Montag, 1. Juni 2009

"Neues Denken in alten Versen" - Die symphonischen Dichtungen von Franz Liszt

1. Prometheus – ein Schöpfer

Als Alles auf der Erde geschaffen worden war und seinen Platz darin gefunden hatte, fehlte noch ein Geschöpf, welches die Welt mit seinem Geiste zu beherrschen vermochte.
Da betrat Prometheus, Angehöriger eines Titanengeschlechtes, das einst von Zeus entmachtet und in den Tartaros verbannt worden war, die Erde. Von seinem Vater hatte er Klugheit und Wissen geerbt. Daher war ihm bekannt, dass in der Erde göttlicher Samen schlummerte. Er nahm Ton und formte daraus Geschöpfe nach den Ebenbildern der Götter. Er schloss gute wie schlechte Eigenschaften darin ein, die er dem Tierreich entlieh. Pallas Athene war von den Geschöpfen des Prometheus beeindruckt und hauchte ihnen daher den Geist ein. So entstanden die Menschen, die alsbald die Erde zahlreich bevölkerten. Prometheus bemerkte, dass seine Geschöpfe ohne sinnliche Wahrnehmung, ohne die Fähigkeit zu begreifen oder mit ihren Händen zu erschaffen durch die Welt taumelten. So unterwies er sie im Gebrauch aller ihrer Fähigkeiten, und bald schon beherrschten die Menschen Ackerbau, Bergbau, machten sich die Natur untertan und entfalteten die Schönen Künste: Dichtung, Malerei, Tanz und Musik. Nur das Feuer mussten sie von den Göttern erbitten. Mit der Fähigkeit, Energie zu produzieren und darüber zu verfügen, wären sie selber wie Götter gewesen.
Die Götter boten den Menschen ihren Schutz zum Preis an, dass sie von ihnen Verehrung und Opfer erhielten. Die Menschen erwählten Prometheus zu ihrem Vertreter, dessen Aufgabe insbesondere darin bestand, die Forderungen der Götter maßvoll zu halten. Prometheus versuchte Zeus zu umschmeicheln und ihn auszutricksen. Dieser durchschaute als Allwissender den Menschenvertreter und verweigerte erst recht die Herausgabe des Feuers.
Doch Prometheus erfand eine List: er näherte sich mit einer leicht entflammbaren Fackel dem Sonnenwagen des Helios, sie entzündete sich und Prometheus brachte den Menschen so das Feuer.
Zeus war über die List des Prometheus und den Machtzuwachs der Menschen schäumend vor Wut. Die Prometheusgeschöpfe mussten in ihrer macht begrenzt werden. Hephaistos, den Gott des Feuers und der Schmiedekunst, , ließ er eine unwiderstehliche, rundherum bildschöne Jungfrau schaffen, weshalb sie den Namen Pandora – die allumfassend Beschenkte – genannt wurde. Die arglosen Menschen waren von Pandora beeindruckt und der Bruder des Prometheus, Epimetheus, nahm sie in sein Haus auf. Als Dank erhielt er von ihr eine Büchse zum Geschenk. Als er sie öffnete, entwichen aus ihr alle Krankheiten, befielen die Menschen und brachten ihnen Elend und Tod. Die Hoffnung, die einzig gute Gabe des Büchseninhaltes, wurde am Entweichen gehindert, indem Pandora die Büchse zuschlug und für immer verschloss.
Natürlich ließ Zeus auch Prometheus bestrafen. Seine Knechte fingen ihn und schmiedeten ihn über einem gähnenden, entsetzlichen Abgrund hängend an einen Felsen im Kaukasus. Hier musste er ohne Schlaf, ohne Essen und Trinken ausharren. Jeden Tag kam ein Adler und fraß bei lebendigem Leibe seine Leber. Diese Qualen musste Prometheus über viele Jahrhunderte ertragen, bis er von Herakles befreit wurde.

2. Der Schöpferische – ein Prometheus

Zu allen Zeiten hat der Prometheus-Mythos die Künstler angeregt, weil sie sich als Schaffende in ganz besonderer Weise von ihm betroffen fühlten. Es geht darin schließlich um das Kreative, das Kreieren, um Kreaturen und um Kreationen.
1801 fand die Uraufführung des Balletts „Die Geschöpfe des Prometheus“ von Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) in Wien statt. Beinahe gleichzeitig verfasste Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) seine Legende „Der gefesselte Prometheus“. In beiden Werken erkennen wir, dass sich die Lesart von Mythen mit den kulturellen bzw. gesellschaftlichen Veränderungen stets wandelt.
Zu jener Zeit lösten sich die Künste aus ihrer Bindung an Stand bzw. gesellschaftliche Funktion heraus und emanzipierten sich zum eigenständigen kulturellen Wert. Damit erhielten auch die Künstler einen neuen Status, der sie im Verlauf des 19.Jahrunderts von Dienern des Hofes, der Kirche oder eines Rates zu unabhängigen, selbständig Schaffenden werden ließ.
Für den „neuen“ Künstler war Prometheus von einer bloßen Gleichnisgestalt zur vollkommenen Identifikationsfigur geworden. Er begriff sich bewusst als Mittelpunkt und Vermittler zwischen dem Göttlichen und den Menschen. Diese sah er in den Geschöpfen des Lichtbringers im Mythos repräsentiert.
Aus dem Tartaros erniedrigender Dienstverhältnisse der Adelsgesellschaft befreit, war er ans Licht getreten und sah sich nicht mehr bloß als Medium göttlicher schöpferischer Willensvollstreckung. Vielmehr empfand er sich selbst als einen genuinen, autarken, göttergleich Schaffenden. Seine Bestimmung erkannte er darin, die Sinne und den Geist der Menschen zu belehren und zu beleben. Er wollte ihnen die Flamme der Leidenschaften, das Licht der Erkenntnis, Bildung sowie ethisch/moralische Verfeinerung bringen. Zum Preis der Prometheus-Qualen war er bereit, seiner Verpflichtung wahrhaftig nachzukommen, über dem gähnenden Abgrund einer ungesicherten Existenz an den Fels seiner Bestimmung geschmiedet, schlaflos vor Zukunftssorgen, oft genug hungernd weil brotlos, und stets nach Verständnis und Anerkennung dürstend.
Nicht mehr als ein „homo faber“, Arbeitstier, auch nicht als „viator mundi“, nach mittelalterlicher Sichtweise ein Pilger auf der Wanderschaft durch die Welt, nein, als „faber mundi“, als Arbeiter an einer neuen Welt wollte er sich verstanden wissen.

3. Spiegel der idealen Gesellschaft

Die Vision dieser neuen Welt war das Resultat eines über mehrere Jahrhunderte hindurch gewachsenen christlich-humanistisch – aufgeklärten Wertekodex.
Kaum eine Kunst spiegelt das Werden dieses Wertekodex so deutlich wieder, wie die Musik; und kaum eine künstlerische Erscheinungsform gibt den Abriss der Gesellschaftsform dieser idealisierten Weltordnung klarer wieder, als es die Sonatenhauptsatzform der Wiener Klassik tut. Weil das neue soziale Konzept damals Wille und Wollen aller fortschrittlichen Künstler durchdrungen hatte, findet sich die Sonatenhauptsatzform in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts als innenarchitektonischer Plan auch solcher Gattungen, die nicht explizit als Sonate bezeichnet waren– Solokonzert, Streichquartett oder Serenade beispielsweise.
Die Symphonie der Wiener Klassik, ebenfalls in Sonatenform, versinnbildlicht nicht nur in ihrer formalen Anlage sondern darüber hinaus in ihrer Realisierungsweise eindrucksvoll die damals anvisierte Gesellschaft. Für diese selbst steht der Orchesterapparat, seine zahlreichen Musiker verkörpern deren Individuen. Es gibt zwar eine Hierarchie, aber jede Stimme, jede Instrumentengattung des Ensembles ist nötig und unentbehrlich für das Gesamte. Fehlte nur ein Detail, so könnte der spezifische Klang, durch welchen sich die Symphonie erst konstituiert, nicht produziert werden. Darin manifestiert sich demokratische Gleichberechtigung, unabhängig von der hierarchischen Position. Der Komponist, damals zugleich auch der Dirigent, repräsentiert das Individuelle an sich, nach dem sich die Gesellschaft richtet. Der Formplan, die Sonatenhauptsatzform, ist die vernünftig, verbindlich geregelte Gesellschaftsordnung, worin individuelle Gedankenkonzepte entfaltet, verarbeitet werden oder miteinander wetteifern können.
Den Hörern diente die verbindliche Form als Orientierung, als Wiedererkennungsmöglichkeit und Erkenntnishilfe. Mit der formalen Verbindlichkeit konnten sie die musikalischen Gedanken und deren Verarbeitung einordnen oder zuordnen und ein Werk begreifen.

