Mittwoch, 7. Mai 2008

Musik und Religion

Musik und Religion

Kunst im Spannungsfeld zwischen Ego und Erkenntnis bzw. Eigenliebe und Liebe

Wille blockiert Erkenntnis

In den beiden letzten Vorträgen wurde das Verhältnis von Musik zur Philosophie und zu Ideologie betrachtet. Die Schnittmengen zwischen Musik und Philosophie haben sich dabei als beachtlich herausgestellt, nicht nur was die Erscheinungsformen betrifft sondern vor allem den inneren Wesenszusammenhang. Aus diesem Grunde sah Boethius die Musik als Instrument der Philosophie. Musik und Philosophie nehmen sich des Seienden an. Weil aber Musik zum Konsumartikel verkommen ist, bleibt dies den Meisten verborgen, sie sehen die tönende Kunst als bloßen Ausdruck von Gefühlen eines Individuums, durch die sie angeregt werden möchten.

Beim Verhältnis von Musik und Ideologie wurde offenbar, wie leicht man mit Musik die Empfindungen einer Zuhörerschaft manipulieren kann. Die tönende Kunst greift unmittelbar auf den unbewussten, trieb- und instinkthaften Persönlichkeitsteil zu, ihre Wirkung ist damit der verstandesmäßigen Kontrolle durch die Rezepienten entzogen. Dies trifft gleichermaßen für zustimmende wie ablehnende Reaktionen zu. Hierzu passt Schopenhauers Aussage, es sei zwar möglich, zu tun was man wolle, es sei jedoch unmöglich zu wollen, was man will.

Ideologen und Ideologien machen sich diese Ohnmacht mit Hilfe der Musik als Mittel für ihre Propaganda zunutze. Philosophen, produzierende wie reproduzierende Künstler und Theologen können freilich absichtlich oder unabsichtlich zu Ideologen werden.

Die menschliche Existenz befindet sich im Spannungsfeld zweier fundamentaler Prinzipien: Hingabe und Wille. Beide stehen in dialektischem Zusammenhang, wie Antagonator und Protagonator.

Hingabe ist wie der Kelch: er kann empfangen und geben. Wille ist die zwingende Faust, deren Griff jeglichen Raum, jegliche Atemluft verdrängt.

Zur Hingabe gehören das Sein, das Loslassen, das Entfalten, die Bereitschaft, das Schwingen, das Freiwerden, der Glaube, das Erkennen. Zum Wille gehören Kontrolle, Zwang, Macht, Manipulation, Werben, Interpretieren, Konstruieren, Gefangennahme, Ego, Unfreiheit. Wille macht alle Beteiligten unfrei, sowohl Jene, die ihm unterworfen werden sollen als auch Jene, die ihn auszuüben trachten. Viel ist über die Freiheit bzw. Unfreiheit des menschlichen Willens nachgedacht oder geschrieben worden. Unabhängig von den verschiedenen Standpunkten bleibt eines jedoch klar: Wille als solcher bedeutet Unfreiheit. Bei Baruch Spinoza (1632 – 1677) erhalten wir in seinen Ausführungen über die Unfreiheit des Menschen durch seine Affekte wichtige Denkanstöße zu dieser Problematik. Vor allem die fernöstlichen Philosophien weisen zu recht darauf hin, wie notwendig es ist, den Willen auszuschalten. Wille blockiert Erkenntnis. Stets auf seine Vollstreckung konzentriert dirigiert er den geistigen Blick immer genau auf dieses Ziel. So wird immer nur Bestätigung verfolgt, es wird nur erkannt, wie etwas sein soll, aber nicht, wie etwas wirklich ist.

Ein Beispiel zum Verständnis: Francis Bacon (1561 – 1626) kritisierte in seinem Werk „Organon“ Philosophen und Wissenschaftler vorangegangener Epochen. Er warf ihnen vor, bestehende Ansichten, Annahmen oder Spekulationen immer wieder nur mit dem Willen zur Bestätigung untersucht zu haben. Er postulierte, die eigene, persönliche Erfahrung zum Ausgangspunkt von Versuchen zu machen, weil nur über diese erkannt werden kann, ob etwas denn wirklich so ist, wie allgemein angenommen. Damit war freilich keine endgültige Lösung zum Erwerb von wirklicher Erkenntnis gefunden worden. Das Prinzip der Hingabe, als Kelch, der empfangen kann, und des Willens als Faust, die etwas zwingt, besitzt Gültigkeit im Kollektiv, im Individuum und im Verhältnis von Kollektiv und Individuum. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen beiden, welche dialektischen Gesetzmäßigkeiten folgt. Das Kollektiv, z. B. ein Staat oder eine Glaubensgemeinschaft, kann Individuen in den Dienst ihrer Willensvollstreckung zwingen. Nichts, was verordnete Ideen anzuzweifeln wagt, ist gestattet. Umgekehrt kann ein Individuum das Kollektiv dem Dienst seiner Willensvollstreckung unterwerfen, man denke dabei an Tyrannen, z. B. Hitler oder Stalin.

