, der rechte sehr gedehnt und die Höhe minimal erscheinen. Im Falle von Musik ergeben sich nun gravierende Probleme. Ein Bild oder ein Text verweilen real körperlich fassbar, solange der Blick des Betrachters auf ihnen ruht. Musik ist unmittelbar an den Zeitablauf gebunden, kaum ist etwas erklungen, gehört es bereits der Vergangenheit an, während im nächsten Augenblick schon wieder Neues erklingt, weil das Stück ja weitergeht. Musik ist nur über Erinnerung erfassbar (es sei denn, man hätte den Notentext direkt vor sich).
Der Inhalt von Musik ist daher nur über Festlegung, über Bindung zu vermitteln oder zu begreifen. Solch eine Bindung kann Verschiedenes sein: ein gesellschaftliches Ritual (geistlich oder Weltlich), ein Text, aber auch Bewegung als Ausdruck bzw. Charakterisierung, man denke an Gesellschaftstanz oder Ballett. Bei Absoluter Musik (bei Sonate oder Symphonie etwa), die sich nicht auf Äußeres sondern auf sich selbst bezieht, wird Bindung durch Vorgabe beispielsweise einer allgemein verbindlichen Form sowie ästhetischer Prinzipien möglich. Die Intensität der Bindung an Form und Prinzipien lassen den Stand der Subjektivität einer Kultur erkennen. Daraus wiederum kann man Rückschlüsse darauf ziehen, wie frei die Individuen einer Gesellschaft waren oder sind.
Im Zeitalter des Absolutismus zum Beispiel befand sich der Herrscher einer bestimmten Region ganz im Zentrum allen gesellschaftlichen Geschehens, Alles bezog sich direkt oder indirekt auf ihn. In dieser Zeit stand die Fuge mit ihren strengen Prinzipien hoch im Kurs. In ihr bestand die Freiheit, der subjektive Anteil des Komponisten lediglich darin, das Fugenthema selber zu erfinden. Das Thema nannte man damals bezeichnenderweise „Subictum“. Zwar konnte der Fugenkomponist über Dramatik und Ausmaß seiner Fuge selbst bestimmen (Selbstbestimmung des Individuums), doch darüber hinaus hatte er sich strikt den strengen Satzprinzipien der Gattung Fuge zu unterwerfen (Staatsräson des Absolutismus) . Alles in der Fuge richtete sich strikt nach dem „subiektun“ (Ausrichtung auf den Herrscher).. Dieses zitierte der Komponist immer wieder unverwandelt in einer der Stimmen. Es durfte höchstens gemäß mathematischer Prinzipien unterschiedlich erscheinen: auf dem Kopf stehend (mit Minus multipliziert), rückwärts verlaufend (an einer Symmetrieachse gespiegelt), in halbierten oder doppelten Notenwerten gesetzt (dividiert bzw. multipliziert). Unterwerfung des Subjektiven unter festgelegte Prinzipien und nicht freie Gedankenarbeit charakterisieren die Gattung der Fuge.
Als dann die fortschrittlichen, bürgerlichen Kräfte wirksam wurden und die Aufklärung mit ihren liberalen Ideen vorangeschritten war, entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 18Jahrhunderts die Sonatenform. Sie ermöglichte eine freie Gedankenarbeit des Komponisten, weil dieser nun nicht mehr durch eine Fülle strenger Satzprinzipien eingeschnürt war. Die Bindung an das allgemein bekannte Schema der Sonatenform erlaubte es den Hörern, die Gedankenarbeit zu verfolgen, was sie zum Verstehen eines neuen Werkes befähigte. Der Komponist versetzte sich in sein Publikum, indem er die Form einhielt, das Publikum konnte sich dadurch am Geschehen der Gedankenarbeit beteiligen - der empathische Zustand einer Gesellschaft, deren Hauptmerkmal noch nicht Entfremdung gewesen ist. Je freier und selbstbestimmter die Individuen einer Gesellschaft sind, umso notwendiger ist Empathie.
Beethoven war unzweifelhaft der Komponist, welcher, verglichen mit allen seinen Kollegen vor ihm, am individuellsten schuf. Er wollte natürlich verstanden werden. Um die Bedeutung der Form für ein Verständnis wissend gab er sie nicht auf. In seinem musikgeschichtlichen Verantwortungsbewusstsein, stets auf Weiterentwicklung bedacht, versuchte er daher, sie immer wieder nur zu individualisieren statt sie aufzugeben. Weil die Gesellschaft im Verlauf des 19.Jahrhunderts für die Bürger im Sinne von Willensvollstreckung immer freier wurde, gerieten überlieferte Form und Individualität nahezu in antagonistische Widersprüche.
Die Oper hatte es leichter. In ihr war Gedankenarbeit (noch) nicht relevant (Wagner hatte die „Bühne noch nicht betreten). Ihr lagen Texte zugrunde und man sah eine Handlung auf der Bühne, die, in Zeiten vor dem Regietheater, noch kongruent mit der Musik war.
Im Prozess der Individualisierung unserer Kultur hatte die Oper gelernt, wirkliche Individuen musikalisch zu beschreiben.
Ein Opernkomponist ist empathisch mehrfach gefordert. Er muss sich vorstellen können, wie seine fiktiven Protagonisten sich in bestimmten Situationen verhalten oder fühlen. Doch mehr noch: er muss sich auch in sein Publikum hineinversetzen. Zum einen muss er sich vorstellen, mit welchen kompositorischen Mitteln er die handelnden Figuren deutlich „zeichnen“ kann. Zum anderen muss er wissen, wie er die Empfindungen des Publikums für oder gegen die Protagonisten mobilisieren kann. Es geht schließlich darum, die Dramaturgie von der Bühne in den Zuschauerraum zu übertragen. Unabhängig von Kulturkreis oder geschichtlicher Epoche kann Kunst nur entstehen bzw. verstanden werden, wenn Menschen empathische Fähigkeiten besitzen. Kunst überlebt nur, wenn sich das Publikum berühren lassen kann.
Hat eine Kultur oder Gesellschaft ihre empathischen Fähigkeiten erst einmal eingebüßt, so haben es die Künste besonders schwer, weil sie vom zeitgenössischen Publikum nicht mehr verstanden werden. Das ist die Situation heutzutage.
Zu Beethovens und Schuberts Zeiten hatten die Probleme erst langsam ihren Anfang genommen.

Dieschubert-idiomatische Ausdrucksweise

Manche fragen sich, warum Beethoven nur eine Oper komponiert hat. Er war zwar ein dramatischer Komponist, aber bei ihm stand die freie Gedankenarbeit im Vordergrund und nicht die Verarbeitung von Texten. Daher stellte die Absolute Musik den Schwerpunkt seines Schaffens dar. Bei Mozart, ja selbst bei Haydn mit seinem gewaltigen Schaffen an Symphonien, Sonaten und Streichquartetten, verhielt sich das noch anders. Die internationale Bedeutung von Symphonie, Sonate und Streichquartett konnte erst in der bürgerlichen Gesellschaft entstehen, weil sich in ihr die Musik vom Gebrauchsgegenstand zum Anbetungsobjekt einer Elite gewandelt hatte.
Mit der Oper verhielt es sich zunächst noch anders. Sie war niederen wie höheren Gesellschaftsschichten gleichermaßen zugänglich. Dies lag einmal an der leichteren Verständlichkeit durch die Verflechtung von Text, Musik und szenischem Geschehen. Zum anderen musste sie eine „Massenveranstaltung“ sein, weil nur maximale Publikumszahlen den finanziellen Aufwand von Aufführungen annähernd abdecken konnten.
Zu Beginn des 19.Jahrhunderts war die Oper noch eine italienische Domäne gewesen. Jedoch in den neuen Produktionsverhältnissen begann sich die Idee des Nationalstaates durchzusetzen und mit ihr entstanden in den Künsten die verschiedenen Nationalstile. Man besann sich auf die eigenen volkstümlichen Traditionen. Volksmusik war nunmehr eine wesentliche Inspirationsquelle und so pries man denn auch zunächst noch das Einfache und Schlichte. Außerdem ging man dazu über, Opern in der eigenen Landessprache zu vertonen. Das Singspiel in deutscher Sprache, welches zögerlich im 18.Jahrhundert zu existieren begonnen hatte, war jetzt äußerst gefragt, vor allem in Wien. Carl Maria von Webers romantische Oper „Der Freischütz“ (von 1822) stellt dann ein bedeutendes Beispiel für den Anfang der „Deutschen Oper“ dar. Sie wies ganz eigene Züge auf. Dies lag nicht zuletzt am symphonischen „Know How“ , welches Weber zur Beschreibung von Stimmungsbildern in den verschiedenen Szenen einsetzte. In Italien, dem Mutterland der Oper beherrschte ein Komponist die Szene, dessen Name alsbald in ganz Europa in aller Munde war: Gioacchino Rossini. Er machte die Zuhörer geradezu süchtig auf seine feurige Musik – und auch die Komponisten außerhalb des Operngenres gerieten unter Rossinis Einfluss. Der Finalsatz von Schuberts dritter Symphonie in D-Dur beweist dies mit seinem Tarantellacharakter.
Schubert wollte als freischaffender Komponist leben. In einer Zeit, da sich die Bedeutung der Absoluten Musik erst allmählich als international relevant zu entwickeln begann, konnte man am besten als Opernkomponist zu Weltruhm gelangen und damit von seiner Kunst leben.
Antonio Salieri empfahl seinem Schüler Franz Schubert daher, Opern zu komponieren – in italienischer Sprache versteht sich. Doch der Schüler folgte seinem so sehr geschätzten Lehrer nicht. Er versuchte es zunächst mit Singspielen: 1815 entstanden „Fernando“ und „Claudine Bella Villa“. Letzterem lag ein Goethetext zugrunde. Bereits in der Ouvertüre dieses Werkes werden wir Zeugen für den großen Einfluss Beethovens auf Schubert. Doch vor allem das Eigene, ganz Andere überstrahlt den Einfluss. Es ist der romantische Duktus, es ist die spezielle Instrumentierung (die keinesfalls nur der geringen Orchester-Erfahrung entspringt sondern kompositorischer Absicht), und es ist vor allem die ausdrucksvolle, ungewöhnliche Harmonik, die so früh bereits auf Bruckner hinweist. Im weiteren Verlauf finden sich selbstverständlich auch konventionelle Elemente, wie man sie in den Singspielen der Wiener Kollegen findet. Der ausnehmend geschickte kompositorische Umgang mit der menschlichen Stimme ist hier, wie auch bei seinen noch früheren Werken, ebenso auffällig wie beeindruckend. Dennoch blieben die Singspiele und Opern Schuberts vergleichsweise erfolglos. Bis heute konnten sie keinen festen Platz im gängigen Opernrepertoire erringen, obwohl hervorragende Dirigenten wie etwa Nicolaus Harnoncourt sich durch exquisite Aufführungen immer wieder darum bemüht haben. Es sind nun nicht etwa kompositorische Mängel der Grund dafür. Es ist vielmehr die Schubert-idiomatische Ausdrucks- und Artikulationsweise. Sie konnte sich nur wenig in großflächigen dramatischen Opern mit aufwendigen Arien manifestieren. Das Kunstlied mit Klavierbegleitung, komprimiert, konzentriert und zeiträumlich begrenzt bot die idealen Voraussetzungen. 1815, im Entstehungsjahr der beiden oben genannten Singspiele, komponierte Schubert weit über 100 Lieder. Damals konnte man sich mit einem qualitätsvollen Liedschaffen aber noch keinen internationalen Namen machen. Die Konzertpodien waren von Solovirtuosen oder Orchestern beherrscht. Das Lied und das Streichquartett hatte fast ausnahmslos in den Salons seinen Platz. Erst seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts wurden dann auch Liederabende im Konzertsaal Usus.

Schubert hat das Lied aus der haus- und gebrauchsmusikalischen Enge des 18.Jahrhunderts befreit und zu einer relevanten, modernen, zeitübergreifenden Kunstgattung erhoben. Die Melodie trägt hier nicht mehr den Text bloß durch Zeichnung einer Grundstimmung sondern deutet ihn detailliert aus. Die konsequente musikalische Textausdeutung war im späten 16.Jahrhundert von der Florentiner Camarata gefordert worden und führte zur Entstehung von Oper und Oratorium, zu Arie und Rezitativ. Im Lied geschah dies erst bei Schubert. Der Klavierpart seiner Lieder ist weit mehr als nur Begleitung. Er ist gleichberechtigter Partner der Singstimme, welcher den Text seinerseits paritätisch ausdeutet. Für tonmalerische Effekte wie in der Programmmusik besteht hierbei nur wenig Raum. Die oftmals tiefenpsychologische Textausdeutung der Klavierparts bewerkstelligt Schubert mittels Gedankenarbeit wie in der Absoluten Musik. Diese wiederum erfuhr ihrerseits in der reifen Schaffensphase Schuberts eine Durchdringung durch das Liedhafte. Am klarsten hören wir dies im den Impromptus und Moments Musicaux, sie führen direkt zu Mendelson Bartholdys „Lieder ohne Worte“.
In den großen Gattungen - Sonate, Symphonie und Streichquartett – entschärfte sich der Widerspruch zwischen überkommener Form und ausgeprägter Individualität durch liedhafte Behandlung. Sie macht die subjektive und individualistische Formhandhabung sowie die Gedankenarbeit durchschaubarer und fasslicher als zum Beispiel bei den letzten Beethoven Klaviersonaten oder Streichquartetten.
Die Oper als Raum dramatischen Handelns ist weniger empathisch als das Lied. Die Oper funktioniert ihrem Wesen nach nur dann, wenn es ihr gelingt, das Publikum unmittelbar in die Dramatik einzubeziehen. Das geht freilich nur dadurch, dass seine Emotionen manipuliert werden - für oder gegen die verschiedenen Protagonisten. Dies bedeutet nichts anderes, als dass die Hörer durch den Willen eines Komponisten gegängelt werden müssen.
Das Lied ist der Raum des Erzählens. Es wird vorgetragen, nicht agiert. Insofern lässt es dem Zuhörer viel mehr Freiraum für Assoziationen. Es steht daher der Absoluten Musik näher, deren weitgehend abstraktes Wesen den allergrößten Freiraum für Gedanken- oder Gefühlsassoziationen gewährt.
Die natürliche, wesensbedingte Zurückhaltung des Liedhaften zwingt dem Hörer kein Gefühl auf. Dadurch ist ein wesentlicher Bestandteil von Empathie vorhanden, wie er bei Analytikern oder Therapeuten unentbehrlich ist: sich in einen Menschen hineinzuversetzen, ohne dessen Empfindung in sich selber hochkommen zu lassen. Dies gilt freilich für alle Menschen, denn nur dann kann ethisches Handeln als Konsequenz erfolgen, und Blockaden, Abwehr oder gar Sentimentalität verhindert werden.