4. Zwickmühle und Lösungsansatz


Im 19.Jahrhundert wirkte sich der Liberalismus immer intensiver auf Kultur und Gesellschaft aus, dadurch nahm stets die Bedeutung der Subjektivität zu, was alsbald zur höchst individualistischen Handhabung aller Formen der reinen Instrumentalmusik führte.
Mit dem schwinden der allgemeingültigen, verbindlichen Formhandhabung schwand aber auch die Orientierungsmöglichkeiten der Rezepienten. Was nicht schwand, war der Wunsch der Komponisten, verstanden zu werden, und der Anspruch der Hörer, ein neues Werk zu begreifen. So kam es dazu, dass Beethoven in seiner Neunten Symphonie den Text der „Ode an die Freude“ von Friedrich Schiller (1759 – 1805) durch Chor und Solisten gesungen als Verständnishilfe in den Finalsatz aufgenommen hatte.
Im Grunde bedeutete dieser Geniestreich ein Paradoxon, war Absolute Musik, deren repräsentativstes Phänomen die Symphonie darstellte, doch eigentlich Musik ohne außermusikalischen Bezug wie Wort oder Aktion. Die Zeitgenossen reagierten euphorisch auf das Paradoxon, trotzdem stellte sich für nachfolgende Komponistengenerationen die Frage, wie es mit der Symphonie nun weitergehen sollte. Richard Wagner (1813 – 1883) zog die radikalsten Konsequenzen, wandte sich nach ersten Versuchen vollkommen von der Symphonie ab und stellte das symphonische „know how“ in den Dienst seines Gesamtkunstwerkes.
So einfach konnte man die Symphonie aber nicht in Pension schicken. Sie war schließlich nicht die Erfindung eines Einzelnen, die überholt war, sondern Allgemeingut bürgerlicher Kunst und Kultur, durch zahlreiche zeitübergreifende Beiträge erkämpft, erworben und gewachsen. Gerade sie galt als künstlerisches Emblem der Menschenrechtsideen mit ihren Festschreibungen eines ethisch unverrückbaren, empathischen Verhältnisses von Staat zum Bürger, von Kollektiv zum Individuum. Eine Symphonie schreiben hieß, sich für das menschliche an sich einzusetzen – und Erbanspruch auf die Nachfolge des großen Ludwig van Beethoven – eigentlich dem Prometheus der symphonischen Form - anzutreten.
Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847) und Robert Schumann (1810 – 1856) begaben sich behutsam hinter die Grenzen der „Grande Symphony“ Beethovens, trugen schwer an der symphonischen Last und provozierten die Kritik Derer, die eine historische Weiterentwicklung der Symphonie postulierten. Andere, die neue Wege in der Symphonie gewagt hatten, mussten die Schelte Jener einstecken, welche die bewahrende Fortführung der Beethoven-Tradition forderten. Hierin bestand im ganzen 19.Jahrhundert eine Zwickmühle für die Komponisten.
Seit 1827 hatte FranGoisAntoine Habeneck Beethovens Symphonien in Paris aufgeführt und eine unglaubliche Begeisterung für den Klassiker ausgelöst. Hector Berlioz (1803 – 1869) hatte diese Aufführungen selbst in ausführlichen Kritiken besprochen.
1829 schrieb er in einem Brief an einen Freund, er wolle und könne Beethoven nicht übertreffen, weil er bis an die Grenzen der Kunst gegangen sei, sondern nur auf einem anderen Weg weiterschreiten. Mit seiner Symphonie Fantastique (1831 uraufgeführt) hat Berlioz dies erstmals in die Tat umgesetzt. Entsprechend groß war denn auch der Misserfolg. Nicht nur die traditionelle Anzahl von vier Sätzen der Symphonie hatte er gewagt zu erweitern, er führte sogar einen Walzer, der nichts in einer Symphonie zu suchen hatte, war er doch „Unterhaltungsmusik“, als zweiten Satz ein. Ferner verwendete er Instrumente, die vorher Tabu in der Symphonie gewesen waren: Harfe oder Becken z. B. Die Form veränderte bzw. missachtete er nach seinem kreativen „Belieben“. Als Genius wusste Berlioz selbstverständlich um die Notwendigkeit von etwas Verbindlichem in der Absoluten Musik, damit die Hörer sie begreifen konnten. Anstatt aber die schablonenhafte Form des Sonatenhauptsatzes einzuhalten, zog er es vor, ein Leitmotiv, von ihm selber Idee fixe genannt, einzuführen. Dieses zog sich als konstituierendes Element durch alle Sätze. Darüber hinaus gab ein quasi autobiographisches Rahmen Programm nötige Hinweise auf den Gehalt des Werkes. Den Versuch eines poetischen Rahmenprogramms hatte Beethoven in der Symphonie Nr.6 „Pastorale“ schon sehr erfolgreich versucht. Seine Vorgaben waren jedoch nicht spezifisch autobiographisch, vielmehr handelte es sich darin um Szenerien, die Jeder in seiner Realität auch erleben konnte, – im Gegensatz zu einem Hexensabbat auf dem Blocksberg oder einem Gang zum Richtplatz wie in der Symphonie fantastique. Aber Berlioz reizte seine Zeitgenossen nicht nur mit der individualistischen Konzeption seines Werkes sondern auch mit einer neuen, ungewohnten Ästhetik. Zum Beispiel seine neue Art der Instrumentierung, die dazu führte, dass die Orchesterklangfarbe sich zum eigenständigen Ausdrucksfaktor emanzipierte und den Spaltklang des klassischen Symphonieorchesters beendete.

In seinen Memoiren berichtet Berlioz, Niccolo Paganini (1782 – 1838) habe ihm 1833, tief beeindruckt von der Symphonie fantastique, den Kompositionsauftrag für ein Solokonzert erteilt. Beim Ansehen der Partitur zeigte der exzentrische Geigenvirtuose sich enttäuscht und lehnte das Werk ab, weil er so lange nichts zu spielen hatte, - er müsse immerfort zu tun haben, so seine Argumentation. Dank dieser Absage hatte sich für Berlioz die Gelegenheit ergeben, sein neues Werk ohne „Rücksicht“ gestalten zu können. Er nannte es nun nicht Konzert sondern, in Reflexion auf die Rezeption des symphonischen Schaffens von Beethoven, Symphonie, mit einer Bratsche als Soloinstrument. So entstand die Symphonie „Harold in Italien“. Das Versepos „Childe Harold's Pilgrimage“ von Lord Byron lieferte hier einen poetischen Bezugspunkt, quasi Begleitprogramm zur Konzeption des Werkes und als „Formersatz zur Orientierung der Hörer. In Erinnerung an seine einsamen Wanderungen durch die Abruzzen (zu Beginn der 1830erjahre) projizierte er sich als zurückhaltenden, verträumten, romantischen Helden in Harold hinein. Verkörpert wird er durch die Partie der Solobratsche, die in allen vier Sätzen (Berlioz hielt sich hier wieder an die Viersätzigkeit der Klassischen Tradition) auftaucht. Die meisten Zeitgenossen begriffen das Werk nicht. Auch viele Komponistenkollegen erkannten nicht seinen umwerfenden Lösungsansatz für zukünftige Symphoniekompositionen. Von Vielen wurde Harold in Italien schlicht als Programmmusik abgetan, die man von je her als minderwertig ansah.

5. Ausdruck statt Nachahmung

Die negative Bewertung von Programmmusik erklärt sich dadurch, dass Kunst sich im Spannungsfeld von „Mimesis“ und „Poesis“ bewegt. Mimesis ist die Nachahmung der Natur. Sie kann zweifellos sehr kunstvoll ausgeführt sein, birgt jedoch die Gefahr des Künstlichen oder Unnatürlichen. Das Märchen „Die chinesische Nachtigall“ darf als lehrreiche Metapher hierfür gesehen werden. Kant sagt in der „Kritik der Urteilskraft“ wahre Kunst erscheint als Natur. Poesis ist die geistige Abstraktion der Realität. Sie ist kunstvoll, sie versucht keine Nachahmung der Natur und lässt vor allem Raum für freie Assoziationen. Freilich birgt sie auch die Gefahr des Unverständlichen, namentlich in Musik ohne Text.
In der Kindersprache heißt ein Hund schlicht „Wauwau“, quasi als Lautnachahmung des gemeinten Tieres. Auch Jemand, der nicht der deutschen Sprache mächtig ist, könnte vom Klang her erraten, um welch ein Tier es sich hier handelt. Das Wort Hund, Ergebnis einer Abstraktion von Realität und jeglicher Lautnachahmung entzogen, lässt nicht unmittelbar auf seine Bedeutung schließen.
Wären die Sprachen im Mimetischen verhaftet geblieben, so hätte es niemals zu gehobener, qualitätsvoller Dichtung kommen können. Mit diesem Beispiel soll versinnbildlicht werden, wie es dazu kommt, dass Programmmusik so geschmäht wurde, Absolute Musik ist ihrer Entstehung und ihrem Wesen nach eben Poesis.
Lautmalerei und Darstellung von Naturvorgängen hatte die Instrumentalmusik in der Oper und im Oratorium während des 17.Jahrhunderts „gelernt“. Um Szenarien beschreiben zu können, insbesondere an Stellen, wo es noch keine Aktion der Protagonisten mit Text auf der Bühne gibt, erfüllte dies seinen Sinn. Selbstständige Instrumentalmusik jedoch, die sich ganz dem Lautmalerischen verschrieb, empfand man als minderwertig.
Antonio Vivaldis „Jahreszeiten“, wohl das berühmteste Beispiel für Programmmusik, entstand weder aus Banalität noch aus formaler Notwendigkeit heraus sondern um des Experimentierens willen. Die Form des Solokonzertes ist durch den Wechsel von Solo und Tutti so klar und einfach, dass man ein poetisches Programm wie das Sonett, welches den Jahreszeiten zugrunde liegt, um des Verständnisses willen nicht bräuchte. Der Reiz bestand für Vivaldi vor allem darin, die Naturvorgänge wie Vogelgezwitscher oder Sommergewitter etc. zur Erfindung und zum Ausprobieren neuer, extravaganter Spieltechniken auf dem Soloinstrument zu nutzen.
Die Mimethik der Jahreszeiten-Konzerte oder des „Tempesta di Mare“ aus op.8 ist fantasievoll und inspiriert, gängelt den Hörer nicht, erlaubt freie Assoziationen und fesselt auch ohne Hinweis auf das vertonte Programm. Vergleicht man den letzten Satz des Sommers von Vivaldi (ein Gewitter) mit den Gewitterstürmen von Beethovens Pastorale und der Wilhelm-Tell-Ouvertüre von Gioacchino Rossini (1792 – 1868), so stellt man Folgendes fest: Vivaldi erzählt „seinen“ Sturm mit Hilfe von symbolisierenden Spielfiguren aus dem Requisitorium der barocken Affektenlehre. Beethoven und Rossini dagegen haben sich vom Symbolhaften der Affektenlehre befreit und schildern sehr realistisch den Naturvorgang. Trotzdem wird darin nicht effekthaschend nachgeahmt sondern geistreich reflektiert. Beim Gewitter der Alpensymphonie bemüht Richard Strauss (1864 – 1949) noch zusätzlich eine Windmaschine und vertont Blitze, Donner, Wind etc so realistisch, dass freie Assoziationen vollkommen ausgeschlossen sind. Dies wäre aus der Sicht Kants keine Kunst, die als Natur erscheint, sondern Natur die als Kunst erscheinen soll.
Liszt in seinem Artikel über die Harold-Symphonie:
„Im ganzen genommen trägt der spezifische Symphoniker seine
Zuhörer mit sich in ideale Regionen, die auszudenken und aus-
zuschmücken er der Phantasie jedes einzelnen überlässt. In solchen
Fällen ist es sehr gefährlich, dem Nachbar dieselben Szenen und
Gedankenreihen oktroyieren zu wollen, in die sich unsere Einbildung
versetzt fühlt. Möge da jeder schweigend sich der Offenbarungen
und Visionen erfreuen, für die es keine Namen und keine Bezeichnung gibt.“