Wille im Freiheitsbegriff

In der Westlichen Kultur spielt Wille eine zentrale Rolle, weil er darin mit dem individuellen Freiheitsbegriff verschmolzen ist. Diese Verschmelzung begann im Humanismus, aber bis zum Ende der Adelsgesellschaft durch die Französische Revolution existierte der westliche Freiheitsbegriff als Vision. Bis dahin war kulturell/gesellschaftlich nur die Willensvollstreckung weniger Monaden, der Herrscher in ihren jeweiligen Hoheitsgebieten relevant. Entsprechend gering wirkte sich der westliche Freiheitsbegriff aus. Ab dem 19. Jahrhundert wurde die Vision einer Gesellschaft vorherrschend, die es jedem Individuum gewährte, nun selbst Monade zu sein, gleichwohl auf den persönlichen Lebensbereich begrenzt. Die Möglichkeit individueller Willensvollstreckung war von jetzt an kollektiv im Angebot, sie wurde Inbegriff von Freiheit. Frei sein bedeutete jetzt, man kann tun, was man will und hat das Recht dazu. Wie weit der gesellschaftliche Status oder die pekunäre Situation des Einzelnen dies tatsächlich zuließ, mochte aber dahin gestellt sein. Individueller Wille musste zwangsläufig immer mehr in Konflikt mit übergeordneten Systemen geraten, beispielsweise Glauben, Lehren oder verbindliche Werte allgemein. Sie wurden mehr und mehr als Beschneidung des eigenen Willens somit der Freiheit erlebt und unpopulärer. Die Individualisierung von Kultur und Gesellschaft nahm ihren Lauf, das Subjekt, jetzt kulturell/gesellschaftlich relevant geworden, nahm die Subjektivität immer mehr Raum ein bis hin zu ihrem totalen Sieg in der zwangsläufig heraufbeschworenen Achtundsechzigerrevolte. Der Faschismus mit dem 2. Weltkrieg als Folge hatte einen Kulturschock bewirkt. Eine verantwortungsvolle, historische Aufarbeitung war ausgeblieben, statt dessen wurde mit Hilfe von Arbeitswut und – in Deutschland noch dazu - Wirtschaftswundereuphorie kräftig und erfolgreich verdrängt. Der Kriegsgefahr, die in der nationalstaatlichen Idee zu schlummern schien, glaubte man, durch internationale Verflechtung des Kapitals begegnen zu können. Dieser rein materialistische „Kurierungsversuch“ hatte negative Folgen. Die Individuen waren auf sich selbst zurückgeworfen, sie fanden verständlicherweise Grund genug, an allgemeingültigen Werte- oder Denksystemen ernsthaft zu zweifeln. Diese hatten sich einerseits als wirkungslos oder verlogen erwiesen, andererseits hatten ihre Erscheinungsformen in linken bzw. rechten Diktaturen die Welt entstellt. Entsetzen führte zum Aufbegehren, Aufbegehren wurde alsbald zum Begehren herabgestutzt. Der Lebensstandard war im Westen Europas enorm gestiegen, die geschickten Marktstrategen nützten dies gründlich aus. Was zunächst Ausdruck des Protestes war, z. B. zerrissene Jeans, avancierte schon bald zum allgemein akzeptierten Konsumgut mit besonders hohem gesellschaftskritischen Preisaufschlag. Die Protestattribute, nunmehr unentbehrliche Bestandteile der Warenproduktion, wurden zu Fetischen einer progressiven Lebenseinstellung, denen sogar Reaktionäre verfielen.