Empathie kann und soll nicht erzwungen werden. Man kann sie nicht unbegrenzt vermehren, aber man kann und muss sich in ihr üben.
Der Trend unserer Kultur und Gesellschaftsform, worin sich Beziehungsfähigkeit und empathisches Vermögen mehr und mehr reduzieren, lässt sich nicht gewaltsam aufhalten oder gar umkehren.
Aber die Schönen Künste sind Anschauungs- und Lehrmaterial, weil sie nicht isolierte Phänomene sondern Resultat mannigfaltiger Beziehungen sind; Beziehungen zwischen Menschen, zwischen Individuum und Gesellschaft, vor allem zwischen Mensch und Gott. Wenn wir Kunst nur als Konsumartikel, Wellnessfaktor oder Statussymbol behandeln, zeigt dies, wie egozentrisch unsere Kultur bereits geworden ist. Gleichwohl beschreibt diese Aussage ein Paradoxon, weil Egozentrik und Kultur sich ausschließen.
Schuberts Werk bietet uns immer wieder Möglichkeit, besonders über Empathie als Elementarteil von Beziehungsfähigkeit nachzudenken, vielleicht sogar, uns zu verändern.

Sonntag, 1. Juni 2008

MUSIK MARKT MEDIEN MACHT Mittelmaß?

MUSIK MARKT MEDIEN MACHT MITTELMAß?

Kunst zwischen Willen, Wollen, Sollen und Müssen

Geschmack und Urteil

Musik wirkt unmittelbar auf das Unbewusste, welches einer Kontrolle durch den Willen bekanntlich entzogen ist. Darin liegt ein Teil ihrer Macht.
Die Summe all dessen, was einem Rezepienten an Musik gefällt, was ihn anspricht, womit er sich zu identifizieren vermag, macht seinen „Geschmack“ aus. Bekanntlich gibt es guten und schlechten Geschmack, doch woran ist dieser festzumachen? Eine berechtigte, gleichwohl schwierige Frage, zumal in einem Stadium der Gesellschaft, worin stets das Persönliche und Subjektive den Ausschlag gibt! Wenn Musik auf Persönlichkeitsteile wirkt, die nicht vom Willen kontrollierbar sind, kann man dann einen sogenannten schlechten Geschmack verbessern? Wenn ja, hat man das Recht dazu?

In einer individualistischen Gesellschaft scheint dies gar nicht sinnvoll zu sein, weil ein Jeder sein eigener Maßstab ist. Daraus ergibt sich eine weitere Frage: ist in einer subjektivistischen Gesellschaft Kultur nach den üblichen Definitionen überhaupt möglich?

Ganz klar: nein! Kultur ist keinesfalls die Koexistenz verschiedener Meinungen oder Ansichten. Kultur hat unabdingbar mit der Beziehungsfähigkeit des Kollektivs wie des Individuums zu etwas Übergeordnetem zu tun; aber auch mit der Beziehungsfähigkeit des Kollektivs zum Individuum und umgekehrt. Kultur existiert demnach jenseits von individuellem Geschmack, denn ihr Wesen besteht immer in der kollektiven und individuellen Akzeptanz eines übergeordneten Wertekodex. Für die Künste als Sinnesorgane der Kultur gilt natürlich das Gleiche.

Kultur und Künste sind ohne transzendentale Aspekte ebenso undenkbar, wie Wasser ohne Nässe. Nehmen wir zum Beispiel ein Orchester. Ohne die Bereitschaft seiner Spieler zur Verschmelzung zum Gesamten des Werkes – dem übergeordneten Kontext – wäre keine Symphonie aufführbar. Vom Orchestermusiker wird verlangt, seinen persönlichen Geschmack hinten anzustellen und sich in die Gemeinschaft, sein
Ensemble, einzufügen.
Für die Rezepienten besteht eine solche Verpflichtung nicht, sie können bedenkenlos ihrem persönlichen Geschmack frönen. Einen sogenannten schlechten Geschmack soll man nicht verurteilen, damit hilft man niemandem. Die Herausforderung besteht zunächst darin, Menschen darauf aufmerksam zu machen, wenn sie ihren Geschmack mit objektiver Bewertung gleichsetzen. Wenn etwas gefällt, muss es nicht notwendigerweise gut sein, oder wenn etwas nicht gefällt, muss es nicht schlecht sein. Individuation und Relativierung sind gefragt. „Gefällt mir“ oder „missfällt mir“ ist Geschmack, „ist gut“ oder „ist schlecht“ bedeutet Urteil. Um urteilen zu können bedarf es der Kenntnis und der Erfahrung. Diese wiederum bezieht man aus einem übergeordneten Wertekodex. Er verändert sich freilich im Laufe der Geschichte, was vor allem in Phasen eines Umbruchs die Urteilsfähigkeit erschwert.

Als Wolfgang Amadeus Mozart 1777 in Mannheim weilte, hatte sein Vater die Befürchtung, der Sohn könne sich den schlechten Geschmack der Mannheimer Komponisten angewöhnen. Den Hörern unserer Tage bereitet es beträchtliche Schwierigkeiten, den angeblich schlechten Einfluss der Mannheimer auf Mozarts Werke jener Phase herauszuhören. Bis kurz vor dem 19. Jahrhundert gab es noch keine Individualstile mit persönlichem Profil. Es existierte immer ein allgemeiner Stil in jeweils regional unterschiedlichen Varianten. Johann Sebastian Bach allerdings wandte sich mit zunehmender Reife immer mehr vom Mainstream seiner Zeit zugunsten konsequenter Kompositionsideale ab. In deren Fokus stand Reduktion auf das Wesentliche sowie die Durchdringung seiner weltlichen Werke mit seiner Religiosität.

Durch fortgesetzte Übung gelangen wir jedoch zu Kenntnis und Erfahrung, und vermögen so, tatsächlich auch bei Bachs Zeitgenossen feine Unterschiede wahrzunehmen.
Das Bewusstsein für den Unterschied von Geschmack und Urteil kann in einem Jeden geweckt bzw. erworben werden.

Identifikation

Hauptursache für eine fehlende Unterscheidungsfähigkeit zwischen Geschmack und Urteil stellt die negative oder positive Identifikation dar. Sie findet beim Rezepienten automatisch, zumeist unbewusst statt.

Identifikation ist mit gesundem Narzissmus verbunden. Dies bedeutet, dass wir uns durch etwas Äußeres auf- oder abgewertet fühlen können. Je ungesunder der Narzissmus beim Individuum beschaffen ist, desto größer wird dessen Abhängigkeit von äußeren Identifikationsobjekten. Beim Virtuosenkult ist dies ebenso wirksam wie beim Kult der Operndiven. Die Qualität von Interpretationen oder Werken selbst tritt dabei in den Hintergrund. Künstler sind Projektionsflächen. Bewunderung kann in diesem Zusammenhang Ausdruck eines neidlosen oder neidunbewussten Bedürfnisses sein, die gleiche Begabung wie das Identifikationsobjekt zu besitzen und im selben Glanz zu erscheinen. Sie kann aber auch vom Wissen um die Kluft zwischen Bewunderer und Bewundertem herrühren. Nur weil Einer etwas kann, wozu die Meisten nicht fähig sind, wird er bewundert.

Aber auch Sound vermag narzisstisch zu stimulieren; der in der Fürstenverehrung wurzelnde barocke Pauken und Trompeten Sound genauso wie das imposante, berauschende Klangdesign Richard Wagners.

Dann gibt es aber noch ein weiteres Identifikationselement. Es wurzelt nicht im Narzissmus, es ist die Empathie – das Mitgefühl also. Denken wir an den Anfang von Giuseppe Verdis „La Traviata“ und den dritten Akt, wo gehauchte Streicherklänge und sensibel entworfene Harmonien die Dahinschwindende so ergreifend beschreiben, dass unser Mitgefühl ungehindert mobilisiert wird.

Die hemmende Wirkung des Identifikationsfaktors auf die Unterscheidung zwischen Geschmack und Urteil lässt sich natürlich ganz gut ausnützen, wie man bald sehen wird.

Machtwechsel

Solange die Adelsgesellschaft bestanden hatte, herrschte im allgemeinen der Geschmack des Herrschers in seinem Territorium. Nicht nur „Cuius regio eius religio“ (wes Reich, des Religion) galt, sondern auch cuius regio eius gusto“ (wes Reich, des Geschmack). Der Sonnenkönig LudwigXIV ist hierfür wohl das prominenteste Beispiel, aber auch Friedrich II von Preußen oder ein Fürst von Sachsen Anhalt et cetera. Unfreiwillig war den Komponisten und Rezepienten der Herrschergusto als „Wertekodex“ übergestülpt, nach dem sie sich alle richten mussten. Solange der Absolutismus fest im Sattel saß,, akzeptierten dies die Meisten, wohl oft genug mit Zähneknirschen. Von der Oper „Unter den Linden“ zu Berlin, der Oper des Preußenkönigs Friedrich II, ist uns eine rasante Sängerfluktuation überliefert. Darin zeichnete sich bereits eine Wende im Denken der Untertanen ab. Sie wollten sich nicht andauernd vom Herrscher in „ihre“ Angelegenheiten hineinreden lassen.

Die fortschrittlichen bürgerlichen Vorstellungen führten zu revolutionären Umwälzungen.Nach Überwindung der Adelsgesellschaft schienen paradiesische Bedingungen für die Schönen Künste geschaffen.
Nicht mehr Gott oder der feudale Herrscher sondern sie selbst standen jetzt auf einem hohen Podest. Durch ihren Funktionsverlust sakraler oder staatlicher Repräsentation waren sie zu eigenständigen Valeurs erhoben. Dadurch kam es aber allmählich zu einer immer größer werdenden Kluft zwischen ihnen und ihrem Publikum, eine kulturelle Entfremdung nahm ihren Lauf. Sie spiegelt die Entfremdung in den Produktionsverhältnissen auf der künstlerischen ebene wieder.

Die Künstler orientierten sich nun an den Idealen der neuen Gesellschaft: persönliche Freiheit, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Möglichkeit persönlicher Willensvollstreckung. Beethovens Eintrag in eines seiner Konversationshefte, mit deren Hilfe der Gehörlose zu kommunizieren pflegte, brachte dies mit folgenden Worten auf den Punkt: „Wahre Kunst ist eigensinnig“.

Anstelle einheitlicher Stile in nur geringfügig unterschiedlichen Varianten, entstanden jetzt markante Individualstile als musikalische Persönlichkeitsprofile. Eine allgemein verbindliche Ästhetik, an welcher sich auch feudale Herrscher geschmacklich orientiert hatten, begann sich nun rasch aufzulösen.

Nun kam es zu völlig neuen Problemen, welche die künstlerischen Freiheiten kräftig beschnitten.

In den neuen Produktionsverhältnissen gerieten die Schönen Künste in jenen Zwiespalt, der für die bürgerliche Gesellschaft als emblematisch zu bezeichnen ist: die Kluft zwischen Sein und Schein. Dem Anspruch auf höchste Qualität, Individualität und Innovation eines neuen Werkes stand nun der Markt mit unerbittlichen Gesetzen gegenüber. Bürgerliche Ideale stellten den Wertekodex der Komponisten und Interpreten dar, preiswerte Produktion, Vermarktbarkeit und Profitorientierung waren „Wertekodex“ auf Seite der gesellschaftlichen Realität.

Ein Machtwechsel hatte in der Tat stattgefunden, aber ganz anders als ihn sich die fortschrittlichen Künstler erhofft hatten.
Sie wurden zwar nicht mehr von ergebenen, sturen Hofbeamten gegängelt und bevormundet, damit dem angeordneten Herrschergusto genüge getan wurde, jetzt waren sie in die Hände von Marktstrategen geraten.
Der Erfolg einer neuen Komposition hing ganz und gar vom Geschick der Marktstrategen ab. Ein guter Verkäufer muss freilich kein kenntnisreicher oder mit künstlerischen Talenten beschenkter Kunstexperte sein. Hier beginnt ein Dilemma. Schubert beispielsweise, als Mensch von zarter Natur, mit wenig geübten Ellenbogen, musste grauenvolle Demütigungen erdulden, ja sogar eigenmächtige, unglückliche Eingriffe in seine Werke erfahren. Verleger nahmen ohne Rücksprache eigenhändig Veränderungen vor. Sie strichen oftmals ganze Takte, und glätteten und „vereinfachten“ die Melodik und Harmonik, so dass sie dem Geschmack des mittelmäßigen Vertreibers entsprachen und absetzbar erschienen.