Ein interessantes Experiment im symphonischen Schaffen von Carl Ditters von Dittersdorf (1739 – 1799) soll hier nicht unerwähnt bleiben. Der Verfasser von gut 130 Symphonien, der regelmäßig Streichquartettpartner mit Wolfgang Amadeus Mozart, Joseph Haydn und Vanhall spielte, verwendete die Metamorphosen Ovids als poetische Vorlage für einige seiner Symphonien. Bedauerlicherweise hört man diese Werke kaum in Konzerten oder Rundfunksendungen, qualitätsvolle Einspielungen auf CD liegen ebenfalls nicht vor. Man darf die Versuche Dittersdorfs nun nicht als Vorläufer oder Wegbereiter der symphonischen Dichtung missverstehen. Die poetische Vorlage ersetzt hier nicht eine verbindliche musikalische Form, sie wird dem Sonatenhauptsatz vielmehr einverleibt. Ein Satz der Symphonie „Phaeton“ schildert, wie der Held den Sonnenwagen seines Vaters in rasanter Fahrt steuert, aus der Bahn gerät, auf der Erde Verwüstungen, Dürren, Brände und Stürme auslöst, alsdann von Zeus, den die Erde zu Hilfe rief, mit Blitzen geschlagen wird, wodurch Phaetons tödlicher Sturz vom Himmel auf die Erde erfolgt. Am Anfang des Satzes hören wir den Aufstieg des Sonnenwagens in einem sich langsam nach oben bewegenden Synkopenmotiv. Unvermittelt wird dieses Motiv mit halbierten Notenwerten zum Glied einer langen Kette über rastloser Harmonik. Die Synkopierung symbolisiert in der Tradition der Affektenlehre, dass etwas unheilvoll aus der Bahn gerät. So wird nach Art einer Sonatensatzdurchführung die Katastrophe der Sage erzählt, dann kommt kurz Lautmalerei ins Spiel, wir „hören“ die Blitze des Zeus, dann die Donner und vernehmen den Sturz Phaetons. Die Metamorphosen-Symphonien Dittersdorfs stehen zwar für das experimentierfreudige späte 18.Jahrhundert, dürfen dennoch als Vorahnung dessen, was Beethoven in seiner „Pastorale“ erreichen wird, gesehen werden.

6. Der entfesselte Prometheus

In der Harold-Symphonie entband also der poetische Bezug den Komponisten vom Schablonenhaften der überlieferten Form. Wegen des Unverständnisses der Zeitgenossen fühlte sich Franz Liszt (1811 – 1886) aufgerufen, einen ausführlichen Artikel mit großer Parteinahme für das neue Berlioz-Konzept zu verfassen. Freilich ging es neben kollegialer Solidarität vor allem um die Darlegung seines eigenen symphonischen Verständnisses, welches Berlioz durchaus ähnlich ist, es in Vielem aber noch an Konsequenz und Progressivität übertrifft.
In besagtem Artikel lesen wir: „Der malende Symphonist aber, der sich die Aufgabe stellt, ein in seinem Geist deutlich vorhandenes Bild, eine Folge von Seelenzuständen, die ihm unzweideutig und bestimmt im Bewußtsein liegen, ebenso klar wiederzugeben, - warum sollte er nicht mit Hilfe eines Programms nach vollem Verständnis streben?!" Hier und im folgenden Zitat des Artikels offenbart Lisztein vorzügliches Schaffensethos, wie es eines Symphonikers angemessen und würdig geheißen werden kann, namentlich in seinem Streben nach vollem Verständnis durch das Publikum, nach einem notwendigen sinnvollen Dreiecksverhältnis von Komponist – Werk – Rezepient also.
„Wir unsererseits sind überzeugt,
dass nicht jedes Genie seinen Flug auf die engen Grenzen der Bühne
zu beschränken vermag und infolgedessen gezwungen ist, sich ein
neues Gewand zu bilden.

Vielen erscheint es als ein absurdes, um nicht zu sagen profa-
nierendes Beginnen, ein fremdes Element in die Instrumentalmusik
einführen und hier heimisch machen zu wollen — ein Element,
das die freie Bewegung des Gefühls durch bestimmte, der Vor-
Stellung im voraus gegebene Objekte beschränkt, den Komponisten
zu einer poetisch zu formulierenden Konzeption, die er literarisch
zu vertreten hat, zwingt und die Aufmerksamkeit des Hörers nicht
allein auf das musikalische Gewebe, sondern auch auf die durch
seine Konturen und Reihenfolge ausgesprochenen Ideen lenkt.
Wie sollten sie nicht vor Berlioz, dem Vertreter dieser Richtung,
ihr Haupt verhüllen und ihr Barthaar ausraufen, vor ihm, der
dieses Beginnen so weit treibt, daß er in die bis jetzt absolut unpersönliche Symphonie die Stimme des Menschen durch Symbolisierung als gegenwärtig ertönen läßt? — vor ihm, der es wagt,
in die Symphonie ein anderes Interesse zu legen als das bisherige
und sie durch ein Element neuer Art zu beleben? — vor ihm,
der nicht damit zufrieden ist, die Klagen allgemeiner Trauer in
sie zu ergießen, die Hoffnungen aller aus ihr ertönen zu lassen,
aus ihrem Brennpunkt alle Affekte und Erschütterungen, Leiden
und Gluten auszuströmen, die im Herzen der Menschen, ja der
Menschheit pulsieren, sondern alle ihre Mittel und Kräfte sich zu
eigen macht, um sie zum Ausdruck der Leiden und Empfindungen
einer bestimmten Individualität, die aber ganz Ausnahme ist, zu
entfalten?“
Liszt war Namensgeber und Erfinder der Gattung „Symphonische Dichtung“, erstmals gebrauchte er den Begriff bei „Tasso“, 1849. Insgesamt 13 dieser Werke verdanken wir ihm. Seine erste symphonische Dichtung war „Ce qu'on entend sur la montagne“, von Liszt selber auch kurz „Bergsymphonie“ genannt. 1849 wurde sie erstmals aufgeführt, dann aber noch einige Male überarbeitet. In ihr wird deutlich, dass hier keine außermusikalische Handlung nach einem Fahr- oder Regieplan vertont wird. Hier geht es um „die Erneuerung der Musik durch ein innigeres Verhältnis zur Poesie“, wie Liszt selber sagte. Poesie versteht er hier nicht im Sinne von Wortdichtung sondern von Poesis.
Philosophische Gedanken über Mensch und Natur, über die Dialektik von Geist und Materie etc. sind es, die er symphonisch abhandelt, so auch in der Bergsymphonie. Victor Hugos Gedichtzyklus „Herbstblätter“ hatte Liszt mit seinen zahlreichen „Bildern“ zur symphonischen Reflexion inspiriert. Zwei Stimmen geben hier Laut, „Der Dichter vernimmt zwei Stimmen, die eine unermesslich, glorreich und ordnungsvoll, dem Herrn ihren jubelnden Lobgesang entgegenbrausend; die andere dumpf, voll Schmerzenslaut, von Lästern, Weinen und Fluchen angeschwellt. Die eine sprach: Natur, die andere: Menschheit! Die beiden Stimmen ringen sich einander näher und näher, durchkreuzen und verschmelzen sich, bis sie endlich in geweihter Betrachtung aufgeben und verhallen.", dies lesen wir im Erstdruck der Partitur des Werkes.
Die symphonischen Dichtungen sind auch Charakterisierungen oder Stimmungsbilder ihrer Protagonisten, z. B. in „Tasso, Orpheus, Faust, Prometheus oder Mazepa. Im Prometheus dreht es sich nicht um die Erzählung des Mythos, vielmehr erfahren wir zunächst das Leid eines Gefesselten, eines Rebellen, der gegen Regeln verstieß und am Ende triumphal verklärt wird.
„Lasst uns das neue Denken in alte Verse fassen - galt mir als Regel und wies mich zu musikalischer Plastik und Symmetrie hin“ bemerkt der Komponist in einem Brief auf die Prometheus-Symphonie bezogen.
Die symphonischen Dichtungen haben weder die Ausmaße der „Grande Sinfonie“ alla Beethoven, noch gliedert Liszt sie in mehrere Sätze. Dies ermöglicht ihn, sie bei aller Dialektik oder allen kontrastierenden inhaltlichen Elementen kohärent-organisch durchzuformen. Liszt hat Prometheus gleich die Fesseln des Festhaltens an Form und Tradition geistreich gesprengt. Man kann bei seiner Symphonik von höchster „Kunst des Übergangs“ im Sinne Richard Wagners sprechen. Mit ihrer auf Berlioz zurückgehenden, konsequent weiterentwickelten Klangfarbenorchestrierung und dem kühnen Modulations-Geschehen zählten diese Orchesterwerke Franz Liszts zu den avantgardistischen seiner Zeit.
Es ist sehr zu bedauern, wie wenig Aufmerksamkeit ihnen in unserem heutigen Musikleben geschenkt wird. Dabei sind sie, abgesehen von ihrer Schönheit und Qualität, unentbehrlich für das wirkliche Verständnis der Symphonien Gustav Mahlers (1860 – 1911).
In der „Orpheus-Symphonie“ vernehmen wir anhand zauberhafter Klänge, wie der Held selbst Tiere und Steine mit seinem Gesang zu rühren vermag.
Rührung, Anrührung, Berührung, Bewegung des Inneren, darin liegen gleichermaßen Magie, Macht und Aufgabe der Musik. Oftmals sollte oder muss man sich zuerst Wissen aneignen, um sich anrühren lassen zu können, denn außer dem rein sinnlichen Genuss, den uns die tönende Kunst schenkt, kann, ja soll sie auch zu Verständnis bzw. Verstehen zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Werk führen. Die symphonischen Dichtungen von Liszt sind göttliches Beweismaterial dafür!