Narzisstische Monaden

Die Produktionsverhältnisse kamen der Willenskonzentration im Freiheitsbegriff allenthalben entgegen. Wille wurzelt zu einem wesentlichen Teil im Trieb- oder Instinkthaften, er ist nur schwer von der Vernunft zu kontrollieren. Wille begehrt. Begehren wird nur durch Erfüllung gestillt. Erfüllung vollzieht sich nur im Bekommenhaben. Haben wird unbewusst zum transzendentalen Bezugspunkt. Ich habe, also bin ich, folglich wird sich Jeder selbst zum Nächsten. Egos freilich konkurrieren miteinander, es sei denn, das des Einen nützt demjenigen des Anderen. In der unfreien, engen Welt seines ausschließlichen Wollens, Bedürfens, Begehrens und Habenmüssens wird das subjektive Individuum zur Monade. Deren Fürstentum liegt dabei nur innerhalb des Egos, das aber stets narzisstische Projektionen als argwöhnische Späher aussendet. Deren „Beobachtungen“ lassen der Monade die Welt in einem binären System erscheinen. Sie selbst ist natürlich stets im Besitz bester Absichten, Schaden kann folglich gar nicht angerichtet werden. Misserfolge, Frustrationen oder Konflikte werden nur als Resultate des bösen Willens Anderer erlebt. Erfolge aber, Verdienste erscheinen ihr ausschließlich als eigene Leistung.

Was die narzisstische Monade für Liebe hält, ist nichts anderes als die Projektion von Bedürfnissen. Es besteht bei ihr nur die Fähigkeit zur Eigenliebe.

In Erasmus Desiderius (1466 – 1536) „Laus Stultitiae“ tritt die Dummheit als allegorische Figur auf, um eine Lobrede auf sich selbst zu halten. Sie bringt zur fiktiven Festivität, anlässlich derer sie ihr eigenes Lobpreis verkündet, eine nahestehende Verwandte mit: die Eigenliebe. Und so, wie das fatale Wesen der Dummheit darin besteht, dass man sie bei sich nicht bemerkt sondern immer nur bei Anderen, gilt Ähnliches für die Eigenliebe. Sie verbirgt dem Projizierenden seine Projektion und gaukelt ihm statt eines „Wollens“ ein „Sein“ vor. Eigenliebe ist eigentlich gar keine Liebe. Liebe bedarf einer Bezugsfähigkeit nach außen und sie bedarf der Hingabe.

Beziehungsfähigkeit sinkt allerdings in einer Gesellschaft totaler Subjektivität.

Rückfall

Viele Zeitgenossen fragen oder wenden ein, was nun an der totalen Subjektivität so verkehrt sei, wo doch jegliche Wahrnehmung grundsätzlich subjektiv ist. Solch eine Fragestellung liefert die Antwort bereits selbst, indem sie verrät, dass über die Diskrepanz von Wahrnehmung und Realität beim Fragestellenden gar kein Bewusstsein besteht.

Wenn in einer Gesellschaft die Totalität des Subjektiven herrscht, fällt sie in ein vorkulturelles Stadium zurück. Trotz zivilisatorischen und technologischen Fortschritts gleicht das Individuum dann seinem Vorfahren im Frühstadium der Menschheitsentwicklung. Stets auf die Vollstreckung eigenen Willens und die Befriedigung eigener Bedürfnisse konzentriert, ist Bindungsfähigkeit kaum vorhanden. Primär kommt es zu Subjekt-Objekt-Bindungen , wobei das Objekt selbstverständlich auch eine Person sein kann. In solch reduzierter Bindungsfähigkeit wird das Individuum für Fetischismus und Kult anfällig. Im Bereich der Sexualität fällt dies stark auf, wird hier jedoch als „Freiheit“ oder „Offenheit“ verkauft. Den Produktionsverhältnissen kommen Neigung zu Kult und Fetisch im Sinne erfolgreichen Absatzes durchaus entgegen. Sie verleihen ihren Waren Fetischcharakter und durchsetzen die Welt der Kunstmusik mit Kultfiguren. Fetisch und Kultpersonen sind narzisstische Projektionsflächen. Über sie kann kein Zugang zu einem transzendentalen Kontext gefunden werden, um den es sowohl in Religion als auch in Künsten geht. Wenn der Interpret sich beim Musizieren in den Vordergrund drängt, schadet er dem Werk. So, als ob ein Maler sich vor sein Gemälde stellt und einem Betrachter den Blick darauf versperrt.

Kultur ist das Spannungsfeld zwischen Geist und Gesellschaft. Dazu muss nicht nur Beziehungsfähigkeit der Individuen untereinander vorhanden sein, sondern darüber hinaus zu etwas Übergeordnetem, sei es nun akzeptiert, erkannt oder erahnt. Nicht Subjekt-Objekt-Bindung, nicht Subjekt-Subjekt-Bindung, sondern Subjekt-Objektivitätsbezug lässt Kultur entstehen. Kultur impliziert Transzendenz.