Die neuen Machthaber

Aber nicht nur Marktstrategen, welche erfolgreiche Künstlerkarrieren lancierten, waren neue Machthaber. Es waren vor allem die Kritiker, die einen ungeheuren Machtzuwachs verzeichneten.

Weil es keine allgemein gültige Ästhetik mehr gab, die Kompositionen und Interpretationen von jetzt an aber stets individuell, stets uniziös und stets innovativ waren, entzogen sie sich dem Beurteilungsvermögen ihrer Hörer weitgehend.
Sie bedurften einer Erläuterung und Beurteilung durch Sachkundige. Die Kritiker wandelten sich so von Berichterstattern zu subjektiven Beurteilenden. Als solche vermochten oder wollten sie es oftmals gar nicht, zwischen Geschmack und Urteil zu unterscheiden. Der Konflikt zwischen Urteil und geschmacklicher Identifikation reißt Kritiker auch heutzutage immer wieder dazu hin, künstlerische Leistungen unabhängig von realer Qualität folgenreich hochzujubeln bzw. zu vernichten. Ihre enorme Einflussnahme verdanken sie der flächendeckenden Publikationsmöglichkeit in Zeitungen, Fachzeitschriften, Funk oder Fernsehen. Es handelt sich um ein unfaires Machtsystem der unverhältnismäßigen Quantitäten. Das Vakuum des Beurteilungsvermögens Vieler wird von bewertender Ansicht Weniger ausgefüllt.

Seit dem 19. Jahrhundert trug die Presse immer wieder in hohem Maße zu Misserfolgen oder zum Scheitern von Karrieren bei. Die wohl bekannteste Oper überhaupt, George Bizets „Carmen“ wurde zerrissen, letzten Endes starb der Komponist am Gram über seinen Misserfolg. Ungerechte Parteinahme von Kritikern im Zuge der „symphonischen Erbfolge“ nach Ludwig van Beethoven trugen zu unglücklicher, schädlicher Polarisierung bei. Anton Bruckner wurde das Leben dadurch schwer gemacht. Und auch Johannes Brahms, obwohl er als Komponist arriviert war, musste sarkastische Tiraden über sich ergehen lassen.
Heute sind bekanntlich Beide als überragend und bedeutend angesehen.

Tonträger, Möglichkeiten, Markt und Terror

Als es dann die Tonträger möglich machten, Musik zu jeder Zeit in jedes Haus zu liefern, waren eigentlich ideale Voraussetzungen geschaffen worden. Bis dahin blieb Musik nach ihrem Verklingen immer nur Erinnerung, die alsbald verblasste. Jetzt konnte man sich ein Stück wieder und wieder anhören, es richtig kennenlernen und sogar verschiedene Interpretationen miteinander vergleichen. Alle Voraussetzungen zum Aufbau und zur Bildung eines differenzierten Beurteilungsvermögens waren nunmehr eigentlich vorhanden. Die kulturelle Entfremdung hätte gedämpft werden können. Vor allem Werke der Neuen Musik, die ein mehrmaliges Anhören erfordern, um verstanden zu werden, könnten hier profitieren. Die akustische Fixierung wurde aber nicht im Sinne eines Bildungsauftrages erfunden und entwickelt. Es ging vordergründig darum, ein einmal erzeugtes Produkt, wie die Aufführung einer Beethoven Symphonie, in hoher Auflage mit niedrigen Kosten zu vervielfältigen und maximal gewinnbringend zu vertreiben. Tonträger und Markt versäumten eine große Chance. Statt dessen offenbarten sie lediglich, das Musik in der bürgerlichen Gesellschaft zur Ware, zum Konsumartikel geworden ist.

Waren seit der Pflege musikgeschichtlicher Tradition (ab dem 19.Jahrhundert) die Komponisten unter zermalmendem Innovationsdruck gestanden, so gerieten nunmehr auch die Interpreten in die gleiche Zwangslage. Die neuartige Möglichkeit, relevante Interpretationsgeschichte überliefern zu können, wandelte sich alsbald zum Terror. Die Entfremdung zwischen Rezepienten und zeitgenössischer Musik wuchs trotz aller postmodernen, benevolenten Versuche der Schaffenden. Letzten Endes blieben es immer nur die gleichen, „bewährten“ , klassischen Standardwerke, welche vom Publikum gewünscht und somit von den Plattenfirmen produziert wurden bzw. immer noch werden. Die Anzahl an Interpreten wächst bei gleichbleibender Werkzahl stets an. Im selben Maße erhöht sich der Druck auf die Interpreten, sich von vorangegangenen Aufnahmen zu unterscheiden und etwas Neues zu bringen. Aber auch untereinander wächst der Konkurrenzkampf, Interpreten müssen sich zwangsläufig voneinander abgrenzen. Ende der Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts ist es auf dem Plattenmarkt bereits sehr eng geworden. Das stagnierende Repertoire von Barock, Klassik und Romantik war durch eine Vielzahl von Einspielungen hinreichend abgedeckt. Es galt, das Dilemma zu beenden. Woher konnte irgendeine Innovation innerhalb des Standardrepertoires bezogen werden? Die Idee, vorbürgerliche Musik auf jeweils zeitgenössischen Instrumenten, original oder kopiert, nach historisch korrekten Regeln auszuführen, eröffnete einen völlig neuen Markt. Man konnte Althergebrachtes nun abermals, im speziellen historischen Sound veräußern. Unentbehrliche, notwendige, bereichernde Erkenntnisse sind dadurch ins Bewusstsein und ins allgemeine Musikleben eingedrungen. Doch der Innovations-Terror erfasste alsbald auch den Originalklangmarkt und unterwarf ihn interpretatorischen Abgrenzungszwängen.

Mittelmaß

Heutzutage ist Alles buchstäblich auf den Kopf gestellt. Im gesamten Produktionsbereich ist nicht mehr das Werk als solches sondern die persönliche Idee transzendentaler Aspekt einer Interpretation.

Die Möglichkeiten oder Mittel interpretatorischer Abgrenzung reduzieren sich jedoch auf Tempowahl und Sound, denn die Noten bleiben ja immer die selben. Also fokussiert man diese Aspekte, die Tempi werden radikaler, der Sound, vor allem in schnellen Sätzen, soll dem Hörer etwas geben, was zuvor nur auf dem Fußballplatz existiert hat: Kick. Die Kunst einer Gesellschaft, die auf Veräußerung basiert, muss zwangsläufig äußerlich werden. Das Wesen von Kunst wird sekundär, die künstlerischen Leistungen erscheinen buchstäblich unwesentlich. Eine Interpretation verkommt in diesem Stadium zur reinen Logoreproduktion des Künstlers oder Ensembles. Mittelmaß wird Standard.
Dass die persönliche Idee und nicht mehr das Werk den transzendentalen Aspekt bedeutet, spiegelt den geistigen Zustand unserer Gesellschaft wieder, die ihrerseits transzendentaler Aspekte entbehrt. Diese Entbehrung wird vor allem seit den Achtundsechzigern als Liberalität erklärt. Diese Liberalität ist aber nichts anderes als die im Unreflektierten, Geschmacklichen wurzelnde willkürliche Koexistenz beliebiger Ansichten.

Die Kultur und ihre Sinnesorgane, die Künste, kollabieren dabei, man bleibt im Zeitgeist verhaftet, man verfertigt technisch perfekte, gleichwohl flache Reproduktionen von Überkommenem und erzeugt im Bereich der produzierenden Kunst zeitgeistige Eintagsfliegen, ohne Nachhaltige Wirkung. Dies betrifft Regietheater, Musik, Malerei genau so wie große Teile der Literatur.

Aussichten

Die Qualität der künstlerischen Produkte wird irrelevant, die Qualität der Vermarktung entscheidet darüber, was sich auf dem Markt zu behaupten versteht. Die Zeitepoche mit den faszinierendsten Möglichkeiten zur Realisierung eines Bildungsauftrags, zur Anhebung des Wissensstandes und zur Schulung eines differenzierten Urteilsvermögens versagt kläglich, weil die Gesellschaft auf Rentabilität und Profit erpicht ist.

Der Markt braucht die Medien um werben und absetzen zu können. Medien bedeuten Macht. Die „Machthaber“ nützen die narzisstischen und empathischen Identifikationsfaktoren der Musik bei den Konsumenten gezielt aus. Bewährte Strategien der Unterhaltungsmusik werden auf den „Klassikmarkt“ angewendet, Klassikinterpreten zu Popikonen aufgebaut, Bayern4-Klassik und Klassik-Radio sind abschreckende Beispiele hierfür, sie selber sind aber sogar noch stolz darauf.

Man kann und darf jedoch nichts von oben verordnen. Es handelt sich ja um gesellschaftliche Prozesse, die sich ereignen. Es sitzen nicht irgendwelche Bösewichter herum, die dies Alles beschließen. Aber es gibt Viele, die ihrer Verantwortung nicht gerecht werden.

Authentisch, genuin kulturelles Handeln ist untrennbar mit Bildungsauftrag verbunden. Es gibt Hoffnungsträger, beispielsweise der wundervolle Cellist Daniel Müller Schott. In der Sendung „Meine Musik“, in Bayern4-Klassik vom 24. Mai 2008, wies er im Zusammenhang mit der Innovation von Interpretationen sehr weise auf die Notwendigkeit hin, immer und immer wieder auf Quellen und Texte zurückzugehen, um die Absicht des Komponisten zu verstehen. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen, außer einem Hinweis für die Hörer: viele verschiedene Einspielungen anhören, Interpretationen vergleichen, sich akustischen Überblick verschaffen und wirklich zuhören, nicht zuletzt den Einspielungen dieses außergewöhnlichen Interpreten!
Geschmack und Urteil sind nicht das Gleiche, sie können sich aber durch Übung und Erfahrung einander annähern.

Rolf Basten

Samstag, 24. Mai 2008

Blog-Inhalt

Mai 2008:
1. Musik Markt Medien Macht Mittelmaß?
2. Musik Technik - zwei Welten im Gleichklang,
Veranstaltung vom 08.05. 08 in der TU-München
April 2008
3. Musik und Religion


März 2008:

4. Musik und Ideologie
5. Test für Eignungsprüfungen im Nebenfach TheorieGehörbildung
Februar 2008
6. Musik und Philosophie
Januar 2008
7. Über Kitsch
8. Die Fuge als Pendant zu Descartes Philosophie
November 2007

9. Bach - Mozart Cannabich über Gedankenarbeit in der Symphonie
Oktober 2007
10. Die Symphonik von Haydn und Mozart - über komplementäre Genialität
11. Die zwei kulturimmanenten Faktoren Europas
12. Kultur - Spiritualität - Transzendenz
13. Kulturimmanenz

Freitag, 9. Mai 2008

Musik - Technik - zwei Welten im Gleichklang

Musik Technik - zwei Welten im Gleichklang

Veranstaltung mit dem Münchner Kammerorchester im Audimax der TU München, am 08. 05. 2008

Wesenszusammenhang

In diesem Vortrag geht es weniger um die akustische Rezeption technischer Präsenz des Alltags im Bereich der Musik. Dazu begebe man sich getrost in eine Disco und gebe sich Technoklängen hin.

Hier geht es um den Wesenszusammenhang der Technik mit der Musik. Er erweist sich als viel aufschlussreicher und erstaunlicher. Aristoteles sagte, über Kunst kann man verstehen lernen, wie etwas ist.

Doch zu Beginn gleich eine gute Nachricht: in Wirklichkeit handelt es sich nur um eine Welt, die sich uns jeweils in solch komplexen Erscheinungsformen präsentiert, dass wir diese als unabhängig voneinander sehen. Gerade im Falle von Musik und Technik mag diese Sichtweise auf Verwunderung oder gar Widerstand stoßen, weil hier doch eigentlich fundamentale Gegensätze aufeinander zu treffen scheinen. Technik wird schließlich mit dem Rationalen, Realen, Sachlichen, Wissenschaftlichen, Musik hingegen mit dem Innigen, Gefühlsmäßigen und Leidenschaftlichen assoziiert. Eine weitere Polarität offenbart sich Vielen im Folgenden: die Technik, obwohl in den Naturwissenschaften wurzelnd, wird subjektiv als berechnender, berechneter und sogar vernichtender Widerpart der Natur wahrgenommen. Musik, wenngleich meist nur noch als Konsumartikel in unserer modernen Gesellschaft sozialisiert, wird als Kunst gesehen, die der Natur des Menschen gemäß ist. Technik und Musik repräsentieren für Viele nicht nur die Polarität, zwischen Rationalität und Emotionalität sondern auch zwischen künstlich und künstlerisch, „künstlich“ im Sinne von unnatürlich, leblos, und künstlerisch im Sinne von natürlich, lebendig und kreativ. Befänden wir uns jedoch in einer mittelalterlichen Universität, so hätten wir uns im Kern- bzw. Grundstudium zunächst den Septem Artes Liberales, den 7 freien Künsten zu widmen. Diese bestanden seit der Antike aus dem Trivium Grammatik, Dialektik, Rhetorik sowie aus dem Quadrivium Geometrie, Arithmetik, Astronomie und - man höre und staune – Musik! Noch Wilhelm Leibniz hat Ende des 17. Jahrhunderts gesagt, Musik ist die unbewusste Rechenübung der Seele. Hundert Jahre später verzeichnete Joseph Haydn triumphale Erfolge mit seinen Londoner Symphonien und erhielt von den zeitgenössischen Kritikern das Prädikat „größter Wissenschaftler unserer Zeit“. Ars und Scientia, Kunst und Wissenschaft also, waren im Mittelalter durchaus noch identisch. Im Humanismus (16. Jahrhundert) begann dann allmählich die begriffliche Unterscheidung, aber erst im 19. Jahrhundert wurde Ars dann dem Empfindsamen, Scientia dem Rationalen zugeordnet. Sie gerieten zu Gegensätzen, denn Ratio und Empfindung hatten sich kulturell voneinander entkoppelt.