Freitag, 27. März 2009

Beitrag zum Mendelssohnjahr

Mendelssohn – Wagner
Über Nationalismus und Rassismus in der Kunst


Ambitionen, Illusionen, Desillusionierung
Den Beginn des 20.Jahrhunderts in Europa kennzeichneten Ambitionen, das Individuum auf den Schwingen der Aufklärung der Finsternis des 18.Jahrhunderts zu entreißen und aus dem Massenelend des 19.Jahrhunderts ins Licht einer neuen, freien und lebenswerten Welt zu führen. Geprägt war die Sichtweise des Individuums durch das im jüdischen Monotheismus wurzelnde Christentum. Danach ist jeder Mensch, jenseits seiner sozialen Herkunft oder persönlichen Leistung, Ebenbild Gottes. In den Ideen des Humanismus, als zwangsläufige Konsequenz aus dieser christlichen Sichtweise, rückte das Individuum und das Individuelle ab dem 16.Jahrhundert in den Fokus der Europäischen Kultur. Dies setzte den einzigartigen Entwicklungsprozess Europas in Gang, der über den Empirismus, mit der eigenen Erfahrung als einzig relevante Erkenntnis-Quelle, und Descartes analytischer Denkmethode zur Aufklärung führte.
Gemäß deren Idealvorstellungen galt es dann am Ende des 18.Jahrhunderts, eine Gesellschaft zu errichten, in welcher das gebildete Individuum selbstbestimmt und frei für die Verwirklichung seiner Ideen verantwortungsbewusst leben konnte. Sämtliche technischen und zivilisatorischen Errungenschaften hatten im Dienste dieser Ideale zu stehen. Zu Lebzeiten Felix Mendelssohn Bartholdys (1809 – 1847) und Richard Wagners (1813 – 1883) schickte Europa sich an, die „neue“ Gesellschaft – nicht ohne erheblichen Gegenwind der Aristokratie - zu realisieren.
Mit ihren Produktionsverhältnissen, dem Kapitalismus und seiner Unterdrückung des Kollektivs durch Individuen, besaß die bürgerliche Gesellschaft jedoch einen heiklen, inneren Widerspruch; und den Gesetzmäßigkeiten der Dialektik folgend, ließen auch schon im 19.Jahhrhundert diktatorische Gegenentwürfe als äußere Widersprüche nicht allzu lange auf sich warten, Anarchismus und Kommunismus.
Gegen Ende der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts hatten Europa und der Rest der Welt dann mit Faschismus und perfekt organisiertem Rassen- bzw. Völkermord die größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte zu verzeichnen gehabt. Die Ursache dafür war weitaus mehr als die Entgleisung krimineller, bestialischer Individuen, die sich Macht erschlichen hatten; sie war weitaus mehr als die im Wahnsinn wurzelnde Verführung eines gedemütigten, ökonomisch ruinierten Volkes nach einem verlorenen 1.Weltkrieg, den es selbst angezettelt hatte; sie war weitaus mehr als ein Raubzug der Bourgeoisie, welche angesichts einer prärevolutionären Situation ihre demokratische Maske hatte fallen lassen, so wie es die linken Interpretationen sehen wollen. Die Ursache ist fundamental, sie ist – und das muss man, wenn auch mit Schrecken zur Kenntnis nehmen, der Abendländischen Kultur immanent. Das Phänomen der Ideologie ist genuin Europäisch. Die Schönen Künste als Spiegel von Geist und Gesellschaft unserer Kultur liefern eindrucksvolles Anschauungs- bzw. Lernmaterial hierfür.
Es geht dabei wohlgemerkt nur um Ursachen nicht aber um Schuld oder Schuldzuweisungen! Schuldgefühle hemmen den Lernprozess, weil sie stets um sich selbst kreisen.
Begrüßt wurden Sie heute mit drei kurzen Ausschnitten von Werken, welche Sie zwischen 1933 und 1945 gar nicht hätten hören oder gar spielen dürfen. Es erklangen 1.ein Beispiel aus dem ersten Akt von Giacomo Meyerbeers (1791 – 1864) Oper „Margherita d’Anjou aus dem Jahr 1820, der 2.Ausschnitt stammte aus dem 3Satz der Sonate in B-Dur, für Violoncello und Klavier, von Isaac Moscheles (1794 – 1870) und schließlich 3. erklang der Beginn des Finalsatzes von Gustav Mahlers (1860 – 1911) III.Symphonie, mit dem Untertitel „Was mir die Liebe erzählt“. Diese drei Komponisten sind alle jüdischstämmig und galten während der Nazi-Zeit daher als entartet und waren verboten.
In einer Ausgabe der „Neuen Zeitschrift für Musik“ des Jahres 1850 lesen wir über jüdischstämmige Komponisten das Folgende:
„Im Besonderen widert uns nun aber die rein sinnliche Kundgebung der jüdischen Sprache an.“ Und wenige Zeilen später: „Hören wir einen Juden sprechen, so verletzt uns unbewußt aller Mangel rein menschlichen Ausdruckes in seiner Rede: die kalte Gleichgiltigkeit des eigenthümlichen »Gelabbers«“ und später dann die Schlussfolgerung: „Macht nun die hier dargethane Eigenschaft seiner Sprechweise den Juden fast unfähig zur künstlerischen Kundgebung seiner Gefühle und Anschauungen durch die Rede, so muß zu solcher Kundgebung durch den Gesang seine Befähigung noch bei weitem weniger möglich sein.“. Der Verfasser jener Zeilen war ein gewisser Richard Wagner, die Zitate stammen aus seiner Schrift „Über das Judentum in der Musik“. Was mochte einen genialen Komponisten wie Wagner zu solchen Hasstiraden verleitet haben? Entsprang sein Antisemitismus einer Ideologie und begann hier die unheilige Saat des Nationalsozialismus aufzukeimen oder repräsentierte er die Ansicht einer Mehrheit? Werfen wir einen Blick in die Zeiten vor 1800!
Ständekunst, Geschmack, Lokalkolorit
Wir hören nun jeweils den Anfang von 7 Symphonie-Kopfsätzen aus den Siebzigerjahren des 18.Jahrhunderts an. Versuchen wir einmal, die geographische bzw. nationale Provenienz dieser Stücke zu eruieren!
1.Carl Heinrich Abel, deutscher Komponist in London lebend
2 Luigi Boccerin,italienischerer Komponist in Spanien schaffend
3)Tomas Arne aus EnglandLondon
4)Johann Christian Bach, jüngster Bachsohn in Londonlebend
5)Carl Phillip Emanuel Bach,älterer Bachsohn in Hamburg lebend
6)Wolfgang Amadeus Mozart,aus Salzburg, eien Symphonie für Mailand
7) Joseph Haydn,für Esterhaza-Ungarn komponierte frühe Symphonie.
Erstaunlich, dass sich diese Werke in ihrer persönlichen Note leicht unterscheiden, dass man sie jedoch keiner bestimmten geographischen Breite zuordnen kann, außer man kennt die Biographien ihrer Schöpfer. Ein Grund hierfür liegt in der Adelsgesellschaft. Die Aristokratie war nicht regional oder national sondern vielmehr dynastisch identifiziert. Der Begriff „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“ belegt dies recht deutlich. „Heiliges Römisches Reich“ drückte eine Herrschaftskonzeption sowie einen geschichtlich begründeten Herrschaftsanspruch aus, erst an zweiter Stelle stand dann die Indikation, auf welchen Raum sich die Herrschaft bezog. Das Habsburgische Reich erstreckte sich in seinen besten Zeiten über viele Nationen, man sagte gar, in ihm ginge die Sonne niemals unter. Seine Herrscher fühlten sich aber, unabhängig davon, wo sie lebten, als Habsburger. Friedrich II von Preußen verabscheute beispielsweise die deutsche Sprache und zog es vor, Französisch zu kommunizieren. Musikalisch war der Preußenkönig auf Opera, Sonata, Sinfonia und Concerto fixiert. Diese sind italienischen Ursprungs und wurden, wo auch immer sie entstanden, im italienischen Geschmack komponiert. Geschmack bzw. „Gusto“ bedeutete Kunstmusik für die adelige Oberschicht, sie entbehrte daher natürlich einer volkstümlichen Färbung. Gehobene Kunst ist ohnedies die geistige Abstraktion von Realität und nicht deren Nachahmung! Je nach Entstehungsland einer Gattung sprach man damals von Italienischem, Französischem, Deutschem etc. Geschmack.
Die niederen, weniger gebildeten oder gereisten Volksschichten hingegen, waren regional identifiziert, dies um so mehr, je weiter wir in der Geschichte zurückgehen. Die Musik dieser Volksschichten besaß als Folge regionaler Identifikation lokale Färbung. Lokalkolorit vollzog sich intuitiv, es ereignete sich und entsprang keinem kompositorischen Willensakt.
Die Adelsgesellschaft war in Stände gegliedert. Ihre Künste waren an gesellschaftliche Funktionen und Stände gebunden, sie unterschieden sich dadurch natürlich hinsichtlich ihrer Komplexität. Geistliche Musik für den religiösen Kontext war selbstverständlich gelehrt komponiert, oft von Klerikern selbst. Weltliche Musik, Tänze und Lieder, existierten in drei Kategorien: höfisch für den Adel, bürgerlich für die Mittelschicht und bäuerlich, für das Landvolk. Inspirationen der oberen durch die unteren Schichten haben sich selbstverständlich immer wieder ereignet. Aber auch Elemente fremder Regionen wurden importiert und assimiliert.
Im folgenden Musikstück aus dem Spanien des 13.Jahrhunderts hören wir ein prägnantes Beispiel dafür. Es war die Herrscherzeit Alfons des Weisen, wo Spanier mit Arabern und Juden recht gut
koexistiert haben. Der Text wird in spanischer Sprache vorgetragen, die Melodie lässt den arabischen Ursprung erkennen (der übermäßige Sekundschritt und die antiphonale Ausführung des Gesangs), es handelt sich aber um ein geistliches Laienlied aus der bürgerlich-jüdischen Schicht. „Chuando el rey Nimrod”. Es geht um König Nimrod, der des nachts ins Freie tritt, ein Licht am Himmelerblickt und dies als Symbol der Geburt Abrahams ansieht.
Die zwei nächsten Hörbeispiele stammen aus dem frühen 16.Jahrhundert. Kurz vor Jahrhundertbeginn waren die Araber besiegt und von der Iberischen Halbinsel vertrieben worden. Gleichzeitig ereigneten sich Judenpogrome, viele jüdischstämmige Bürger wurden verfolgt, expropriiert, ermordet oder mussten aus Spanien fliehen. Das Bürgertum hatte in Europa begonnen, ökonomisch und gesellschaftlich einflussreicher zu werden. Die Musik war nun schon längst mehrstimmig geworden und klingt für unsere Ohren dadurch weniger exotisch als die mittelalterliche. Beim ersten Beispiel handelt es sich um ein Tanzlied der bürgerlichen Mittelschicht, wir würden es auch ohne Ansage sofort dem spanischen Raum zuordnen können. Das zweite Beispiel ist ein „Tiento“ (ein strenges, polyphones Instrumentalstück, der strengen Fantasia nahestehend) von Antonio de Cabezon (1500 – 1568), es stellt Musik für die gebildete Oberschicht dar, deshalb vernehmen wir auch kein Lokalkolorit.
Auch das nächste Beispiel, aus der Feder Jean Phillippe Rameaus (1683 - 1764, für Cembalo solo, trägt als höfische Komposition keine Lokalfärbung, obgleich sein Titel „L’Égypttienne“ (die Ägypterin) dies doch implizieren würde.
Der „Fandango” für Cembalo solo, des Scarlatti-Schülers Padre Antonio Soler (1729 – 1783), offenbart eine Generation später bereits gesellschaftliche Veränderungen in Europa. Das Bürgertum, vormals niederer Stand mit regionaler Identifikation, besaß inzwischen großen Einfluss auf die Gesellschaft, vor allem durch seine ökonomische Überlegenheit. Es strebte nach gesellschaftlicher Vorherrschaft. Am Anfang des Fandango zitiert Soler die Melodik und Rhythmik der spanischen Volksmusik, bevor er das aufgenommene Material dann im Verlauf des Werkes zu virtuoser, genuiner Kunstmusik transformiert. Lokalkolorit dient hier als Grundlage des Gestaltungsmaterials und ist nicht mehr länger bloß Ereignis sondern Resultat von Schaffenswillen. Dies wird in den folgenden Jahrhunderten öfter der Fall sein. In Bartok Belas (1881 – 1945) Finalsatz der „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta erleben wir dieses Prinzip ebenfalls. Am Beginn des Satzes sind Elemente der rumänischen, etliche Takte später der ungarischen Volksmusik in die Komposition aufgenommen worden.