Erhebung der Künste im Monotheismus

Der Monotheismus des Judentums hatte Gott personell, vor allem aber als essenziell, als übergeordnetes Wesen erkannt. Deshalb trägt Gott keinen Eigennamen wie eine Person, er wird das geheißen was er ist: Gott. Person, Wesen und Namen sind eine Einheit. Das war beispiellos in der Entwicklung der Menschheitsgeschichte. Religiöse Verehrung hat erst mit dem Monotheismus ihr Verharren im Trieb, im Instinkt und in der primitiv sozialen Subjektivität der Vorzeit beenden können, weil nun Fähigkeit zu Transzendenz erworben war. Mit diesem Entwicklungsschritt waren die Künste nicht mehr länger Ritual. Sie waren jetzt über das bewunderungswürdige Vermögen ihrer Schaffenden und über absolute ästhetische Glanzleistungen hinaus erhoben. Die Psalmentexte belegen dies auf eindrucksvolle Weise. Leider ist uns die dazugehörige Musik nicht überliefert.

Der Gregorianische Choral ist das früheste Beispiel für Abendländische Kunstmusik. Seine Majestät rührt nicht von Prunk, Aufwendigkeit oder von Sentimentalität her. Bei ihm beeindruckt, wie mehrere Sänger ohne Instrumentenbegleitung hingebungsvoll in Einstimmigkeit miteinander verschmelzen. Dem Klang der Wörter und ihrer Bedeutung entspricht die Intervallkombination, die Melodienbildung. Der Rhythmus ist nicht Manifestation von Ausdrucks – oder Gestaltungswillen, er ereignet sich aus den Wortsilben heraus. Reduktion auf Essenzielles und wenig Raum zur Manipulation der Rezepienten ist hier geboten. Sammlung, Kontemplation und das Eine: vollkommene Verschmelzung, stehen ganz und gar im Mittelpunkt.

Über die mehrstimmige Motetten- und Messkomposition als authentische Glaubensverkündigung erobert die Kunstmusik ihre süperben Errungenschaften polyphoner Satztechnik. Alle beteiligten Stimmen sind gleichberechtigt, besitzen gleichermaßen Anteil am motivischen Material, zeichnen sich durch ideale, ästhetische Linienführung aus und ergeben im Verbund stets nur Wohlklang. Die Notre Dame-Messe eines Guillaume de Macheaut (ca. 1300 – 1377) oder die Werke Palestrinas (1525 – 1594) zeugen bei aller Verschiedenheit ihrer zeitgenössischen Klangideale davon.

Das Persönliche und die Künste

In den Künsten der Renaissance, die der Humanismus hervorgebracht hatte, begann das „Menschliche“ seine Spuren deutlicher als zuvor abzuzeichnen. Damit fing die Säkularisation der Abendländischen Kultur an, zunächst zögernd, dann mit zunehmender Beschleunigung. Die persönliche Erfahrung war nicht nur Bezugspunkt für die Experimente der Naturwissenschaften, sondern auch für die musikalische Aussage. Ein Befreiungsakt, der die ehernen Ketten polyphoner Gesetze sprengte und Musik von einer lyrisch-deskriptiven zur persönlich-dramatischen Kunst wandelte. Jetzt wurden die menschlichen Affekte vor allem in der neuen Gattung „Oper“ Gegenstand der Aussage, es wurden ganz neue Kompositionsmittel wie Dissonanz, vorgeschriebene Instrumentierung, das Streichertremolo etc. eingeführt. Ab 1600 kam es zum ersten mal auch zu pompösen Monumentalstilen. Ein Ausdruck höchster ritueller Verehrung des Absolutistischen Herrschers als gottgewollt/gottgleich. Diese Errungenschaften kamen auch der geistlichen Musik zugute. Nun hielt teilweise auch hier der Glanz schmetternder Trompeten und impulsgebender Pauken Einzug. Claudio Monteverdi (1567 – 1643) hatte die Fürstenfanfare der Gonzagas zu Mantua als Toccata an den Anfang seiner Oper L’Orfeo (1607 ) gestellt. Diese hat er dann in die Doxologie am Anfang seiner „Vespera della beata Vergine“ von 1610 selbstbewusst eingearbeitet. Im Concerto „Duo Seraphin“ des gleichen Werkes kommen Gesangstechniken der Oper zur Anwendung, z. B. „Concitato-Rhythmen“ (concitato bedeutet erregt). Darunter versteht man die Aneinanderreihung punktierter Achtel, gefolgt von einem Sechzehntel, bei raschem Tempo. Aber auch repetierende Sechzehntelnoten auf einem Ton, die in der Oper das Beben einer erregten Stimme darstellten, setzt Monteverdi in diesem Concerto ein. Mit der Zunahme des „Menschlichen“ in der Musik werden auch Impuls und Wille des Menschen deutlicher vernehmbar. Motorik taucht jetzt erstmals als fundamentales Stilelement auf. Das Oratorium, sozusagen die geistliche Oper, war als neue Gattung im 17. Jahrhundert entstanden. Glaube ist eine Angelegenheit von Verstand und Empfindungen (Affekten) zugleich, insofern haben die Errungenschaften neuzeitlicher Musik einen wertvollen Beitrag für die Glaubensverkündigung geleistet. Nehmen wir zum Beispiel das Kyrie von Bachs (1685 – 1750) Hoher Messe in h-Moll. Dieses ist von der alttestamentarischen Erkenntnis Gottes als überwältigend, mächtig, furchteinflößend, überragend geprägt, mit Pathos und flehendem Tonfall . Doch dann das Christe eleison! Der menschgewordene Gott, der sich opfernde, liebende verzeihende Gott, der uns erlöst, welch eine Wandlung im Tonfall. Das Tempo bewegter, das Tongeschlecht ist nun Dur, wir vernehmen verlangende Seufzermotive, die für den Empfindsamen Stil so typisch sind, die gehenden, ermunternden, treibenden Bassachtel. Selbst Atheisten können hier hören, was sie ja eigentlich nicht glauben. Die Reduktion der Mittel in Bachs gesamtem Werk, die im Einzelnen aufzuzählen hier den Rahmen bei weitem sprengen würden, beweist dabei die aufrichtige Gläubigkeit des Thomaskantors, dessen Anliegen nicht Missionierung sondern Zeugnis war. Im Alten Testament wird ein liebender Gott erkannt, der sich selber aber auch einen eifersüchtigen Gott nennt. Die Botschaft Christi offenbart uns den Schöpfergott, den Vater als die Liebe selbst. Er beweist sie und sich in seiner Menschwerdung und seinem Opfer am Kreuz. Die christliche Religion kann als die Religion einer Menschwerdung Gottes – ohne Sünde – und einer Gottwerdung des Menschen – durch die Opferung Gottes und die so erfolgende Erlösung – gesehen werden. Sie musste quasi zwangsläufig zum Humanismus führen.