Europäische Kulturdynamik

Für die Polarisierung von Rationalem und Empfindsamem ist die Europäische Kulturdynamik verantwortlich. Diese Dynamik zeichnet sich durch ein atemberaubendes Energieniveau und eine ungeheure Rasanz aus. Sie verlieh auch der Nordamerikanischen Kultur ihre Wesenszüge und erfasste (vor allem seit dem 19. Jahrhundert) auch die außereuropäischen Kulturen, zog diese in ihren „Spin“ und trug nicht zuletzt zum rapiden Globalisierungsprozess bei.

Der oben genannte „Spin“ bewirkt, dass Dinge, die zunächst mit einander verbunden gewesen waren, sich trennen und verselbstständigen. In der Eigendynamik der verselbstständigten Teile wiederholt sich dieser Vorgang abermals aufs Neue. Man könnte gewissermaßen von hektischer Zellteilung sprechen, bei welcher jede neue Zelle ihre eigene, neue Erbinformation entfaltet und dem Produktionsprozess eine permanente Beschleunigung widerfährt. Gerade diesen werden Sie im Programm des heutigen Konzertes deutlich nachvollziehen können. Zwischen Gesualdos und Mozarts Werken liegen gut 150 Jahre, zwischen Mozart und Grieg noch gut 100 Jahre, ab Grieg und Schostakowitsch dann jeweils nur noch ca. 40 Jahre, zwischen Pärts Fratres und der Komposition von Athanasia Tzanou nur noch 20 Jahre. Die Abstände werden kürzer, die Veränderungen und Neuerungen nehmen gleichzeitig rapide zu.

Kulturdynamik ereignet sich aber nicht willkürlich oder beliebig, sie wird vielmehr durch etwas zielgerichtet gesteuert, das ihr immanent ist. Die Immanenz der westlichen Kultur nährt sich von zwei Quellen.

1. Die Betonung der rationalen, intellektuellen Wahrnehmung der Welt, beispielsweise Platons Ideenlehre, welche ideale mathematische Muster als Grundlage der Realität erkennt.

2. Das christliche Menschenbild: wonach das Individuum Ebenbild Gottes ist, jenseits von eigenem Verdienst, Klasse, Kaste oder Stand. Die ethisch hochstehendste Bewertung von Individualität aller Kulturen überhaupt.

Aus der ersten Quelle entsprang die Emanzipation des Rationalen und des Empfindens bis hin zur Gegensätzlichkeit. Der zzweiten Quelle entsprang die Individualisierung der Abendländischen Kultur. Im Humanismus, der erstmals den Menschen als Mittelpunkt aller Dinge ansah, ereignete sich die kulturelle „kopernikanische Wende“. Die Orientierung am Allgemeinen wich der Konzentration auf das Individuelle, das Persönliche. Zum Beispiel in der Forschung: hier forderte Francis Bacon Anfang des 17. Jahrhunderts die Abkehr von spekulativer Bestätigung des Allgemein Angenommenen oder Überlieferten. Statt dessen sollte die eigene Erfahrung der Ausgangspunkt wissenschaftlicher Untersuchungen sein. Die Geburtsstunde des Experiments!

Notwendigkeiten

Angehörige einer individualistischen Kultur sehen die Geschichte natürlich stets als Folge rein individueller, persönlicher Leistungen.

Wir dürfen jedoch nicht außer Acht lassen, dass Individuen Angehörige einer Kultur sind. Kultur ereignet sich als Wechselwirkung von Geist und Gesellschaft. Nichts passiert rein zufällig oder kausal, als automatische Reaktion auf etwas Vorangegangenes also. Alles ist konditional, gerade Gegensätze wie das Individuum und das Kollektiv, stehen in logischem Zusammenhang.

In dem Augenblick, wo der Mensch zu bewusstem Raum/Zeitempfinden fähig war, wo er bewusst Beziehung eingehen konnte, entstand Gesellschaft. Gesellschaft muss organisiert und versorgt werden, dazu bedarf es differenzierter Kommunikation und differenzierter Hilfsmittel. Vermittels beider konnte man Not wenden. Künste – aus differenzierter Kommunikation hervorgegangen – sowie Technik – aus differenzierter werdenden Hilfsmitteln erwachsen - sind gleichermaßen Notwendigkeiten. Die Phänomene von Technik und Kunst sind Spiegel der Nöte und Notwendigkeiten jeweils einer Welt in einem bestimmten Stadium. Darin besteht ihr kleinster gemeinsamer Nenner, beide haben dadurch einen inneren Wesenszusammenhang über die Ähnlichkeiten ihrer Erscheinungsformen hinaus.

Carlo Gesualdo (1566 – 1613)

2 Madrigale:

Io tacerò

Che fai meco

Gesualdos Weltliche Madrigale repräsentieren Kunstmusik, wie sie vor der kopernikanischen Wende beschaffen war. Diese hatte, wie schon gesagt, das Individuum ins Zentrum aller Dinge gerückt.

Dadurch wurde die eigene Erfahrung entscheidend statt der Akzeptanz von etwas Überkommenem. Die Abkehr von Spekulation oder Autoritätsgläubigkeit führte zur empirisch begründeten Wissenschaft. Damit war deren Dienstverhältnis in der Theologie beendet. Diese Befreiung und die zunehmende Individualisierung führte nun allmählich zur Aufspaltung der Wissenschaften in diverse Spezialgebiete. Parallel dazu löste sich Musik aus ihrem Dienstverhältnis geistlicher oder gesellschaftlicher Anlässe und besteht um ihrer selbst willen. Ca. 1500 entsteht etwas vollkommen Neues: Absolute Musik d. h. reine, auf die persönliche Empfindung bezogene Instrumentalmusik, über Fantasia, Fuge und Sonate wird die Symphonie 3 Jahrhunderte später ihr eindrucksvollster Vertreter werden. Auch im Inneren der Musik vollzog sich ein tiefgreifender Wandel: Musik wurde nicht mehr als eng verwobenes Geflecht vieler gleichberechtigter Stimmen komponiert – Polyphonie ist der Fachausdruck hierfür – in Musik einer individualistischen Kultur gewinnt eine einzelne Stimme die Oberhand, die Anderen ordnen sich unter und begleiten nur noch, Homophonie ist der Ausdruck dafür. Dieses neue Prinzip findet seine repräsentativste Manifestation ab 1600 in einer ganz neuen Gattung: in der Oper.

Doch zurück zu Gesualdo vor der kopernikanischen Wende. Die Kunstmusik ist hier noch ganz von der polyphonen, lyrischen Vertonung weltlicher Texte dem „Madrigal“ beherrscht. Gesualdo, Fürst zu Venoza, machte nicht nur als Mörder seiner Frau und seines Sohnes von sich Reden (er entging als Monade seines Fürstentums natürlich strafrechtlicher Verfolgung) sondern vor allem durch seine Madrigale, von denen nun zwei erklingen werden. Obgleich sie noch Vertreter der „alten“ Denkart sind, vernehmen wir in ihrer extremen Expressivität bereits deutlich einen Drang des Individuums nach seinem individuellen persönlichen Ausdruck.

Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791)

Divertimento F-Dur KV 138

3.Satz: Presto

Befreiung, Natürlichkeit, Motorik

Zwischen 1600 und 1750, in der Musik die Epoche des Barock genannt, leisteten Empirismus und Rationalismus große Beiträge für Philosophie Kunst und Wissenschaften. Francis Bacon als Begründer des Empirismus wurde schon zuvor erwähnt, aber auch René Descartes mit seiner neuen analytischen Denkmethode muss genannt werden. Sie bezog erstmals das Subjektive als philosophisch relevant ein. Und natürlich Galileo Galilei als „Vater des Experiments“ sowie seinen Leistungen in Mechanik und Astronomie dürfen nicht unerwähnt bleiben. Die wachsenden Erkenntnisse in der Mechanik schufen die Voraussetzungen für konzentrierte und organisierte Technologieentwicklung. La Metrys philosophisches Werk „L’homme machine“ – „Der Mensch ist eine Maschine“ zeugt davon, dass technische Vorstellungen begannen, die Kultur zu beeinflussen. Vieles war freilich noch spielerisch. Automaten wurden zum Amüsement gebaut. Vogelautomaten erfreuten sich großer Beliebtheit. Künstliche Bäume waren von künstlichen Vögeln bestückt, man zog den Automaten auf und die Tiere begannen mit Flügeln zu schlagen und zu singen, ruckartig und drollig. Es kam hier zu ersten Wechselwirkungen zwischen Maschine und Komposition, indem Stücke entstanden, welche diese Automaten ironisch persiflierten. Solche sind in der Instrumentensammlung des Deutschen Museums zu sehen und zu hören.
Die zweite Hälfte des 18.Jahrhunderts wurde von dramatischen und bedeutenden Veränderungen geprägt: das Bürgertum war nun ökonomisch dominierende und kulturtragende Kraft. Das Barock war damit beendet und wandte sich in die Klassische Periode. Im Bereich der instrumentalen Unterhaltungsmusik wurde die Suite vom Divertimento verdrängt. Es wurzelte nicht – wie diese - im höfischen Ritual und riss alle Stände mit seinem bürgerlich volkstümlichen, natürlichen, dynamischen Timbre mit. Die Aufklärungsphilosophie als Anwalt des Rationalen und Rousseaus Ideen als Anwalt des Empfindsamen gerieten in Feindschaft und stellten das auffällige Symptom kultureller Polarisierung von Rationalem und Emotionalem dar. Christliches Menschenbild, Ideen des Humanismus, Aufklärungsvorstellung und Rousseaus Soziologie fusionierten zu jener Ethik, aus welcher sich der bürgerlich demokratische Gesellschaftsentwurf und die Grundlage der vor 60 Jahren weltweit verbindlich festgeschriebenen Menschenrechte entwickelte. Die Manufakturproduktion war viel zu unbeholfen, unkoordiniert, zu ineffektiv und zu langsam geworden. Innovation war Notwendig, die Dampfmaschine wurde erfunden. Dies ist der Beginn eines ganz neuen Zeitalters, man konnte geradezu in die Luft gehen – man tat es auch: zumindest die Gebrüder Mongolf mit Ihren ersten Ballonfahrtversuchen.

Fortschritt besteht grundsätzlich darin, dass etwas nicht komplizierter nur komplexer wird. Vereinfachung im Sinne von Konzentration auf Wesentliches bringt uns weiter, sowohl in Technik als auch in Musik.

Im letzten Satz des Mozart-Divertimentos hören wir dies sehr deutlich. Statt des komplizierten Stimmengeflechts der Polyphonie vernehmen wir jetzt Befreiung, durch die es erst zur Entwicklung von Melodik kommen konnte. Vor allem stellen wir, dass Vereinfachung und Natürlichkeit keineswegs auf Kosten von Perfektion gehen müssen. Zeit spielte seit dem Hochbarock bei der Organisation von Gesellschaft, somit auch von Kunst, eine immer bedeutendere Rolle. Beim Madrigal ergab sich der Rhythmus noch ganz einfach aus den Wortsilben des Textes, nun aber sind Impuls und vor allem Schnelligkeit zu eigenständigen Ausdrucksfaktoren geworden. Der musikalische Fachausdruck dafür – passend zur Maschine: Motorik!