Nationalismus, Nationale Schulen
Seit dem Anfang des 19.Jahrhunderts wurden nun Bestrebungen wirksam, die Bürgerliche Gesellschaft aufzubauen. Damit änderte sich auch Grundlegendes für alle Schönen Künste.
Den „Geschmack“ oder „Gusto“, das signifikante Kunstphänomen der alten Adelsgesellschaft, gab es nun nicht mehr (er war im deutschsprachigen Raum schon durch die Wiener Klassik überwunden worden). Die Kunst löste sich aus ihrem funktionalen und ständischen Zusammenhang und wurde zum Selbstwert erhoben. Mit der gesellschaftlichen Verifizierung individueller Freiheit, aber auch mit dem Ansteigen des allgemeinen Bildungsstandes, löste sich das übergeordnete, allgemeingültige, religiös verwurzelte Weltbild der alten Gesellschaft in mannigfaltige, individuelle Wertevorstellungen auf. In der Musik finden wir seitdem viele unterschiedliche Stile, welche das Resultat einer jeweiligen Komponistenpersönlichkeit mit ihrer Wertewahl und individuellen ästhetischen Vorstellung war.
Die neue, demokratisch ambitionierte Gesellschaft musste natürlich in einem Staat organisiert werden. Der Ständestaat von einst war ungeeignet. Weil das Bürgertum infolge seiner Sozialgeschichte regional identifiziert und ökonomisch noch nicht gesamteuropäisch vernetzt war, geschah dies im Nationalstaat mit dem Nationalismus als Staatslehre. Darin interpretierte man Geschichte und Traditionen unter ethnischen Gesichtspunkten und leitete so den Anspruch auf die Kongruenz von Nation und Staat ab. Der Nationalismus trat an die Stelle des vormalig allgemeinen Weltbildes der Adelsgesellschaft, an ihm orientierten sich die individuellen Wertevorstellungen der Klein- und Großbürger. Seit dieser Zeit verwendete man musikalische Ausführungsangaben immer seltener in italienischer Sprache, statt dessen in den jeweiligen Nationalsprachen. Die Wertschätzung der eigenen Nation verstand sich von selbst. Als Isaac Moscheles seinen Freund Mendelssohn bei dessen ersten Londonreise zum Bleiben überreden wollte, lehnte dieser es mit der Begründung ab, er verdanke seinem Vaterland so viel und könne ihm daher nicht untreu werden. Nationalismus war damals progressiv, Mendelssohn war genau so national gesinnt wie Wagner.
Wettbewerb und Konkurrenzkampf zeichneten als signifikante Phänomene nicht nur die Produktionsverhältnisse der neuen Gesellschaft aus, sie durchdrangen leider auch künstlerisches und nationales Denken. Ersteres ließ Komponisten vielfach zu Gegnern werden, das Zweite säte Verachtung und Misstrauen zwischen den Nationen, beförderte hegemoniale Bestrebungen, machte sie zu Feinden. Der Nationalismus lieferte gar die geschichtlich begründete moralische Rechtfertigung von Kriegen.
Europas Kunstmusik spaltete sich alsbald in nationale Schulen auf, z. B. die „Gruppe der Fünf“ in Russland, der auch Mussorgsky und Rimski Korsakow angehörten. Den nationalen Schulen diente das Lokalkolorit sozusagen als Identifikations-Logo und als Abgrenzung.
Die deutschsprachigen Komponisten hatten ein schweres Erbe nach der Wiener Klassik angetreten, vor allem mit Beethoven als unerhörte Steilvorlage. Lokalkolorit spielte eine untergeordnete Rolle. Die Verklärung der Vergangenheit zeichnete die als Romantik bekannte Epoche aus.
Mendelssohn und Wagner begannen beide verhältnismäßig früh mit der Symphonienkomposition, weil die erfolgreiche Uraufführung einer Symphonie den Beginn einer erfolgreichen Kariere bedeutete.
Der Kopfsatz von Mendelssohns offizieller 1.Symphonie in c-Moll (1824 15 jährig komponiert) und jener von Wagners 1. Symphonie in C-Dur (1832, also mit 19.Jahren geschrieben) lassen trotz gemeinsamer Dramatik bereits deutliche Unterschiede der Künstlerpersönlichkeiten erkennen. Mendelssohn wurzelt noch in Mozart und Haydn, Wagner hingegen knüpft hörbar an Beethovens 7.Symphonie an und zeigt bereits seine starke Neigung zum Expansiven und Triumphalen. Die langsamen Sätze der Symphonien offenbaren noch weitere Unterschiede: Mendelssohn bleibt trotz des romantischen Gestus zurückhaltend und fein, Wagners Satz gebärdet sich dagegen tragisch und schicksalsgeschwängert, seine moderne, innovative Instrumentierung unterstützt den romantischen Sound nach Kräften. Im Klavierschaffen, insbesondere hinsichtlich Idiomatik, erweist sich Mendelssohn als der Überlegene. Das Balladenhafte seines Capriccios op.11 Nr1 (komponiert 1829 in London) lässt noch den Einfluss seines Kompositionslehrers Carl Friedrich Zelter (1758 – 1832) erkennen, der schnelle Teil erinnert an Beethovens Scherzi und zeigt auch die Nähe zu Robert Schumann. Der langsame Satz von Wagners erster Klaviersonate in A-Dur wirkt eher wie die Klaviertransskription einer schwermütigen Opernarie. Es gibt jedoch einen kuriosen Berührungspunkt zwischen den so unterschiedlichen Komponisten: Ein Segment des Einleitungsadagios von Mendelssohns Reformations-Symphonie findet sich als ein Leitmotiv in Wagners Bühnenweihspiel Parsifal (1882). Beide bedienten sich einer Floskel aus der sächsisch-protestantischen Liturgie. Im Parsifal-Vorspiel scheint Wagner die Mendelssohn-Instrumentierung übernommen zu haben, im Verlauf des Werkes erscheint uns das Motiv – gemäß der dramatischen Situation - immer wieder in unterschiedlicher Instrumentierung, etwa am Ende des ersten Aufzugs im Sound des Übermenschen.
Zwischen Mendelssohn und Wagner lagen menschlich wie künstlerisch Welten, auch wenn beide Deutsch-national gesinnt waren.