Religion, Unwissenheit, Haydns Oratorien

Die „Nachfolger“ des Humanismus, der Empirismus und der Rationalismus, räumten der Subjektivität immer größere Bedeutung ein. Die Abkehr von Spekulation und Autoritätsgläubigkeit ließen immer weniger an sich selbst zweifeln, dafür aber umso mehr am Übergeordneten. In der vernunftgläubigen Aufklärung geriet Religiosität bereits in den Geruch von Unwissenheit. Man denke an Voltaire, für den Unwissenheit die Mutter der Religion war. Hier fand jedoch ein schlechter Tausch statt, denn der Glaube an den allmächtigen Gott und an das Mysterium fidei wich dem Glauben an nur einen begrenzten Teil der menschlichen Existenz: die Vernunft. Rousseau dagegen schwang sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Anwalt des Empfindsamen, der Gefühle und der Affekte auf. Sie wiederum haben ihre Wurzeln im Instinkt- und Triebhaften, aus dem sich die Gotteserkenntnis und Gottesverehrung ja im Monotheismus befreit hatte. Entweder an Vernunft oder an Empfindungen zu glauben, heißt immer nur auf ein bestimmtes Pferd zu setzen, von dem man nicht weiß, ob es gehorchen wird, in welche Richtung es laufen wird, oder ob es ans Ziel gelangt. Gotteserkenntnis und Glaube bedürfen geistigen Abstraktionsvermögens. Dies nährt sich sowohl aus rationalen wie aus emotionalen Bestandteilen. Legt man ausschließlich Wert auf Vernunft, so wird Glaube zur Wissenschaft, was ein Widerspruch in sich wäre. Bauen wir ganz auf Empfindungen, so reduzieren sich Glaube und Religion auf Sentimentalität.

Die Komponisten der Wiener Klassik waren erfolgreich bemüht, rationale und empfindsame Anteile in Balance zu halten.

Doch die kulturelle Säkularisierung war schon weit vorangeschritten. Joseph Haydns (1732 – 1809) Oratorien „Die Schöpfung“ und „Die Jahreszeiten“ wurden als Konzerte auf einem weltlichen Podium außerhalb eines kirchenjahreszeitlichen Bezuges uraufgeführt. Der Librettist van Suiten bestand in den Jahreszeiten auf die Einbindung lautmalerischer Effekte wie in Programmmusik. Haydn versuchte sich dagegen zu sperren, aber der Librettist war zugleich der Geldgeber und konnte sich somit durchsetzen. Authentische Gläubigkeit ist primär eine innere Angelegenheit, sie ist keine Frage von Äußerlichkeit, daher wollte Haydn jegliche Spektakel oder Effekthaschereien vermeiden. Er mochte freilich den Aufbruch in ein Zeitalter absoluter Verweltlichung der Künste geahnt haben.