Edward Grieg (1843–1907)

Aus Holbergs Zeit op. 40

Suite im alten Stil

für Streichorchester

1.Satz: Präludium

4.Satz: Air

Perfektion, Präzision, Professionalität

Das 19. Jahrhundert versuchte, den aufklärerischen Gesellschaftsentwurf zu realisieren. Darin wurden Maschinen erstmals zum eigenständigen ethischen Wert erklärt, weil sie den Menschen entlasteten und deren Existenz würdevoller gestalten konnten. Die Künste wurden nicht mehr als Kunsthandwerk sondern als eigenständige Werte angesehen. Zwar war die Französische Revolution gescheitert, aber die industrielle Revolution siegte. So wurde Technik zu Motoren der Produktion und der Kultur. Konkurrenzkampf und wirtschaftliche Expansion schufen neue Notwendigkeiten. Zeit wandelte sich vom konzertierenden zum erfolgsbestimmenden Wirtschaftsfaktor, ebenso Planung und Koordination, Präzision und Perfektionierung. Perfekte Technik ist seit den neuen Produktionsverhältnissen unentbehrlich. Dies spiegelt sich musikalisch im neu aufkommenden Virtuosentum mit Franz Liszt und Nicolo Paganini an der Spitze wieder. Spieltechnische Spitzenleistung als Ziel einer Komposition wurde in allen Bereichen der Kunstmusik zum Standard. Der Übergang von der Manufaktur zur maschinellen Produktion im vorangegangenen Jahrhundert hatte sich in der Entstehung des modernen Orchestertypus abgezeichnet. Das Orchester war kein kasuales Ensemble mehr, dessen Mitglieder als Diener bei Hofe tagsüber Schuhe putzen, kochen, Öfen heizen, abends aber Konzerte spielen mussten. Seit den berühmten Mannheimern ab 1750 hatte sich das Orchester schon zum standardisierten Präzisionsapparat gewandelt, in dem jeder Part seinen unentbehrlichen Beitrag zur Funktion des Ganzen leistet. Das moderne Klangideal war nur dann zu produzieren, wenn alle Instrumentengruppen präzise wie die Räder und Riemen einer Maschine störungsfrei kooperierten. Beim Ausfall eines einzigen Bestandteils im Apparat wäre die Produktion des Klangzieles unmöglich. Seit der Hochklassik ist dies aber untrennbar mit der Komposition verbunden. Orchestermusiker sind von nun an reine Profis, es gibt seither feste Probepläne und Einzelproben. All das kann man beim folgenden Werk im ersten Satz hören. Zudem ist er mit seiner motorischen, insistierenden Rhythmik ein Beispiel beginnender Rezeption einer Realität mit Maschinenpräsenz. In der „neuen „ Gesellschaft reflektierte die Gegenwart lernend das Vergangene, um gewonnene Einsichten bei der Zukunftsplanung erfolgsorientiert einzusetzen. Der Zusatz „ Suite im alten Stil“ bei „Aus Holbergs Zeiten“ ist unter diesem Gesichtspunkt zu sehen. Der vierte Satz „Air“ rechtfertigt den Begriff Romantik für das 19. Jahrhundert. Die Polarisierung von Vernunft und Gefühl war längst schon kulturelles Markenzeichen geworden. Auf rousseauschen Schwingen traten Gebildete ihre Realitätsflucht in die Verklärung guter alter Zeiten an.

Dmitri Schostakowitsch (1906–1975)

Präludium und Scherzo op. 11 (1924/25)

Verfügbarkeit, Vervielfältigung, Diktaturen

Der technische Fortschritt beschleunigte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts, Maschinen erhielten permanente Präsenz in der Umwelt und gestalteten damit die akustische Realität. Die Hochrüstung des Schienenverkehrs brachte Länder näher zusammen, rasche Nachrichtenübermittlung durch Telegraphie trug ihren Teil dazu bei. Entfernungen waren in immer kürzerer Zeit überbrückbar, die gewohnte Disposition des Raum-Zeit-Verhältnisses änderte sich vollkommen, Wissen konnte, musste aber auch schneller übermittelt und gespeichert werden. Verfügbarkeit: Als entscheidend muss freilich die mühelose, flächendeckende , permanent in großen Mengen verfügbare Energiezufuhr durch Elektrizität gesehen werden. Damit sind wesentliche Faktoren geschaffen, welche das Gesicht der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend prägten.

Wiederholbarkeit: Immer schneller und rationeller musste produziert werden, darin bestanden die Anforderungen an Technik. Wiederholbarkeit im Sinne rasanter Vervielfältigung eines Produktes, bei konstanter Qualität, war angesagt. In der Kunst ergaben sich dadurch ganz neue Phänomene: neben dem Gemälde jetzt die Fotografie, neben dem Theater der Film, neben dem Konzert die Tonträger. Mit den später hinzukommenden neuen Medien gelangen die neuen Sparten über Fernseher, Radio und PC in jeden Haushalt: Verfügbarkeit. Musik stand nunmehr unter großem Druck, das Festgehaltene blieb präsent. Die Komponisten mussten jetzt stets authentisch Neues schaffen und erstmals waren auch Interpreten diesem Innovationsdruck „ausgesetzt“, die Geburtsstunde der Interpretationsgeschichte hatte geschlagen. Veränderungen erfuhren hierdurch ein beträchtliches „Accelerando“. Mit der Realisierung der bürgerlich-demokratischen Idee seit dem 19. Jahrhundert waren zugleich diktatorische Gegenentwürfe wie Sozialismus und Faschismus entstanden, deren Realisierung das 20. Jahrhundert trotz hoher ethisch-humaner Ansprüche und Bemühungen grauenhaft entstellten. Schostakowitsch hatte unter den Verhältnissen der Sowjetunion extrem gelitten. Das Regime verordnete Stilregeln, welche es den Komponisten verboten, sich den westlichen Erneuerungen wie etwa der Zwölftontechnik eines Arnold Schönberg anzuschließen, geschweige denn Persönliches in ihre Werke aufzunehmen. Dennoch bleibt Musik Spiegel der Realität. Das Präludium op.11 entstand unter dem Eindruck des Typhustodes eines Schriftstellerfreundes. Die Wahl der Gattung Präludium belegt die Faszination durch Johan Sebastian Bach, dessen zahlreiche Präludien mit ihrer ökonomischen, rationellen Struktur jeden Komponisten des technischen Zeitalters reizen. Schostakowitsch verdiente sich in seiner Jugend den ersten Unterhalt als Klavierbegleiter von Stummfilmen. Durch dieses neue Medium stand Musik vor ganz neuen Aufgaben, sie musste optische Prozesse – z. B. Stolpern eines Protagonisten oder Fliegen eines Hutes - akustisch nachmalen. Im motorischen Scherzo haben neben der Rezeption von akustischer Maschinenpräsenz im alltäglichen Leben einige Effekte dieses neuen Genres Einzug gehalten: ausgedehnte Tremoli und kecke Glissandi). Die Verdoppelung der Quartettbesetzung sollte keine Klangfülle erzeugen sondern extre­me Klangereignisse zur Darstellung von Maschinengeräuschen.

John Adams (*1947)

Shaker Loops (1978, rev. 1982)

Neue Materialien, Eischließung von Makrokosmos und Mikrokosmos

Im 20. Jahrhundert verlagerte sich die romantische Neigung zu Realitätsflucht in sentimentaler Weise auf die Unterhaltungsmusik. Die Gesellschaft selbst war mit einer Maschine vergleichbar geworden. Alle Kräfte, Komponenten und Details mussten gebündelt, organisiert und strukturiert werden, es musste funktionieren. Diese komplette Rationalisierung und Funktionalisierung durch Technik fand ihren Gleichklang in der Zwölftontechnik Arnold Schönbergs. Seine Schüler Berg und Webern folgten ihm. Ende des 18. Jahrhunderts war das Orchester zur Präzisionsmaschine geworden, nun geschah dies auch mit der Komposition an sich. Die Werke wurden vollkommen durch organisiert, es bestand kein Raum für Zierrat oder Spielerei mehr, Alles war funktional. Jede Note besaß hundertprozentige Legitimation durch mathematische, strukturelle Beziehung zur Vorangegangenen und zugleich zur gesamten Satzkonstruktion. Änderte man nur eine Note in der Komposition im Satz, so verlöre er seinen Sinn, er funktionierte nicht mehr. Wenn beispielsweise ein Buchstabe einer E-Mail-Adresse inkorrekt ist, funktioniert kein Kontakt mehr. Die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts schuf die Notwendigkeit zur Entwicklung vieler neuer Materialien: Kunststoffe. Zur gleichen Zeit ist Komponieren zur Produktion von neuem, noch nicht da gewesenem Klangmaterial geworden. In der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts begann Technik außer ihrer Eroberung des Makrokosmos durch Flug- bzw. Raumfahrttechnik beispielsweise, die Eroberung des Mikrokosmos mit Hilfe von Elektronenmikroskopen oder Erkenntnissen der Quantenphysik. Einen vergleichbaren Prozess ins Mikrokosmische sehen wir in den avantgardistischen Klangmaterialien der 50er bis 80er Jahre. Nicht mehr nur der Ton macht hier die Musik, vielmehr wird das Kompositionsmaterial differenziert aufgesplittert, vom undefinierbaren Geräusch bis hin zum erbarmungslosen Longitudinal Sinuston. Die permanent auf Innovation ausgerichteten Kompositionen bedürfen nicht nur bei ihrer Ausführung vielfach der Verwendung von Maschinen oder Elektronik sondern auch bei ihrer komplexen Konzeption selbst. In den USA entstand jedoch ab den 70er Jahren eine neue, eigenständige Musikrichtung, die ins Mikrokosmische auf andere Art eindrang: Minimal Music. Man könnte sie mit dem optischen Eindruck einer in der Totalen gefilmten Fabrik mit unzähligen unermüdlich, präzise, repitativ arbeitenden Maschinen bei der Produktion vergleichen. Das Charakteristikum von Minimal Music besteht vor allem im blockartigen Aneinanderreihen geringfügig variierter rhythmischer Muster über einer bewusst einfach gehaltenen Harmonik. So entsteht der Eindruck einer Trance-Energie, die aus einer Art meditativen Kreisens entspringt.

Der Titel „Shaker Loops" ist quasi Pro­gramm. Zwei sich überlagernde Klangebenen überlagern sich hier. „Loops" steht für Ton- oder Soundschleifen). Die permanente Wiederholung rhythmischer und melodischer Folgen ereignen sich hier im Verbund mit Phasenver­schiebungen. „Shaker" ist hier in doppeltem Sinne gemeint: Zum einen als Anspielung auf spieltechnische Finessen, zum anderen spie­geln sich darin Kindheitserinnerungen des Komponisten an Mitglieder der Millenniums­kirche, so genannte „Shaker", wider. Diese versetzten sich bei ihren Gottesdiensten durch ekstatisches Schütteln in einen Trancezustand.

Arvo Pärt (1937)

Fratres“ (1991), für Streichorchester und Schlagzeug

Heidegger, Technikkritik, Spiritualität

Um 1950 verfasste der Philosoph Martin Heidegger seine Technikkritik. Danach wird das Wesen der Technikerst wirklich verständlich, wenn seine Beziehung zur Metaphysik betrachtet wird. Er verurteilte metaphysisches Denken nicht sondern sah es als Bestandteil vom Wesen des Seins. Der im technischen Prozess eingeschlagene Irrweg erweist sich So als ein notwendiges Stadium der Seinsgeschichte, durch welchen das abendländische Denken hindurchgehen muss. Heidegger thematisierte gesellschaftliche Entfremdung, die Totalität des Subjektiven der Europäischen Kultur, den technischen Rationalismus und Möglichkeiten der Machtsteigerung durch Technik, jedoch nicht unter soziologisch-andropologischen sondern unter seinsgeschichtlichen Aspekten. Seinsgeschichte vollzieht sich nur im menschlichen Tun, also in Wissenschaft, Technik, Kunst und Politik.

Durch Technik wird der Mensch einerseits zum „Herrn der Erde“, andererseits wird er durch die Verkehrung der Zweck-Mittel-Relation vom „Gestell“ (eine Übersetzung des griechischen Wortes techne) entmachtet und zum bloßen Moment des alles umspannenden technischen Prozesses. Jeder Winkel des Planeten ist in die technische Beherrschbarkeit integriert und der Mensch trifft überall nur noch sich selbst, weil er in der technischen Art der Weltentdeckung sich selbst als Maß vorgibt. Doch Heidegger zitiert Hölderlin: wo Gefahr entsteht, wächst auch zugleich das Rettende. Längst hat sich der Mensch durch seine technischen Möglichkeiten vom Gedanken der Welt als göttliche Schöpfung mit göttlichem Heilsplan entfernt. Längst ist es die Welt des Menschen, der seinen Plan und Willen vollstreckt. Wen der Fortschritt aber nicht zum Hochmut sondern zu staunender Bescheidenheit bewegt, der wird in der fortschrittlichen Welt keinen Widerspruch zu Glaube und Religion sehen, im Gegenteil. Religiöse Tätigkeit als Glaubensvollstreckung und nicht als Sentimentalität wirkt integrierend auf die polarisierte Rationalität und Emotionalität. Für die Kunst löst sich damit die Gefahr der allzu hohen Subjektivität oder nüchternen Rationalität.

Arvo Pärts Fratres stellt eine moderne, individuelle Klangkonstruktion dar, die das Klangmaterial komplett rational durchorganisiert. Aber die in Pärts Werken sich durchziehende Religiosität gewährt den Hörern auch ohne Erkennen des Konstruktionsverfahrens den emotionalen Zugang. Über einem liegenden Klang in den hinteren Pulten der Celli und Kontrabässe ist das Werk aufgebaut, seine Konstruktion besteht einfach aus neun Rotationen eines einzelnen Einfalls. Dieser Einfall ist eine Art umgekehrte Version von Coplands Fanfare for the Common Man. Kurze Schlagzeugepisoden sind eine Art Interpunktion zwischen den Rotationen. Die Streicher spielen eine kurze melodische Zelle, die in ihren zwei Wiederholungen durch eine einzelne zusätzliche Note in jede Richtung erweitert wird, worauf die drei Phrasen dann auf den Kopf gestellt wiederholt werden. Jede der neun Rotationen dieses Materials beginnt um eine Terz tiefer als die vorhergehende.

Athanasia Tzanou (1971)

La valeée a rejoint la nuit (2007)

Uraufführung,

Auftragskomposition von Musica Femina e. V.