Instinkt, Ideologie, Rassismus
Der Nationalismus war zwar logische Konsequenz der gesellschaftlichen Entwicklung Europas, anthropologisch bedeutete er insbesondere in Form des Chauvinismus jedoch den Rückfall in ein archaisches Stadium, weil er an die animalischen Bestandteile im Menschen appellierte: die im Instinkt wurzelnde Rudel-Identifikation.
Menschsein und Kultur, eine untrennbare Einheit, begannen aber gerade mit, dem fortschreitenden Verlassen des Instinkthaften und Animalischen, betrieben von zunehmend differenzierter Gotteserkenntnis und Vernunft. Die ethische Konsequenz hieraus konnte letzten Endes dann nur das Streben nach Gemeinwohl unabhängig von Nation oder Rasse sein und in den Menschenrechten der UNO enden. Mit den Worten „Seid umschlungen Millionen“ hat Friedrich Schiller diese Vision in seiner „Ode an die Freude“ - noch vor den unseligen Auswirkungen des Nationalismus - euphorischen Ausdruck verliehen.
Man kann Millionen aber auch im Sinne von Vereinnahmung „umschlingen“, dies versucht die Ideologie, die ein relativ spätes Phänomen der Geistesgeschichte ist.
Wörtlich übersetzt bedeutet dieses griechische Lehnwort „Ideenlehre“, hat jedoch nur indirekt mit Platons Ideenlehre zu tun. Die Aufklärung verstand unter Ideologie die mit Vorurteilen behaftete Vernunft.
Erst eine individualistische Kultur ohne übergeordneten religiösen Bezug oder Wertekodex, der von Allen akzeptiert ist, die also Wertesysteme der Auswahl ihrer Individuen überlässt und extrem das Subjektive betont, kann das Phänomen der Ideologie entstehen lassen. Dieser Status war im Europa des 19.Jahrhunderts erreicht.
Ein Ideologe erklärt die Welt nach einem System, dem seine ganz persönlichen Annahmen zugrunde liegen, die er axiomatisch, also als nicht beweispflichtig und unverrückbar ansieht. Die Ideologie erhebt den Anspruch auf Allgemeingültigkeit.
Das Verhängnisvolle der Ideologen besteht darin, dass sie die realen Fakten nicht objektiv untersuchen und ihre Erkenntnisse diesen unterordnen, sondern dass sie die realen Fakten sehr intelligent und geschickt dem unterordnen, was sie sehen wollen. Beim Ideologen hat sich der Wille vor die Realität geschoben. Der Wille aber ist nichts anderes als Instinkt und Trieb, die ins Rationale eingesickert sind und mit dem Narzissmus verschmolzen ein Teil der persönlichen Identität geworden sind. Dadurch kann Wille zwar zur Kenntnis genommen, jedoch nicht so ohne weiteres verstandesmäßig kontrolliert oder aufgegeben werden. Ideologien wurzeln im animalischen Persönlichkeitsteil des Menschen und appellieren an ihn, um Handeln zu erwirken, welches dem rein Rationalen des Handelnden entzogen ist. Aus diesem Grunde stehen aber Ideologien geistig/ethisch auf recht schwachen Füßen. Sie stabilisieren sich daher durch die Mobilisierung eines der heftigsten Affekte im Menschen: Aggression. Deswegen sie schaffen Feindbilder. Dieser Umstand macht sie sogar von ihren Feinden abhängig. Die Ideologie besitzt für Alles eine Lösung, die im Endeffekt in der durch sie selbst moralisch gerechtfertigten Vernichtung der erwählten Feinde liegt, seien es Andersdenkende, eine Rasse oder auch Klasse. Der Ideologe stellt das Zentrum dar, um welches sein Weltbild wie die Erde um die Sonne kreist. Meist kann man narzisstische Störungen als Ursache des Ideologisierens ausmachen. Beim gestörten Narzissmus wird die Libido von den Objekten abgezogen und auf das Selbst gerichtet, Realitätsverlust ist die Folge. So glaubt sich ein Ideologe autonom, aber nur weil er sich an die äußere Realität nicht gebunden fühlt. Diese wird nur noch unter dem Aspekt Stärkung oder Kränkung des Narziss sortiert. Seine Beziehungslosigkeit kompensiert der Ideologe mit einem starken Geborgenheits- und Zugehörigkeitsbedürfnis. Dies versucht er bei Anderen erst zu erwecken und dann auszunützen: Erfüllung wird dann in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, Nation oder Klasse etc. gefunden.
Alle geistigen Phänomene können zu Ideologien deformiert oder zumindest ideologisch werden, Lehren, Religionen, wissenschaftliche Richtungen, der Nationalismus, ja sogar Philosophien. Für Letzteres sind Schopenhauer und Nietzsche entsprechende Beispiele.
Ideologien sind dann erfolgreich, wenn sie sich vordergründig als rein rational und vollkommen logisch präsentieren, in Wirklichkeit aber, vom Adressaten unbemerkt, dessen instinkthaften Persönlichkeitsanteil zu ihren Vorteilen mobilisieren. Darin besteht das, was jede Ideologie beherrschen muss: hohe Verführungskunst. Musik wirkt unter anderem auch auf den trieb- bzw. instinkthaften Persönlichkeitsteil und ist daher für Diktaturen, der praktischen Umsetzung von Ideologien, als Propagandamittel von so großer Bedeutung.
Richard Wagner, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend, genial, musikalisch seiner Zeit weit voraus, sensibel und kränkbar, entwickelte sich ab seinem gültigen Hauptwerk mehr und mehr zum Ideologen. Seine zahlreichen Schriften lassen dies deutlich erkennen. deshalb musste er sich früher oder später von der reinen Instrumentalmusik abwenden, denn sie bietet immer Raum für freie Assoziationen seitens der Rezepienten. Der Ideologe bedarf des Wortes, ohne das er seine Weltsicht nicht erklären kann. Deswegen kamen für ihn Texte anderer Autoren auch nicht in Frage, er musste sie selber verfassen. Mit seinem skandierenden, perkussiven Charakter verlieh der Stabreim der Aussage und Wirkung seiner Texte erheblichen Nachdruck. Als nationalistisch Gesinnter lag es zwar nahe, sich germanischer Sagenstoffe zu bedienen, aber nicht, um die Überlegenheit einer Rasse zu belegen, sondern um über Mythologie die fundamentale Gültigkeit seiner Weltsicht zu unterstreichen. Die Sagenfiguren der mediterranen Antike waren durch die höfische Oper der Vergangenheit für ihn negativ besetzt. Seine Weltsicht war, wenn man Wagners philosophische Schriften alle studiert, nun nicht antisemitisch sondern vielmehr ein Äquivalent zu Schopenhauers ideologischer Philosophie.
Wagners Orchesterbehandlung lässt schon im Frühwerk „Das Liebesverbot“ die überragende Meisterschaft einer edlen Klangästhetik vernehmen. Als ideologischer Komponist mit narzisstischen Defiziten setzt er seine Ästhetik oft dazu ein, um durch verführerische, weihevolle, geradezu hymnische Klanglichkeit Aufwertung und Überhöhung empfinden zu lassen – seine eigene und jene des zur Identifikation eingeladenen Rezepienten. Auch schon im Rienzi und dann im Lohengrin findet dies überzeugend statt. So wie der Ideologe die Fakten gemäß seines Willens anordnet, um sie seiner Idee anzupassen, verwendet Wagner die Orchesterinstrumente schon ab dem Lohengrin in völlig neuen Kombinationen und wandelt das Orchester vom vielseitigen, gleichwohl statischen Apparat allmählich zur dramatisch erzählenden Person. So schuf er ein erzähltechnisches Orchester-Know-how, das in die Klangfarbenkomposition der Avantgarde führte und in der Filmmusik und der propagandistischen Musik der Diktaturen bis heute unentbehrlich ist. Bei folgendem Ausschnitt aus dem Beginn des zweiten Tristan-Aufzugs, erzählt das Orchester perfekt die Szenerie, die optische Situation sowie die Handlung, noch bevor ein Wort gesungen wurde.
Wagner konnte als Ideologe gar nicht anders, er musste zum Gesamtkunstwerk gelangen, weil ein Ideologe sich die ganze Welt innerlich selber baut. Die totale Durchstrukturierung, Komplexität, und Aussagekraft seiner Musikdramen hatte keinen Vorgänger in der Musikgeschichte und nur begrenzt erfolgreiche Nacheiferer.
Mendelssohn stammte aus gut situierten, liberalen, Verhältnissen mit hohem Bildungshintergrund. Schon in der Jugend verkehrte er mit vielen Geistesgrößen seiner Zeit: Goethe, Heine, Schleyermacher, Fichte, Hegel etc. Er war vor ideologischen Tendenzen insofern gefeit. Für ihn stellte die Instrumentalmusik und ihre freien Assoziationsmöglichkeiten das ideale kompositorische Betätigungsfeld dar. Seine Lebensspanne war wesentlich kürzer als die von Wagner, entsprechend geringer musste seine stilistische Entwicklung logischerweise ausfallen. Ihn als Klassizisten, als Manieristen zu bezeichnen, wird ihm nicht gerecht. Er blieb aus genuiner Überzeugung den Errungenschaften der Wiener Klassik verpflichtet. Deren Ausgewogenheit von objektiven und subjektiven Elementen – Form und Aussage – passte zu seinem liberal-aufgeklärten geistigen Hintergrund. Er nahm die Neuerungen seiner zeit ernst, förderte diese durch Aufführungen seiner Komponisten-Kollegen und nahm sie in sein Schaffen auf, ohne einem Progressionismus zu verfallen. Seine Leistungen im Oratorium sind glänzend und beeindruckend, auch wenn Wagner sie als Bachimitationen verunglimpfte.
"An welcher Erscheinung wird uns dieß Alles klarer, ja an welcher konnten wir es einzig fast inne werden, als an den Werken eines Musikers jüdischer Abkunft, der von der Natur mit einer spezifisch musikalischen Begabung ausgestattet war, wie wenige Musiker überhaupt vor ihm? Alles, was sich bei der Erforschung unserer Antipathie gegen jüdisches Wesen der Betrachtung darbot, aller Widerspruch dieses Wesens in sich selbst und uns gegenüber, alle Unfähigkeit desselben, außerhalb unseres Bodens stehend, dennoch auf diesem Boden mit uns verkehren, ja sogar die ihm entsprossenen Erscheinungen weiter entwickeln zu wollen, steigern sich zu einem völlig tragischen Konflikt in der Natur, dem Leben und Kunstwirken des frühe verschiedenen Felix Mendelssohn Bartholdy. Dieser hat uns gezeigt, daß ein Jude von reichster spezifischer Talentfülle sein, die feinste und mannigfaltigste Bildung, das gesteigertste, zartestempfindende Ehrgefühl besitzen kann, ohne durch die Hilfe aller dieser Vorzüge es je ermöglichen zu können, auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir von der Kunst erwarten, weil wir sie dessen fähig wissen, weil wir diese Wirkung zahllos oft empfunden haben, sobald ein Heros unserer Kunst, so zu sagen, nur den Mund aufthat, um zu uns zu sprechen.