Freie Gesellschaft, Komponisten und Religiosität

Seit der neuen, liberalen, bürgerlichen Gesellschaft ab dem 19. Jahrhundert war der weiter oben erörterte Freiheitsbegriff wirksam. Man wollte und sollte sein Leben selbst in die Hand nehmen, dazu gehörte die Vollstreckung eigenen Willens. Metaphysische Aspekte oder Hingabe in ein Schicksal oder gar einen Willen von außen – den göttlichen nämlich – erschienen immer weniger verlockend. Man bezog sich ganz auf sich selbst und die Wahrnehmbare Realität. So pendelte man zwischen vernunftgläubiger Realitätserfassung und Realitätsflucht in romantische Empfindungen. Arthur Schopenhauers (1788 – 1860) Philosophie spiegelt den Geisteszustand der verweltlichten, zweckorientierten, andropozentrischen Kultur jener Zeit am klarsten wieder. Religion und Glaube entspringen seiner Ansicht nach der Erkenntnis des Menschen, dass er sterben muss. Religion wäre demnach also Angstkompensation und die Schutzreaktion des menschlichen Überlebensinstinkts.

Kirche und Glaube wurden zudem noch als das Rückrad der rückständigen Adelsgesellschaft angesehen, die man ja durch die Französische Revolution abschaffen wollte. Tatsächlich hatte sich seit dem Humanismus die Politik verstärkt der Religion bedient und versucht, Theologie zu Ideologie umzufunktionieren. Der Dreißigjährige Krieg und der Absolutismus sind hierfür als Beispiele anzuführen.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich der Prozess in Richtung einer rein materialistisch und egozentrisch orientierten Gesellschaft erst allmählich in Bewegung.

Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) krönte neben der 9. Symphonie sein Werk mit der „Missa Solemnis“. Diese Messe war aber nicht für eine Kirche sondern für den Konzertsaal komponiert worden. Für unsere Zeitgenossen, bei denen Religiosität höchstens noch Platz in einer kleinen Nische ihres Lebens besitzt, erscheint dies nicht weiter erwähnenswert. Im Hinblick auf die kulturelle Säkularisation ist es jedoch bemerkenswert. Eine Messvertonung war immer untrennbar mit Kirche, dem Ort und dem Procedere liturgischer Handlungen verbunden gewesen. Es gibt wohl kaum einen eindrucksvolleren Schluss einer Messvertonung als das „Dona nobis pacem“. Dieses Flehen um Frieden berührt und ergreift uns vor allem durch Beethovens subjektiven Beitrag so tief, seine Musik nämlich. Durch sie erwachen in uns jene Empfindungen, die den bedeutenden Worten „Gib uns Deinen Frieden“ angemessen erscheinen und zweifellos zustehen. Hier sieht man aber dennoch das Problematische der Subjektiven Wirkung von Musik. In ihrer Geschichte haben sich eine Menge von Techniken entwickelt, vermittels derer man Gefühle ausdrücken und beim Hörer bewusst provozieren kann (siehe dazu vor allem „Musik und Ideologie“). Was ist zum Beispiel, wenn ein Komponist gar nicht an die Worte glaubt, die er vertont? Wenn wir beispielsweise das „Ave Maria“ der Desdemona im Othello anhören, können wir uns kaum vorstellen, dass Giuseppe Verdi (1813 – 1901) Atheist gewesen war. Das Gleiche bei Richard Wagner (1813 –1883), dessen Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ sich stellenweise oratorial gebärdet und Assoziationen an Messvertonungen hervorrufen möchte. Wagner war Atheist. Für ihn war Religion nichts weiteres als Mythologie, durch die man dem ungebildeten Volk Philosophie erklären soll.

Man kann lediglich über den biographischen Kontext eines Komponisten herausfinden, ob ein Komponist klaubt, was er an geistlichen Inhalten vertont. Der Rückgriff auf den meditativen Sound des Gregorianischen Chorals oder der Messen Palestrinas ist imstande, den Hörer tatsächlich irre zu führen.