Technik, Ethik, Weisheit

„Wissen ist Macht“ – dies ist eine ebenso zutreffende wie ethisch fragwürdige Verheißung. Sie machte Adam und Eva zum Sündenfall verführbar: durch den Verzehr der Erkenntnisfrucht in Besitz von Wissen zu gelangen und dadurch wie Gott sein zu können. Doch statt dessen waren paradiesische Zustände erst einmal beendet und der Mensch mit Bewusstsein allen Nöten dieser Welt ausgeliefert, namentlich Hunger und Krankheit. Doch mit den Möglichkeiten der Technik sind wir imstande, paradiesischen Verhältnissen sehr nahe zu kommen. Descartes, mit dessen Denkmethode im 17. Jahrhundert die Subjektivität erstmals als relevant einbezogen wurde, forderte gleichzeitig die freiwillige Unterordnung des Subjekts unter Ethik. Kunst und Technik werden sofort beanspruchen dies heutzutage auch zu tun. Die Verifizierung allerdings wird davon abhängen, wie bindungsfähig die Individuen unserer Zivilisation sein werden. Die Beziehungsfähigkeit der Menschen untereinander und mehr noch zu übergeordneten Wertsystemen schwindet wenn Individualität weiterhin mit Egozentrik verwechselt wird. Wenn die Individuen einer Gesellschaft den Bezug zum Übergeordneten – zu Transzendenz also - verlieren, geraten sie über die Totalität des Subjektiven in den Kerker des Narzissmus, mit fatalen Auswirkungen. Kultur verfällt zu archaischen, vorkulturellen Phänomenen: in den Kult oder Fetischismus. Weder Technik noch Kunst dürfen zu kollektiven Fetischen werden, auch Fortschritt nicht.

Das Konzert des Münchner Kammerorchesters repräsentiert auf eindrucksvolle Weise ideale Verhältnisse: jeder einzelne Spieler – das Individuum – stellt höchste Technische Perfektion nicht in den Dienst narzisstischer Selbstdarstellung oder gar Schaustellerischer Effekte sondern in den übergeordneten transzendentalen Kontext: das jeweilige Werk. Nur so funktioniert es.

Atanasia Tzanou reiht sich in eine recht lange Schlange von Komponistinnen ein. Neben Hildegard von Bingen, über Jaquet de La Guerre (Barock, sie führte ein eigenes Opernhaus), Wilhelmine von Beireut, ferner die Schwester Felix Mendelson Bartholdys, Clara Wieck, Frau Robert Schumanns, ließen sich noch viele Namen nennen. Die patriarchalische Dominanz beruflichen Lebens verhinderte es bis zum 20. Jahrhundert, dass Frauen als Komponistinnen selbstständig leben, arbeiten und ihren angemessenen Platz in der Geschichte einnehmen konnten. Dies beginnt sich aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung zum Glück zu ändern. Es gibt noch hohen Bedarf, Versäumtes nachzuholen und nachzurüsten. Musica Femina München e. V. hat sich dies zur sehr anerkennenswerten, gleichwohl gewiss mühevollen Aufgabe gemacht. Von diesem Verein erging auch der Auftrag für die Komposition des Violinkonzertes, dessen Uraufführung wir nun hören werden. Gestern begegnete ich der Komponistin zum ersten mal, und in unserem Gespräch stellte sich heraus, dass Johannes Brahms ihr Lieblingskomponist ist, weil er das Rationale und das Emotionale in Dialog zu bringen versteht. In ihrem Werk werden Empfindungen nächtlicher Naturklangimpressionen der Gegenwart geschildert. Die Organisation des Klangmaterials subsummiert und fusioniert dabei homogen alle wesentlichen Kompositionstechniken der letzten 4 Jahrzehnte.

Kultur ohne Technik wäre primitiv und wenig zivilisiert, Technik ohne Kultur wäre unmenschlich und grausam.

Technik und Künste waren, sind und bleiben Notwendigkeiten, daran müssen sie sich ausrichten. Beide wurzeln in Erkenntnis – des Inneren und des Äußeren – und am Ende steht immer wieder das bewundernde Staunen. Mit zunehmender Weisheit gelangen wir denn auch zur essenziellsten aller Erkenntnisse, wie sie viele zeitgenössische Quanten- und Astrophysiker ausdrücken: es ist nie so, wie es ist!

Rolf Basten

Mittwoch, 7. Mai 2008

Musik und Religion

Musik und Religion

Kunst im Spannungsfeld zwischen Ego und Erkenntnis bzw. Eigenliebe und Liebe

Wille blockiert Erkenntnis

In den beiden letzten Vorträgen wurde das Verhältnis von Musik zur Philosophie und zu Ideologie betrachtet. Die Schnittmengen zwischen Musik und Philosophie haben sich dabei als beachtlich herausgestellt, nicht nur was die Erscheinungsformen betrifft sondern vor allem den inneren Wesenszusammenhang. Aus diesem Grunde sah Boethius die Musik als Instrument der Philosophie. Musik und Philosophie nehmen sich des Seienden an. Weil aber Musik zum Konsumartikel verkommen ist, bleibt dies den Meisten verborgen, sie sehen die tönende Kunst als bloßen Ausdruck von Gefühlen eines Individuums, durch die sie angeregt werden möchten.

Beim Verhältnis von Musik und Ideologie wurde offenbar, wie leicht man mit Musik die Empfindungen einer Zuhörerschaft manipulieren kann. Die tönende Kunst greift unmittelbar auf den unbewussten, trieb- und instinkthaften Persönlichkeitsteil zu, ihre Wirkung ist damit der verstandesmäßigen Kontrolle durch die Rezepienten entzogen. Dies trifft gleichermaßen für zustimmende wie ablehnende Reaktionen zu. Hierzu passt Schopenhauers Aussage, es sei zwar möglich, zu tun was man wolle, es sei jedoch unmöglich zu wollen, was man will.

Ideologen und Ideologien machen sich diese Ohnmacht mit Hilfe der Musik als Mittel für ihre Propaganda zunutze. Philosophen, produzierende wie reproduzierende Künstler und Theologen können freilich absichtlich oder unabsichtlich zu Ideologen werden.

Die menschliche Existenz befindet sich im Spannungsfeld zweier fundamentaler Prinzipien: Hingabe und Wille. Beide stehen in dialektischem Zusammenhang, wie Antagonator und Protagonator.

Hingabe ist wie der Kelch: er kann empfangen und geben. Wille ist die zwingende Faust, deren Griff jeglichen Raum, jegliche Atemluft verdrängt.

Zur Hingabe gehören das Sein, das Loslassen, das Entfalten, die Bereitschaft, das Schwingen, das Freiwerden, der Glaube, das Erkennen. Zum Wille gehören Kontrolle, Zwang, Macht, Manipulation, Werben, Interpretieren, Konstruieren, Gefangennahme, Ego, Unfreiheit. Wille macht alle Beteiligten unfrei, sowohl Jene, die ihm unterworfen werden sollen als auch Jene, die ihn auszuüben trachten. Viel ist über die Freiheit bzw. Unfreiheit des menschlichen Willens nachgedacht oder geschrieben worden. Unabhängig von den verschiedenen Standpunkten bleibt eines jedoch klar: Wille als solcher bedeutet Unfreiheit. Bei Baruch Spinoza (1632 – 1677) erhalten wir in seinen Ausführungen über die Unfreiheit des Menschen durch seine Affekte wichtige Denkanstöße zu dieser Problematik. Vor allem die fernöstlichen Philosophien weisen zu recht darauf hin, wie notwendig es ist, den Willen auszuschalten. Wille blockiert Erkenntnis. Stets auf seine Vollstreckung konzentriert dirigiert er den geistigen Blick immer genau auf dieses Ziel. So wird immer nur Bestätigung verfolgt, es wird nur erkannt, wie etwas sein soll, aber nicht, wie etwas wirklich ist.

Ein Beispiel zum Verständnis: Francis Bacon (1561 – 1626) kritisierte in seinem Werk „Organon“ Philosophen und Wissenschaftler vorangegangener Epochen. Er warf ihnen vor, bestehende Ansichten, Annahmen oder Spekulationen immer wieder nur mit dem Willen zur Bestätigung untersucht zu haben. Er postulierte, die eigene, persönliche Erfahrung zum Ausgangspunkt von Versuchen zu machen, weil nur über diese erkannt werden kann, ob etwas denn wirklich so ist, wie allgemein angenommen. Damit war freilich keine endgültige Lösung zum Erwerb von wirklicher Erkenntnis gefunden worden. Das Prinzip der Hingabe, als Kelch, der empfangen kann, und des Willens als Faust, die etwas zwingt, besitzt Gültigkeit im Kollektiv, im Individuum und im Verhältnis von Kollektiv und Individuum. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen beiden, welche dialektischen Gesetzmäßigkeiten folgt. Das Kollektiv, z. B. ein Staat oder eine Glaubensgemeinschaft, kann Individuen in den Dienst ihrer Willensvollstreckung zwingen. Nichts, was verordnete Ideen anzuzweifeln wagt, ist gestattet. Umgekehrt kann ein Individuum das Kollektiv dem Dienst seiner Willensvollstreckung unterwerfen, man denke dabei an Tyrannen, z. B. Hitler oder Stalin.

Wille im Freiheitsbegriff

In der Westlichen Kultur spielt Wille eine zentrale Rolle, weil er darin mit dem individuellen Freiheitsbegriff verschmolzen ist. Diese Verschmelzung begann im Humanismus, aber bis zum Ende der Adelsgesellschaft durch die Französische Revolution existierte der westliche Freiheitsbegriff als Vision. Bis dahin war kulturell/gesellschaftlich nur die Willensvollstreckung weniger Monaden, der Herrscher in ihren jeweiligen Hoheitsgebieten relevant. Entsprechend gering wirkte sich der westliche Freiheitsbegriff aus. Ab dem 19. Jahrhundert wurde die Vision einer Gesellschaft vorherrschend, die es jedem Individuum gewährte, nun selbst Monade zu sein, gleichwohl auf den persönlichen Lebensbereich begrenzt. Die Möglichkeit individueller Willensvollstreckung war von jetzt an kollektiv im Angebot, sie wurde Inbegriff von Freiheit. Frei sein bedeutete jetzt, man kann tun, was man will und hat das Recht dazu. Wie weit der gesellschaftliche Status oder die pekunäre Situation des Einzelnen dies tatsächlich zuließ, mochte aber dahin gestellt sein. Individueller Wille musste zwangsläufig immer mehr in Konflikt mit übergeordneten Systemen geraten, beispielsweise Glauben, Lehren oder verbindliche Werte allgemein. Sie wurden mehr und mehr als Beschneidung des eigenen Willens somit der Freiheit erlebt und unpopulärer. Die Individualisierung von Kultur und Gesellschaft nahm ihren Lauf, das Subjekt, jetzt kulturell/gesellschaftlich relevant geworden, nahm die Subjektivität immer mehr Raum ein bis hin zu ihrem totalen Sieg in der zwangsläufig heraufbeschworenen Achtundsechzigerrevolte. Der Faschismus mit dem 2. Weltkrieg als Folge hatte einen Kulturschock bewirkt. Eine verantwortungsvolle, historische Aufarbeitung war ausgeblieben, statt dessen wurde mit Hilfe von Arbeitswut und – in Deutschland noch dazu - Wirtschaftswundereuphorie kräftig und erfolgreich verdrängt. Der Kriegsgefahr, die in der nationalstaatlichen Idee zu schlummern schien, glaubte man, durch internationale Verflechtung des Kapitals begegnen zu können. Dieser rein materialistische „Kurierungsversuch“ hatte negative Folgen. Die Individuen waren auf sich selbst zurückgeworfen, sie fanden verständlicherweise Grund genug, an allgemeingültigen Werte- oder Denksystemen ernsthaft zu zweifeln. Diese hatten sich einerseits als wirkungslos oder verlogen erwiesen, andererseits hatten ihre Erscheinungsformen in linken bzw. rechten Diktaturen die Welt entstellt. Entsetzen führte zum Aufbegehren, Aufbegehren wurde alsbald zum Begehren herabgestutzt. Der Lebensstandard war im Westen Europas enorm gestiegen, die geschickten Marktstrategen nützten dies gründlich aus. Was zunächst Ausdruck des Protestes war, z. B. zerrissene Jeans, avancierte schon bald zum allgemein akzeptierten Konsumgut mit besonders hohem gesellschaftskritischen Preisaufschlag. Die Protestattribute, nunmehr unentbehrliche Bestandteile der Warenproduktion, wurden zu Fetischen einer progressiven Lebenseinstellung, denen sogar Reaktionäre verfielen.

Narzisstische Monaden

Die Produktionsverhältnisse kamen der Willenskonzentration im Freiheitsbegriff allenthalben entgegen. Wille wurzelt zu einem wesentlichen Teil im Trieb- oder Instinkthaften, er ist nur schwer von der Vernunft zu kontrollieren. Wille begehrt. Begehren wird nur durch Erfüllung gestillt. Erfüllung vollzieht sich nur im Bekommenhaben. Haben wird unbewusst zum transzendentalen Bezugspunkt. Ich habe, also bin ich, folglich wird sich Jeder selbst zum Nächsten. Egos freilich konkurrieren miteinander, es sei denn, das des Einen nützt demjenigen des Anderen. In der unfreien, engen Welt seines ausschließlichen Wollens, Bedürfens, Begehrens und Habenmüssens wird das subjektive Individuum zur Monade. Deren Fürstentum liegt dabei nur innerhalb des Egos, das aber stets narzisstische Projektionen als argwöhnische Späher aussendet. Deren „Beobachtungen“ lassen der Monade die Welt in einem binären System erscheinen. Sie selbst ist natürlich stets im Besitz bester Absichten, Schaden kann folglich gar nicht angerichtet werden. Misserfolge, Frustrationen oder Konflikte werden nur als Resultate des bösen Willens Anderer erlebt. Erfolge aber, Verdienste erscheinen ihr ausschließlich als eigene Leistung.