Für diesen letzteren Fall hörte für Mendelssohn selbst alles formelle Produktionsvermögen auf, weßhalb er denn namentlich da, wo er sich, wie im Oratorium, zum Drama anläßt, ganz offen nach jeder formellen Einzelnheit, welche diesem oder jenem zum Stylmuster gewählten Vorgänger als individuell charakteristisches Merkmal besonders zu eigen war, greifen mußte. Bei diesem Verfahren ist es noch bezeichnend, daß der Komponist für seine ausdrucksunfähige moderne Sprache besonders unseren alten Meister Bach als nachzuahmendes Vorbild sich erwählte." (Richard Wagner, "über das Judentum in der Musik", Zürich, 1850)

Der Vorwurf mangelnder Progressivität ist übrigens der gleiche Vorwurf, welcher Bach seitens seiner Zeitgenossen gemacht worden war. Qualität von Kunst ist nicht nur am Grad der Innovation zu messen. Ganz offensichtlich sind auch die Einflüsse der Haydn Oratorien auf Mendelssohn. Haydn hatte sich Händel zum Vorbild genommen und dessen Kunst in die Sprache seiner Zeit übertragen; und genau dies tat Mendelssohn mit den Vorlagen Bachs, Händels und Haydns. Als geistliche Musik steht es Oratorien im Übrigen nicht an, sich so direkt und persönlich wie Opern zu gebärden. Mendelssohn hatte durchaus die Absicht, auch Opern zu komponieren, zum Beispiel wollte er den Loreley-Stoff vertonen. Vielleicht wäre er im Genre des dramatischen Bühnenwerkes nicht sehr erfolgreich gewesen, aber nicht aus Mangel an Progressivität oder Talent, sondern wegen der noblen Zurückhaltung seines musikalischen Wesens, hierin ähnelt er Franz Schubert.
Mendelssohn möchte berühren und er berührt Geist, Verstand und Gefühl. Wagner möchte ergreifen und er ergreift Geist, Verstand, Gefühl, Unterbewusstsein und Instinkt. Wagner wollte als Ideologe im Hörer exakt die Gedanken und Empfindungen erzeugen, die er selber in sich trug. Deshalb scheiden sich bei ihm die Rezepienten in totale enthusiastische und komplett ablehnende, dazwischen gibt es nichts.

Wagners Antisemitismus war kein Bestandteil seiner Ideologie, obgleich er sich in seinem Artikel in der Neuen Zeitschrift für Musik ideologisch gebärdete. Sein Antisemitismus war vielmehr repräsentativ für den deutschsprachigen Raum. Vergessen wir nicht, Mendelssohns Vater hatte 1811 Hamburg nach Gewaltakten gegen jüdischstämmige Mitbürger verlassen. Auch in Berlin, wo jüdisch- und germanischstämmige Bürger rechtlich explizit gleichgestellt waren, musste Mendelssohn Zeit seines Lebens Schikanen und Vorbehalte erdulden.
Dass Wagner sich zum Artikel „Über das Judentum in der Musik“ hatte hinreißen lassen, ist erschreckend, peinlich und schändlich denn unglücklicherweise lieferte er den Faschisten die scheinbar fachmännische Beweisführung für ihre Wahnvorstellungen von minderwertiger Rassenkunst. Aber auch ohne dies hätten die Nazis die sogenannte „Entartete Kunst“ verbieten müssen, um sich über Feindbilder stabilisieren zu können. Wagners Artikel erklärt sich biographisch, wie folgt: Wagner hatte wiederholt sowohl Meyerbeer als auch Mendelssohn um Protektion gebeten. Hier zwei Briefe, aus denen notwendiger Opportunismus ebenso spricht wie Not.
"An Felix Mendelssohn Bartholdy, Berlin
Mein lieber, lieber Mendelssohn,
ich bin recht glücklich darüber, daß Sie mir gut sind. Bin ich Ihnen ein kleines wenig näher gekommen, so ist mir das das Liebste von meiner ganzen Berliner Expedition. Leben Sie wohl! Ihr Richard Wagner. Berlin, 10ten Januar 1844."
"An Giacomo Meyerbeer, zeitweilig Baden- Baden
Paris, 15. Februar 1840. Mein innigst verehrter Herr und Protector!
Ich strotze von Hilfsbedürftigkeit! Also will ich rasch die Saiten rauschen und die sehr alte und so sehr bekannte Urmelodie erklingen lassen: »Helfen Sie mir!« d.h. in wagnerischer Tonart (– lyrisch, weich und wehmütig –): »Haben Sie doch die übermäßige Güte, ein auffrischendes Briefchen an Anténor Joly zu schreiben!« ... Mit vieler Freude kann ich vermelden, daß es mir dank Ihrer gütigen Fürsprache gelungen ist, Habeneck zu einer Probe meiner Ouvertüre zu veranlassen. Das sämtliche Orchester zeigte mir durch einen wiederholten und anhaltenden Applaus, daß es nicht unzufrieden war ... Mein Dankgefühl, das mich gegen Sie, mein hochherziger Protector, beseelt, kennt keine Grenzen. Ich sehe kommen, daß ich Sie von Äonen zu Äonen mit Dankesstammeln verfolgen werde. Die Versicherung kann ich Ihnen geben, daß ich auch in der Hölle noch Dank stammeln werde ...
Ihr mit Herz und Blutewig verpflichteter Untertan
Richard Wagner."

Beide Adressaten sind, das belegen Dokumente, Wagners Bitten um Förderung stets nachgekommen, jedoch ohne Erfolg. Wagners Narziss hatte dies gemäß dem Wesen des Ideologen als Kränkung sortiert und wollte sich dafür großflächig rächen: dazu verfasste er seine Hetzschrift, die durch ihren wissenschaftlich gehaltenen Duktus großflächig wirkt und die persönliche Kränkung geschickt verbirgt.
Darin die Ursache oder den Ausgangspunkt für die Verbrechen des Nationalsozialismus zu sehen, geht an historischer Realität vorbei und lenkt von den wahren Ursprüngen ab.

Kollektive historische Verantwortung
Indem wir Schuldige suchen und benennen, reduzieren wir die geschichtliche Wahrheit auf Einzelne und Singularitäten, wir exkulpieren uns damit selber und drücken uns vor dem was wesentlicher und vor allem ethisch geboten ist: Verantwortung. Schuldgefühl bleibt im individuellen, es ist ein Egotrip, meist ohne Wirksamkeit. Schuldbewusstsein dagegen, mit ethisch wurzelndem Schamgefühl kann und soll vom Kollektiv übernommen, getragen werden und zu historischer Verantwortung führen, die – solange es Menschen gibt – geistiges Allgemeingut sein muss und insofern niemals endet. Antisemitismus gab es seit der Zerstreuung des Jüdischen Volkes, bald offen, bald verborgen. Das daraus im 20.Jahrhundert eine Ideologie konstruiert wurde, ist ewig unmenschlich und auch direkt gegen Gott selbst gerichtet. Der wahre Gott hat schon in solch frühem Stadium der Menschheit zu den Juden wunderbar gesprochen. Die Zehn Gebote sind fundamental der Würde des Menschen gemäß, vollkommen unmissverständlich und von unendlicher Gültigkeit.
Man kann die Empörung von Barenbeums Publikum in Israel verstehen, als er zum ersten Mal Wagner dort dirigierte. Aber Wagner zu ignorieren, auszuschließen, oder gar zu verbieten, wäre unmöglich, weil seine Errungenschaften in die gesamte Musikgeschichte längst eingeflossen und somit bleibend sind.
Kunst ist politisch - als Existierendes, sie soll jedoch niemals als Diener von Politik eingesetzt werden. Wenn dies mit Musik geschieht, die das Instinkthafte im Menschen immer mit anspricht, ist dies bereits eine ideologische, somit ethisch fragwürdige Handlungsweise, auch außerhalb einer Ideologie. Ideologie und ideologisches Handeln lassen keine Freiräume.
Mendelssohn und Wagner sind extreme Gegensätze, beide stellen aber auch repräsentative Phänomene der Abendländischen Kultur dar.
Was wir an Mendelssohns Musik und an seiner Person im Mendelssohnjahr für alle Bereiche des Lebens lernen können:
auch in einer sehr subjektiven Gesellschaft wie der unseren kann unter Wahrung des Objektiven und der Form Freiheit und Assoziationen möglich sein.

Freitag, 30. Januar 2009

Über Wesen, Wirkung und Wahrnehmung von Zeit

Copyright: Rolf Basten
Über Wesen, Wirkung und Wahrnehmung von Zeit – im Spiegel der Musikgeschichte
Die Dimension der Ohnmacht und Begrenzung
„Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding.
Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts.
Aber dann auf einmal,
da spürt man nichts als sie:
sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen.
In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie,
in meinen Schläfen fließt sie.“ (Die Marschallin in Richard Strauss Rosenkavallier, 1.Aufzug, Text von Hugo von Hofmannsthal)
Dieser bewegende Monolog, von dem ich nur einen kleinen Teil zietiert habe, zeigt zweierlei: Menschen, vor allem in fortgeschrittenen Jahren, empfinden Zeit als etwas, dem wir ohnmächtig ausgeliefrert sind. Wir haben, neben den dafür notwendigen Körperteilen, alle möglichenMittel erfunden, uns relativ ungehindert durch den Raum bewegen zu können, aber nicht durch die Zeit. Hier scheitert menschlicher Wille, hier erkennt der Mensch, dass er mit dem Willen nur das Wenigste zu bewirken vermag. Als Zweites drückt der Monolog sehr schön aus, wie wir Zeit nur mit subjektiven Schwankungen wahrnehmen können. Augustinus sagt in seinen Confessiones, wenn er Zeit erlebe, bemerke er sie, wenn er gefragt werde, was Zeit sei, wisse er es nicht. Gerade die Zeit lehrt uns, wie begrenzt wir nur im Stande sind, in das Wesen der Dinge einzudringen. Mit Hilfe von Musik ist es jedoch möglich, einen beträchtlichen Erkenntnisprozess zu bewältigen. Das physische Wesen vonMusik ist jenem der Zeit sehr verwandt. Dazu kommt, dass wir inzwischen viele Details der Musikgeschichte kennen und sie im interdisziplinären Verbund von Antropologie, Soziologie, Hörpsychologie, Religion und Philosophie als Denkprozessor verwenden können.