Franz Schubert (1797 – 1828) schuf eine beträchtliche Zahl geistlicher Werke. Sein Stabat Mater in g-Moll, DV 175, für Chor, Orgel und Orchester, fährt weder gigantische, euphorisierende Klangmassen zur Manipulation auf, noch bedient es sich solcher Sound-Rückgriffe, wie sie oben genannt wurden. Im Offertorium „Totus in Corde“ C-Dur, DV 138, für Solosopran, Soloklarinette und Orchester, bezieht Schubert volkstümliche Elemente ein, durch die Glaube in positiver Bewertung des Schlichten greifbar und begreifbar werden soll.

Felix Mendelson Bartholdy (1805 – 1847) verdanken wir die erste Wiederaufführung von Bachs Matthäus Passion. Bachs perfekte Verkündigung objektiver Glaubensgrundsätze mit subjektiver Affektschilderung faszinierte ihn aber nicht nur, sie beeinflusste seine Oratorien. Als eine der bemerkenswertesten und bewegendsten Beispiele geistlicher Musik darf diejenige Stelle im „Elias“ gewertet werden, wo Gott am Volk vorüberzieht. Erst ein Sturm, dann ein Erdbeben, dann ein Feuer – aber darin befand sich der Herr nicht. In alttestamentarischen Zeiten eine Absage an Naturreligionen oder Polytheismus. Phänomene der Natur werden als Symbol für destruktive Willkür ohne Präsenz Gottes in der Komposition hörbar und erkennbar. Und dann erklingen Töne voller Zärtlichkeit und Liebe, ein sanftes Säuseln. Darin befindet sich Gott. Das Eindrucksvolle dieser Stelle liegt nicht alleine in ihrer musikalischen Vollendung und Schönheit. Es ist der Erkenntnisgewinn: Gott ist die Liebe, das Liebe, er ist das sich allenthalben Ereignende und nicht Willkür, wie die Gewalt der Naturkräfte.

Eine freiheitliche Gesellschaft bedeutet für Religion Herausforderung und Chance gleichermaßen. Wenn sie Egozentrik mit Individualität verwechselt, wird sie zwangsläufig einen extremen Werteverlust erleiden. Unterläuft ihr dieser Fehler nicht, so bietet sich ihren Individuen die Möglichkeit, sich freiwillig, ohne Zwang Gott zuzuwenden. Hier wird dann authentische, genuine Religiosität entstehen. Glaube und Kirche werden dann nicht karge Vorspeise des sonntäglichen Bratens sein, sie werden in den gesamten Lebensablauf integriert. Jedem produzierenden und reproduzierenden Musiker, für den die Kunst nicht bloß Rohstoff seines Egos ist, wird sich früher oder später Metaphysisches und Transzendentales eröffnen.

Franz Liszt (1811 – 1986), Hector Berlioz (1803 – 1869), Charles Gounod (1818 – 1893) wären hier zu nennen.

Im Werk Anton Bruckners (1824 – 1896) erleben wir dann sogar die geistlich-religiöse Durchdringung jener Gattung, deren Erscheinen, wie keine andere, mit der kulturellen Distanzierung von Glaube und Kirche in Zusammenhang steht. Sie war Repräsentant der aufgeklärten, bürgerlich revolutionären, liberalen Ideen. die Symphonie. Bruckners Gläubigkeit wurde von vielen Zeitgenossen auf seine unbestritten vorhandenen psychischen Probleme zurückgeführt. Dies lag im Trend der damaligen Zeit. Atheisten sahen in Religiosität nichts anderes als Triebkompensation oder Verklemmung. Gewiss, Religion kann dies unter Umständen sein, sie hat jedoch keinesfalls ihre Wurzeln darin. Seine 9.Symphonie widmete Bruckner dem „lieben Gott“. Zur Beendigung des 4. Satzes kam es nicht mehr durch Bruckners Tod. Somit endet dieses eindrucksvolle Werk mit dem Adagio als drittem Satz, an dessen Ende Bruckner sein eigenes Sterben, über den Todeskampf, die Aufgabe bis hin zur Verklärung visualisiert. Ohne den unerschütterlichen Glauben an die Erlösungsbotschaft Christi wären die Klänge, die wir hier vernehmen können , niemals entstanden. Das Klangmaterial ist gerade in diesem Satz derart progressiv, dass die Behauptung, Religiosität hätte mit Rückständigkeit zu tun, gründlich widerlegt wird.

Die Symphonien Bruckners sind aber nicht die einzigen mit geistlich religiöser Durchdringung. Auch Gustav Mahlers(1860 – 1911) Zweite, die „Auferstehungssymphonie“ oder Dritte sind dies beispielsweise. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert waren Schopenhauers und Nietzsches Gedanken von großem Einfluss auf die Gebildeten Europas. Viele Künstler traten aus der Kirche aus, so etwa Richard Strauss auch. Dennoch waren Mahlers Symphonien die fortschrittlichsten seiner Zeit und es spiegelte sich in ihnen das Gesamte jener Epche. Die Religiosität war bei Maler durchaus keine Flucht ins Sentimentale oder bloß Tröstliche gewesen.