Was die narzisstische Monade für Liebe hält, ist nichts anderes als die Projektion von Bedürfnissen. Es besteht bei ihr nur die Fähigkeit zur Eigenliebe.

In Erasmus Desiderius (1466 – 1536) „Laus Stultitiae“ tritt die Dummheit als allegorische Figur auf, um eine Lobrede auf sich selbst zu halten. Sie bringt zur fiktiven Festivität, anlässlich derer sie ihr eigenes Lobpreis verkündet, eine nahestehende Verwandte mit: die Eigenliebe. Und so, wie das fatale Wesen der Dummheit darin besteht, dass man sie bei sich nicht bemerkt sondern immer nur bei Anderen, gilt Ähnliches für die Eigenliebe. Sie verbirgt dem Projizierenden seine Projektion und gaukelt ihm statt eines „Wollens“ ein „Sein“ vor. Eigenliebe ist eigentlich gar keine Liebe. Liebe bedarf einer Bezugsfähigkeit nach außen und sie bedarf der Hingabe.

Beziehungsfähigkeit sinkt allerdings in einer Gesellschaft totaler Subjektivität.

Rückfall

Viele Zeitgenossen fragen oder wenden ein, was nun an der totalen Subjektivität so verkehrt sei, wo doch jegliche Wahrnehmung grundsätzlich subjektiv ist. Solch eine Fragestellung liefert die Antwort bereits selbst, indem sie verrät, dass über die Diskrepanz von Wahrnehmung und Realität beim Fragestellenden gar kein Bewusstsein besteht.

Wenn in einer Gesellschaft die Totalität des Subjektiven herrscht, fällt sie in ein vorkulturelles Stadium zurück. Trotz zivilisatorischen und technologischen Fortschritts gleicht das Individuum dann seinem Vorfahren im Frühstadium der Menschheitsentwicklung. Stets auf die Vollstreckung eigenen Willens und die Befriedigung eigener Bedürfnisse konzentriert, ist Bindungsfähigkeit kaum vorhanden. Primär kommt es zu Subjekt-Objekt-Bindungen , wobei das Objekt selbstverständlich auch eine Person sein kann. In solch reduzierter Bindungsfähigkeit wird das Individuum für Fetischismus und Kult anfällig. Im Bereich der Sexualität fällt dies stark auf, wird hier jedoch als „Freiheit“ oder „Offenheit“ verkauft. Den Produktionsverhältnissen kommen Neigung zu Kult und Fetisch im Sinne erfolgreichen Absatzes durchaus entgegen. Sie verleihen ihren Waren Fetischcharakter und durchsetzen die Welt der Kunstmusik mit Kultfiguren. Fetisch und Kultpersonen sind narzisstische Projektionsflächen. Über sie kann kein Zugang zu einem transzendentalen Kontext gefunden werden, um den es sowohl in Religion als auch in Künsten geht. Wenn der Interpret sich beim Musizieren in den Vordergrund drängt, schadet er dem Werk. So, als ob ein Maler sich vor sein Gemälde stellt und einem Betrachter den Blick darauf versperrt.

Kultur ist das Spannungsfeld zwischen Geist und Gesellschaft. Dazu muss nicht nur Beziehungsfähigkeit der Individuen untereinander vorhanden sein, sondern darüber hinaus zu etwas Übergeordnetem, sei es nun akzeptiert, erkannt oder erahnt. Nicht Subjekt-Objekt-Bindung, nicht Subjekt-Subjekt-Bindung, sondern Subjekt-Objektivitätsbezug lässt Kultur entstehen. Kultur impliziert Transzendenz.

Erhebung der Künste im Monotheismus

Der Monotheismus des Judentums hatte Gott personell, vor allem aber als essenziell, als übergeordnetes Wesen erkannt. Deshalb trägt Gott keinen Eigennamen wie eine Person, er wird das geheißen was er ist: Gott. Person, Wesen und Namen sind eine Einheit. Das war beispiellos in der Entwicklung der Menschheitsgeschichte. Religiöse Verehrung hat erst mit dem Monotheismus ihr Verharren im Trieb, im Instinkt und in der primitiv sozialen Subjektivität der Vorzeit beenden können, weil nun Fähigkeit zu Transzendenz erworben war. Mit diesem Entwicklungsschritt waren die Künste nicht mehr länger Ritual. Sie waren jetzt über das bewunderungswürdige Vermögen ihrer Schaffenden und über absolute ästhetische Glanzleistungen hinaus erhoben. Die Psalmentexte belegen dies auf eindrucksvolle Weise. Leider ist uns die dazugehörige Musik nicht überliefert.

Der Gregorianische Choral ist das früheste Beispiel für Abendländische Kunstmusik. Seine Majestät rührt nicht von Prunk, Aufwendigkeit oder von Sentimentalität her. Bei ihm beeindruckt, wie mehrere Sänger ohne Instrumentenbegleitung hingebungsvoll in Einstimmigkeit miteinander verschmelzen. Dem Klang der Wörter und ihrer Bedeutung entspricht die Intervallkombination, die Melodienbildung. Der Rhythmus ist nicht Manifestation von Ausdrucks – oder Gestaltungswillen, er ereignet sich aus den Wortsilben heraus. Reduktion auf Essenzielles und wenig Raum zur Manipulation der Rezepienten ist hier geboten. Sammlung, Kontemplation und das Eine: vollkommene Verschmelzung, stehen ganz und gar im Mittelpunkt.

Über die mehrstimmige Motetten- und Messkomposition als authentische Glaubensverkündigung erobert die Kunstmusik ihre süperben Errungenschaften polyphoner Satztechnik. Alle beteiligten Stimmen sind gleichberechtigt, besitzen gleichermaßen Anteil am motivischen Material, zeichnen sich durch ideale, ästhetische Linienführung aus und ergeben im Verbund stets nur Wohlklang. Die Notre Dame-Messe eines Guillaume de Macheaut (ca. 1300 – 1377) oder die Werke Palestrinas (1525 – 1594) zeugen bei aller Verschiedenheit ihrer zeitgenössischen Klangideale davon.

Das Persönliche und die Künste

In den Künsten der Renaissance, die der Humanismus hervorgebracht hatte, begann das „Menschliche“ seine Spuren deutlicher als zuvor abzuzeichnen. Damit fing die Säkularisation der Abendländischen Kultur an, zunächst zögernd, dann mit zunehmender Beschleunigung. Die persönliche Erfahrung war nicht nur Bezugspunkt für die Experimente der Naturwissenschaften, sondern auch für die musikalische Aussage. Ein Befreiungsakt, der die ehernen Ketten polyphoner Gesetze sprengte und Musik von einer lyrisch-deskriptiven zur persönlich-dramatischen Kunst wandelte. Jetzt wurden die menschlichen Affekte vor allem in der neuen Gattung „Oper“ Gegenstand der Aussage, es wurden ganz neue Kompositionsmittel wie Dissonanz, vorgeschriebene Instrumentierung, das Streichertremolo etc. eingeführt. Ab 1600 kam es zum ersten mal auch zu pompösen Monumentalstilen. Ein Ausdruck höchster ritueller Verehrung des Absolutistischen Herrschers als gottgewollt/gottgleich. Diese Errungenschaften kamen auch der geistlichen Musik zugute. Nun hielt teilweise auch hier der Glanz schmetternder Trompeten und impulsgebender Pauken Einzug. Claudio Monteverdi (1567 – 1643) hatte die Fürstenfanfare der Gonzagas zu Mantua als Toccata an den Anfang seiner Oper L’Orfeo (1607 ) gestellt. Diese hat er dann in die Doxologie am Anfang seiner „Vespera della beata Vergine“ von 1610 selbstbewusst eingearbeitet. Im Concerto „Duo Seraphin“ des gleichen Werkes kommen Gesangstechniken der Oper zur Anwendung, z. B. „Concitato-Rhythmen“ (concitato bedeutet erregt). Darunter versteht man die Aneinanderreihung punktierter Achtel, gefolgt von einem Sechzehntel, bei raschem Tempo. Aber auch repetierende Sechzehntelnoten auf einem Ton, die in der Oper das Beben einer erregten Stimme darstellten, setzt Monteverdi in diesem Concerto ein. Mit der Zunahme des „Menschlichen“ in der Musik werden auch Impuls und Wille des Menschen deutlicher vernehmbar. Motorik taucht jetzt erstmals als fundamentales Stilelement auf. Das Oratorium, sozusagen die geistliche Oper, war als neue Gattung im 17. Jahrhundert entstanden. Glaube ist eine Angelegenheit von Verstand und Empfindungen (Affekten) zugleich, insofern haben die Errungenschaften neuzeitlicher Musik einen wertvollen Beitrag für die Glaubensverkündigung geleistet. Nehmen wir zum Beispiel das Kyrie von Bachs (1685 – 1750) Hoher Messe in h-Moll. Dieses ist von der alttestamentarischen Erkenntnis Gottes als überwältigend, mächtig, furchteinflößend, überragend geprägt, mit Pathos und flehendem Tonfall . Doch dann das Christe eleison! Der menschgewordene Gott, der sich opfernde, liebende verzeihende Gott, der uns erlöst, welch eine Wandlung im Tonfall. Das Tempo bewegter, das Tongeschlecht ist nun Dur, wir vernehmen verlangende Seufzermotive, die für den Empfindsamen Stil so typisch sind, die gehenden, ermunternden, treibenden Bassachtel. Selbst Atheisten können hier hören, was sie ja eigentlich nicht glauben. Die Reduktion der Mittel in Bachs gesamtem Werk, die im Einzelnen aufzuzählen hier den Rahmen bei weitem sprengen würden, beweist dabei die aufrichtige Gläubigkeit des Thomaskantors, dessen Anliegen nicht Missionierung sondern Zeugnis war. Im Alten Testament wird ein liebender Gott erkannt, der sich selber aber auch einen eifersüchtigen Gott nennt. Die Botschaft Christi offenbart uns den Schöpfergott, den Vater als die Liebe selbst. Er beweist sie und sich in seiner Menschwerdung und seinem Opfer am Kreuz. Die christliche Religion kann als die Religion einer Menschwerdung Gottes – ohne Sünde – und einer Gottwerdung des Menschen – durch die Opferung Gottes und die so erfolgende Erlösung – gesehen werden. Sie musste quasi zwangsläufig zum Humanismus führen.

Religion, Unwissenheit, Haydns Oratorien

Die „Nachfolger“ des Humanismus, der Empirismus und der Rationalismus, räumten der Subjektivität immer größere Bedeutung ein. Die Abkehr von Spekulation und Autoritätsgläubigkeit ließen immer weniger an sich selbst zweifeln, dafür aber umso mehr am Übergeordneten. In der vernunftgläubigen Aufklärung geriet Religiosität bereits in den Geruch von Unwissenheit. Man denke an Voltaire, für den Unwissenheit die Mutter der Religion war. Hier fand jedoch ein schlechter Tausch statt, denn der Glaube an den allmächtigen Gott und an das Mysterium fidei wich dem Glauben an nur einen begrenzten Teil der menschlichen Existenz: die Vernunft. Rousseau dagegen schwang sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Anwalt des Empfindsamen, der Gefühle und der Affekte auf. Sie wiederum haben ihre Wurzeln im Instinkt- und Triebhaften, aus dem sich die Gotteserkenntnis und Gottesverehrung ja im Monotheismus befreit hatte. Entweder an Vernunft oder an Empfindungen zu glauben, heißt immer nur auf ein bestimmtes Pferd zu setzen, von dem man nicht weiß, ob es gehorchen wird, in welche Richtung es laufen wird, oder ob es ans Ziel gelangt. Gotteserkenntnis und Glaube bedürfen geistigen Abstraktionsvermögens. Dies nährt sich sowohl aus rationalen wie aus emotionalen Bestandteilen. Legt man ausschließlich Wert auf Vernunft, so wird Glaube zur Wissenschaft, was ein Widerspruch in sich wäre. Bauen wir ganz auf Empfindungen, so reduzieren sich Glaube und Religion auf Sentimentalität.

Die Komponisten der Wiener Klassik waren erfolgreich bemüht, rationale und empfindsame Anteile in Balance zu halten.

Doch die kulturelle Säkularisierung war schon weit vorangeschritten. Joseph Haydns (1732 – 1809) Oratorien „Die Schöpfung“ und „Die Jahreszeiten“ wurden als Konzerte auf einem weltlichen Podium außerhalb eines kirchenjahreszeitlichen Bezuges uraufgeführt. Der Librettist van Suiten bestand in den Jahreszeiten auf die Einbindung lautmalerischer Effekte wie in Programmmusik. Haydn versuchte sich dagegen zu sperren, aber der Librettist war zugleich der Geldgeber und konnte sich somit durchsetzen. Authentische Gläubigkeit ist primär eine innere Angelegenheit, sie ist keine Frage von Äußerlichkeit, daher wollte Haydn jegliche Spektakel oder Effekthaschereien vermeiden. Er mochte freilich den Aufbruch in ein Zeitalter absoluter Verweltlichung der Künste geahnt haben.