Die Reihe religiöser Komponisten lässt sich über Krzysztof Penderecki (1933), Arvo Pärt (1939) einschließlich Sophia Gubajdulina (1931) bis in unsere Tage fortsetzen.

Das sich Ereignende

Vielleicht ist dem aufmerksamen Leser dieses Artikels bereits aufgefallen, dass ein Begriff bisher vermieden worden ist, der aber von Gläubigen und Atheisten überaus häufig strapaziert wird: Spiritualität. Nicht nur, weil diesem Terminus geistige Inflation widerfährt, wurde er umgangen, sondern weil die Meisten ihn vor allem als Äußerung einer subjektiven Empfindung gebrauchen. Durch den gewaltigen Schub der westlichen Kultur ins Subjektive seit 1968 wird Spiritualität als rein private Angelegenheit betrachtet. Sie gerät so eher in die Nähe von persönlicher Meinung, ohne Verbindlichkeit, ohne Verpflichtung, weil ohne Bezug zu einem übergeordneten System wie Kirche oder Glaubensgemeinschaft. Das lateinische Wort „religio“ bedeutet übersetzt: Bindung. Nur wenn Spiritualität sich an Transzendentales bindet und sich danach ausrichtet, wird sie ihrem Namen gerecht. Wenn sie sich am Ego ausrichtet, verkommt sie zum seelisch-emotionalen Wellnäss-Programm mit Wohlfühlgarantie. Dazu jubelt dann Synthesizermusik, worin klangliche Errungenschaften mittelalterlicher Kirchenmusik in Kombination mit spätromantischem Adagio-Gestus zum Fetisch einer Scheinmystik verhunzt werden. Spiritualität ist kein Genussmittel. Sie ist ein Sein, sie ist ein sich Ereignendes. Wille hat hier keinen Zugriff, aber Hingabe. Der Weg in Spiritualität kann alles andere als Wohlbefinden hervorrufen, weil es stets um die konsequente, bewusste Wahrnehmung von Realität geht. Wer Spiritualität instrumentalisiert, verwechselt Schein mit Sein, Wirkung mit Ursache, Ei mit Henne. In solchem Irrtum eilt der spirituell sich wähnende Konsument von einem esoterischen Angebot zum anderen. Wie beim Konsum materieller Güter auch, wird er nach kurzer Sättigung alsbald wieder neue Bedürfnisse verspüren. Vor allem in der Reinkarnation sehen westliche Menschen eine Verlockung. Als Angehörige einer individualistischen Kultur hoffen sie (meist unbewusst), durch die permanente Wiedergeburt ihre Individualität perpetuieren zu können. Die Reinkarnationslehre stammt jedoch aus kollektivistisch ausgerichteten Kulturkreisen und versteht unter Reinkarnation nicht die personelle Wiederkunft eines Herrn Schmidt als Frau Maier.

Man kann die Fehlentwicklungen unserer Kultur auf keinen Fall mit Zwang korrigieren. Wir befinden uns in einem Stadium, durch welches das Sein der westlichen Kultur hindurchgehen muss. Ob die ökologischen Devastationen uns Menschen noch die Chance geben werden, das nächste Stadium zu erleben, wird sich erst zeigen. Es wird nötig sein, den Bezug zum gesamten ökologischen Zusammenhang genauso herzustellen wie zu übergeordneter Transzendenz. Die kulturelle, gesellschaftliche Ausrichtung auf das Individuum lässt die Hoffnung auf Änderung oder Besserung jedoch schwinden.

Philosophie und Musik nehmen sich des Seienden an.

Ideologie missbraucht Philosophie, Musik und Religion.

Religion erkennt Hingabe und Wille als Teil sich Ereignenden.

Musik, wie die anderen Künste auch, braucht die Schaffenden. Deren Wirken macht nur Sinn, wenn Publikum vorhanden ist, welchem sie sich mitteilen können und welches sie durch ihre Werke berühren.

Glaube und Religion bedarf der Glaubenslehre und zugleich der Gemeinschaft, welche den Glauben und die Gotteserkenntnis lebt.

Gott schuf den Menschen, damit er ihn erkenne und nach seinem Tode schaue. Der Mensch schuf Musik und konnte Gott darin zeigen, dass und wie er ihn erkannte – und dies mit Gottes eigener Stimme. – vorausgesetzt das Ego war nur Instrument und nicht das Ziel!

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