Freie Gesellschaft, Komponisten und Religiosität

Seit der neuen, liberalen, bürgerlichen Gesellschaft ab dem 19. Jahrhundert war der weiter oben erörterte Freiheitsbegriff wirksam. Man wollte und sollte sein Leben selbst in die Hand nehmen, dazu gehörte die Vollstreckung eigenen Willens. Metaphysische Aspekte oder Hingabe in ein Schicksal oder gar einen Willen von außen – den göttlichen nämlich – erschienen immer weniger verlockend. Man bezog sich ganz auf sich selbst und die Wahrnehmbare Realität. So pendelte man zwischen vernunftgläubiger Realitätserfassung und Realitätsflucht in romantische Empfindungen. Arthur Schopenhauers (1788 – 1860) Philosophie spiegelt den Geisteszustand der verweltlichten, zweckorientierten, andropozentrischen Kultur jener Zeit am klarsten wieder. Religion und Glaube entspringen seiner Ansicht nach der Erkenntnis des Menschen, dass er sterben muss. Religion wäre demnach also Angstkompensation und die Schutzreaktion des menschlichen Überlebensinstinkts.

Kirche und Glaube wurden zudem noch als das Rückrad der rückständigen Adelsgesellschaft angesehen, die man ja durch die Französische Revolution abschaffen wollte. Tatsächlich hatte sich seit dem Humanismus die Politik verstärkt der Religion bedient und versucht, Theologie zu Ideologie umzufunktionieren. Der Dreißigjährige Krieg und der Absolutismus sind hierfür als Beispiele anzuführen.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich der Prozess in Richtung einer rein materialistisch und egozentrisch orientierten Gesellschaft erst allmählich in Bewegung.

Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) krönte neben der 9. Symphonie sein Werk mit der „Missa Solemnis“. Diese Messe war aber nicht für eine Kirche sondern für den Konzertsaal komponiert worden. Für unsere Zeitgenossen, bei denen Religiosität höchstens noch Platz in einer kleinen Nische ihres Lebens besitzt, erscheint dies nicht weiter erwähnenswert. Im Hinblick auf die kulturelle Säkularisation ist es jedoch bemerkenswert. Eine Messvertonung war immer untrennbar mit Kirche, dem Ort und dem Procedere liturgischer Handlungen verbunden gewesen. Es gibt wohl kaum einen eindrucksvolleren Schluss einer Messvertonung als das „Dona nobis pacem“. Dieses Flehen um Frieden berührt und ergreift uns vor allem durch Beethovens subjektiven Beitrag so tief, seine Musik nämlich. Durch sie erwachen in uns jene Empfindungen, die den bedeutenden Worten „Gib uns Deinen Frieden“ angemessen erscheinen und zweifellos zustehen. Hier sieht man aber dennoch das Problematische der Subjektiven Wirkung von Musik. In ihrer Geschichte haben sich eine Menge von Techniken entwickelt, vermittels derer man Gefühle ausdrücken und beim Hörer bewusst provozieren kann (siehe dazu vor allem „Musik und Ideologie“). Was ist zum Beispiel, wenn ein Komponist gar nicht an die Worte glaubt, die er vertont? Wenn wir beispielsweise das „Ave Maria“ der Desdemona im Othello anhören, können wir uns kaum vorstellen, dass Giuseppe Verdi (1813 – 1901) Atheist gewesen war. Das Gleiche bei Richard Wagner (1813 –1883), dessen Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ sich stellenweise oratorial gebärdet und Assoziationen an Messvertonungen hervorrufen möchte. Wagner war Atheist. Für ihn war Religion nichts weiteres als Mythologie, durch die man dem ungebildeten Volk Philosophie erklären soll.

Man kann lediglich über den biographischen Kontext eines Komponisten herausfinden, ob ein Komponist klaubt, was er an geistlichen Inhalten vertont. Der Rückgriff auf den meditativen Sound des Gregorianischen Chorals oder der Messen Palestrinas ist imstande, den Hörer tatsächlich irre zu führen.

Franz Schubert (1797 – 1828) schuf eine beträchtliche Zahl geistlicher Werke. Sein Stabat Mater in g-Moll, DV 175, für Chor, Orgel und Orchester, fährt weder gigantische, euphorisierende Klangmassen zur Manipulation auf, noch bedient es sich solcher Sound-Rückgriffe, wie sie oben genannt wurden. Im Offertorium „Totus in Corde“ C-Dur, DV 138, für Solosopran, Soloklarinette und Orchester, bezieht Schubert volkstümliche Elemente ein, durch die Glaube in positiver Bewertung des Schlichten greifbar und begreifbar werden soll.

Felix Mendelson Bartholdy (1805 – 1847) verdanken wir die erste Wiederaufführung von Bachs Matthäus Passion. Bachs perfekte Verkündigung objektiver Glaubensgrundsätze mit subjektiver Affektschilderung faszinierte ihn aber nicht nur, sie beeinflusste seine Oratorien. Als eine der bemerkenswertesten und bewegendsten Beispiele geistlicher Musik darf diejenige Stelle im „Elias“ gewertet werden, wo Gott am Volk vorüberzieht. Erst ein Sturm, dann ein Erdbeben, dann ein Feuer – aber darin befand sich der Herr nicht. In alttestamentarischen Zeiten eine Absage an Naturreligionen oder Polytheismus. Phänomene der Natur werden als Symbol für destruktive Willkür ohne Präsenz Gottes in der Komposition hörbar und erkennbar. Und dann erklingen Töne voller Zärtlichkeit und Liebe, ein sanftes Säuseln. Darin befindet sich Gott. Das Eindrucksvolle dieser Stelle liegt nicht alleine in ihrer musikalischen Vollendung und Schönheit. Es ist der Erkenntnisgewinn: Gott ist die Liebe, das Liebe, er ist das sich allenthalben Ereignende und nicht Willkür, wie die Gewalt der Naturkräfte.

Eine freiheitliche Gesellschaft bedeutet für Religion Herausforderung und Chance gleichermaßen. Wenn sie Egozentrik mit Individualität verwechselt, wird sie zwangsläufig einen extremen Werteverlust erleiden. Unterläuft ihr dieser Fehler nicht, so bietet sich ihren Individuen die Möglichkeit, sich freiwillig, ohne Zwang Gott zuzuwenden. Hier wird dann authentische, genuine Religiosität entstehen. Glaube und Kirche werden dann nicht karge Vorspeise des sonntäglichen Bratens sein, sie werden in den gesamten Lebensablauf integriert. Jedem produzierenden und reproduzierenden Musiker, für den die Kunst nicht bloß Rohstoff seines Egos ist, wird sich früher oder später Metaphysisches und Transzendentales eröffnen.

Franz Liszt (1811 – 1986), Hector Berlioz (1803 – 1869), Charles Gounod (1818 – 1893) wären hier zu nennen.

Im Werk Anton Bruckners (1824 – 1896) erleben wir dann sogar die geistlich-religiöse Durchdringung jener Gattung, deren Erscheinen, wie keine andere, mit der kulturellen Distanzierung von Glaube und Kirche in Zusammenhang steht. Sie war Repräsentant der aufgeklärten, bürgerlich revolutionären, liberalen Ideen. die Symphonie. Bruckners Gläubigkeit wurde von vielen Zeitgenossen auf seine unbestritten vorhandenen psychischen Probleme zurückgeführt. Dies lag im Trend der damaligen Zeit. Atheisten sahen in Religiosität nichts anderes als Triebkompensation oder Verklemmung. Gewiss, Religion kann dies unter Umständen sein, sie hat jedoch keinesfalls ihre Wurzeln darin. Seine 9.Symphonie widmete Bruckner dem „lieben Gott“. Zur Beendigung des 4. Satzes kam es nicht mehr durch Bruckners Tod. Somit endet dieses eindrucksvolle Werk mit dem Adagio als drittem Satz, an dessen Ende Bruckner sein eigenes Sterben, über den Todeskampf, die Aufgabe bis hin zur Verklärung visualisiert. Ohne den unerschütterlichen Glauben an die Erlösungsbotschaft Christi wären die Klänge, die wir hier vernehmen können , niemals entstanden. Das Klangmaterial ist gerade in diesem Satz derart progressiv, dass die Behauptung, Religiosität hätte mit Rückständigkeit zu tun, gründlich widerlegt wird.

Die Symphonien Bruckners sind aber nicht die einzigen mit geistlich religiöser Durchdringung. Auch Gustav Mahlers(1860 – 1911) Zweite, die „Auferstehungssymphonie“ oder Dritte sind dies beispielsweise. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert waren Schopenhauers und Nietzsches Gedanken von großem Einfluss auf die Gebildeten Europas. Viele Künstler traten aus der Kirche aus, so etwa Richard Strauss auch. Dennoch waren Mahlers Symphonien die fortschrittlichsten seiner Zeit und es spiegelte sich in ihnen das Gesamte jener Epche. Die Religiosität war bei Maler durchaus keine Flucht ins Sentimentale oder bloß Tröstliche gewesen.

Die Reihe religiöser Komponisten lässt sich über Krzysztof Penderecki (1933), Arvo Pärt (1939) einschließlich Sophia Gubajdulina (1931) bis in unsere Tage fortsetzen.

Das sich Ereignende

Vielleicht ist dem aufmerksamen Leser dieses Artikels bereits aufgefallen, dass ein Begriff bisher vermieden worden ist, der aber von Gläubigen und Atheisten überaus häufig strapaziert wird: Spiritualität. Nicht nur, weil diesem Terminus geistige Inflation widerfährt, wurde er umgangen, sondern weil die Meisten ihn vor allem als Äußerung einer subjektiven Empfindung gebrauchen. Durch den gewaltigen Schub der westlichen Kultur ins Subjektive seit 1968 wird Spiritualität als rein private Angelegenheit betrachtet. Sie gerät so eher in die Nähe von persönlicher Meinung, ohne Verbindlichkeit, ohne Verpflichtung, weil ohne Bezug zu einem übergeordneten System wie Kirche oder Glaubensgemeinschaft. Das lateinische Wort „religio“ bedeutet übersetzt: Bindung. Nur wenn Spiritualität sich an Transzendentales bindet und sich danach ausrichtet, wird sie ihrem Namen gerecht. Wenn sie sich am Ego ausrichtet, verkommt sie zum seelisch-emotionalen Wellnäss-Programm mit Wohlfühlgarantie. Dazu jubelt dann Synthesizermusik, worin klangliche Errungenschaften mittelalterlicher Kirchenmusik in Kombination mit spätromantischem Adagio-Gestus zum Fetisch einer Scheinmystik verhunzt werden. Spiritualität ist kein Genussmittel. Sie ist ein Sein, sie ist ein sich Ereignendes. Wille hat hier keinen Zugriff, aber Hingabe. Der Weg in Spiritualität kann alles andere als Wohlbefinden hervorrufen, weil es stets um die konsequente, bewusste Wahrnehmung von Realität geht. Wer Spiritualität instrumentalisiert, verwechselt Schein mit Sein, Wirkung mit Ursache, Ei mit Henne. In solchem Irrtum eilt der spirituell sich wähnende Konsument von einem esoterischen Angebot zum anderen. Wie beim Konsum materieller Güter auch, wird er nach kurzer Sättigung alsbald wieder neue Bedürfnisse verspüren. Vor allem in der Reinkarnation sehen westliche Menschen eine Verlockung. Als Angehörige einer individualistischen Kultur hoffen sie (meist unbewusst), durch die permanente Wiedergeburt ihre Individualität perpetuieren zu können. Die Reinkarnationslehre stammt jedoch aus kollektivistisch ausgerichteten Kulturkreisen und versteht unter Reinkarnation nicht die personelle Wiederkunft eines Herrn Schmidt als Frau Maier.

Man kann die Fehlentwicklungen unserer Kultur auf keinen Fall mit Zwang korrigieren. Wir befinden uns in einem Stadium, durch welches das Sein der westlichen Kultur hindurchgehen muss. Ob die ökologischen Devastationen uns Menschen noch die Chance geben werden, das nächste Stadium zu erleben, wird sich erst zeigen. Es wird nötig sein, den Bezug zum gesamten ökologischen Zusammenhang genauso herzustellen wie zu übergeordneter Transzendenz. Die kulturelle, gesellschaftliche Ausrichtung auf das Individuum lässt die Hoffnung auf Änderung oder Besserung jedoch schwinden.

Philosophie und Musik nehmen sich des Seienden an.

Ideologie missbraucht Philosophie, Musik und Religion.

Religion erkennt Hingabe und Wille als Teil sich Ereignenden.

Musik, wie die anderen Künste auch, braucht die Schaffenden. Deren Wirken macht nur Sinn, wenn Publikum vorhanden ist, welchem sie sich mitteilen können und welches sie durch ihre Werke berühren.

Glaube und Religion bedarf der Glaubenslehre und zugleich der Gemeinschaft, welche den Glauben und die Gotteserkenntnis lebt.

Gott schuf den Menschen, damit er ihn erkenne und nach seinem Tode schaue. Der Mensch schuf Musik und konnte Gott darin zeigen, dass und wie er ihn erkannte – und dies mit Gottes eigener Stimme. – vorausgesetzt das Ego war nur Instrument und nicht das Ziel!