Denn alle Schönen Künste, also auch die Musik, sind reine Erscheinungsformen
des Geistes und der gesellschaftlichen Stadien eines Kulturkreises.
Europa, der christlich-abendländische Kulturkreis mit seiner
Fokussierung des Rationalen – schon seit der Antike – und des
Individuellen – seit dem Humanismus – nimmt dabei eine Sonderstellung
ein, was freilich nicht elitär/hierarchisch gemeint sein
soll.
2
Die Individuen und individuellen Ereignisse sind im Spannungsfeld
von Geist und Gesellschaft mit den Tropfen eines mächtigen Stromes
vergleichbar, der sich unaufhaltsam vorwärts bewegt. Wenig darin ist
zufällig und schon gar nichts willkürlich. Blickt man stromaufwärts,
erscheint uns die Abbildung eines Zeitablaufes, den wir Geschichte zu
nennen pflegen. Der geschichtliche Prozess ist, wie alles Gewesene,
Seiende und Werdende, Beziehungssache – im Sinne kausaler und
konditionaler Wechselwirkungen. Im Kontext unseres Themas
natürlich Wechselwirkungen zwischen Individuen untereinander,
zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen beiden und Umwelt,
zwischen Mensch und Gott, im Falle von Atheisten zwischen diesen
und dem, was sie für sich als unverzichtbares „Gottsubstitut“
installiert hatten oder haben.
Parsifal und der Augenblick
Wenn ich Sie mit dem Anfang von Wagners Bühnenweihfestspiel
„Parsifal“ aus dem Jahre 1882 begrüßt habe, noch bevor ich ein Wort
an Sie gerichtet hatte, geschah dies nicht, um mich als Wagnerianer zu
outen, der ich gar nicht bin. Das Vorspiel beginnt feierlich, verhalten,
es mutet geradezu wie ein gregorianischer Choral an. Aber es steckt
noch mehr darin: Parsifal ist ja ein Tor, von der Mutter ohne jedwede
Möglichkeit zur Entwicklung seiner Identität aufgezogen. Er besitzt
kein Reflexionsvermögen, Individuation hat bei ihm nicht stattgefunden,
Rationalität ist nicht vorhanden. Parsifal ist in gewisser
Hinsicht mit unseren Urahnen vergleichbar, er lebt vollkommen im
Intuitiven, im Instinkt sowie im Trieb (ausgenommen der Sexualtrieb).
Vor allem entbehrt er der apriorischen Dispositionen des Subjekts:
nämlich bewusste Raum- und Zeitwahrnehmung. Somit besitzt er kein
nachhaltiges Erinnerungsvermögen, welches mit Raum- und Zeitwahrnehmung
stets untrennbar einhergeht, ihm fehlt daher auch
Beziehungsfähigkeit. Dennoch ist er für sein Amt als künftiger
Gralshüter bereits ausersehen. Parsifal ist gleichsam der Augenblick,
der die Zukunft verzehrt und unmittelbar als Vergangenheit hinter
sich lässt. Dies hat er, nebenbei bemerkt, mit dem physischen Wesen
der Musik gemeinsam.
Wenn Sie den Beginn des Parsifalvorspiels auch noch so aufmerksam
verfolgen, so werden Sie trotzdem nicht im Stande sein, die Taktart zu
bestimmen, dementsprechend auch nur schwer die Notenwerte des
Rhythmus. So lässt Wagner uns die fehlende Zeitwahrnehmung des
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Toren genial nachempfinden. Das Eingangsmotiv wird von den
Streichern und tiefen Klarinetten im Einklang vorgetragen, sie stimmen
zwar die Tonika-Dreiklangstöne nacheinander an, dann aber erklingt
alsbald der vierte Ton der As-Dur-Tonleiter um einen halben Ton
erhöht, was die eindeutige Zugehörigkeit zu einer bestimmten Tonart
verwischt.
Durch dies und das Fehlen vom Zusammenklingen verschiedener Töne
übereinander lässt Wagner uns genial die fehlende Raumwahrnehmung
des Parsifal nachempfinden, bevor sich dann das Ensemble
durch Harfe, Hörner etc. ergänzt zum Tonika-Akkord aufbaut und das
Leitmotiv für das Erglühen des Grals vorwegnimmt, so drückt Wagner
genial die Bestimmung Parsifals für den Gral aus. Am Ende des ersten
Aufzuges wird Parsifal beim Gang zur Gralsburg dem Torhüter
Gurnemanz sagen: „Ich schreite kaum, doch wähn ich mich schon weit“
– Gurnemanz wird daraufhin mit „Du siehst, mein Sohn, zum Raum
wird Dir die Zeit“ antworten. Wenn ich über dies in solcher
Ausführlichkeit gesprochen habe, so tat ich es, damit Sie sich fehlende
Zeitwahrnehmung und Zeitgestaltung ein wenig vorstellen können.
Zeitgestaltung und Fasslichkeit musikalischer Substanz
Musik hat sich vom bloßen Ereignis erst dadurch lösen und zu
relevanter Kunst wandeln können, dass bewusste Zeitwahrnehmung
sowie die Fähigkeit, diese einzuteilen, vom Menschen erworben
worden war. Beides bedingt Erinnerungsvermögen, denn der
Gegenwartsmoment dauert höchstens drei Sekunden, wie Forschungen
zum Problem des real existierenden Jetzt ergeben haben. Reales
Musikgeschehen ist ja wie der Augenblick selbst, sein Gegenwartsmoment
ist beträchtlich kurz. Um einen musikalischen Zusammenhang
zu fassen, muss das Gedächtnis bemüht werden. Sie hören nun zwei
Tonfolgen, die jeweils länger als drei Sekunden sein werden. Dabei
sollen Sie für sich selber herausfinden, ob beide Tonfolgen identisch
sind oder nicht. (Die Beispiele erklingen.)
Sie werden festgestellt haben, dass diese Frage kaum zu beantworten
war, weil die Tonfolgen in ziemlich raschem Tempo erklungen sind.
Zudem wurden sie von einem Synthesizer vorgetragen, der alle Töne
mit gleicher Tonstärke wiedergegeben hat. Musik konstituiert sich
durch die Parameter Tonhöhe, Tondauer und Tonstärke. Sie hören
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beide Tonfolgen nun abermals, jedoch sind sie jetzt mit kleinen Pausen
an bestimmten Stellen versehen. (Die geänderten Beispiele erklingen.)
Sie haben feststellen können, wie viel fasslicher die musikalische
Substanz nun erschienen war – und Sie haben vermutlich leichter
herausfinden können, dass es kleine Abweichungen zwischen beiden
Beispielen gegeben hat, ja vielleicht sogar an welchen Stellen.
Am besten fasslich werden die Tonfolgen für Sie aber dann erst sein,
wenn differenzierte Zeitgestaltung vorhanden ist. Die zwei Tonfolgen
erklingen nun abermals, jedoch werden die Töne unterschiedliche
Dauer haben, oder anders ausgedrückt: Notenwerte. Die Kombination
diverser Notenwerte in proportionalem Verhältnis zueinander ergibt
den Rhythmus. Er entscheidet über die Fasslichkeit einer musikalischen
Substanz, die Tonhöhe alleine nicht. Ich spiele Ihnen als Beweis eine
Melodie vor, welche Ihnen allen bekannt ist. Einmal nur mit korrekten
Tönen aber mit vollkommen verändertem Rhythmus. Jetzt werden Sie
das Lied noch einmal vernehmen. Diesmal ist kein richtiger Ton dabei,
jedoch ist der Rhythmus korrekt. Sie merken, Sie haben das Lied nun
alle erkennen können.
Rhythmus, also intuitive oder bewusste Zeitgestaltung, ist das
Elementare von Musik. Eine beliebige Tonfolge ohne Zeitorganisation
könnte niemals eine musikalisch konkrete oder aussagekräftige
Substanz ergeben. Eine Folge organisierter Tondauern dagegen kann
dies sehr wohl, man denke beispielsweise an Schlagzeugsoli der
Rockmusik oder die Nachrichtenübermittelung durch Trommeln bei
Naturvölkern.
Intuitive Zeitgestaltung
Rhythmus ist deswegen so elementar, weil er sich bereits im Stadium
des rein Intuitiven ereignet. Er ist das Resultat von Impuls, vom
Impuls zur körperlichen Bewegung als Ausdruck von Gemütsbewegung.
Bereits bei Anthropoiden ist ein Bewegungsrausch mit
periodisch wiederkehrenden Bewegungen des Körpers oder einzelner
Gliedmaßen anzutreffen. Das Regelmäßige und Systematische vollzieht
sich dabei freilich rein intuitiv. Stets geht dies körperliche Geschehen
im Verbund mit Lautäußerungen einher.
Wir können von Anbeginn der Menschheitsgeschichte davon ausgehen,
dass Tanz immer mit Lautäußerungen verbunden gewesen war und
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eine wichtige soziale Funktion erfüllt hat. Im Intuitiven war Ahnen
entstanden und ließ poco a poco bewusstes Sein entstehen.
Individuationsvermögen führte zur bewussten Unterscheidung
zwischen dem Eigenen und dem Anderen bzw. den Anderen. Anfangs
galt es, Ängste vor einer noch wenig verstandenen, insofern
bedrohlich anmutenden Umwelt zu bannen. Weitere Motivationen
lieferte die Mobilisierung von Aggressionen für den erfolgreichen
Ausgang kriegerischer Handlungen und sexuelles Werberitual. Tanzen
war kein privates Freizeitvergnügen, es war magische Kulthandlung
von existenzieller Bedeutung.
Das Zusammenleben bewusster Individuen in einer bedrohlichen
Umwelt schafft Nöte. Diese gilt es zu wenden. Es entsteht Bedarf an
Notwendigkeiten. Die Organisation von Gesellschaft mit
Arbeitsteilung ist notwendig. Damit dies funktioniert, sind
Kommunikation – über Lautartikulation, Bild und Schrift – sowie
verbindliche Zeiteinteilung notwendig. Je differenzierter und
komplexer sich Gesellschaften entwickeln, umso differenzierter und
komplexer müssen Kommunikation und Zeiteinteilung werden.
Die schönen Künste sind gleichfalls Notwendigkeiten, im Verhältnis
der Individuen untereinander, dieser wiederum zum Kollektiv und
vor allem beider zum Göttlichen. Als Erscheinungsformen von Geist
und Gesellschaft spiegelt sich in ihnen deren zunehmende
Differenziertheit und Komplexität natürlich wieder. Dies bedeutet
jedoch keine Wertung, als fände immer nur eine Entwicklung vom
Guten zum Besseren statt.
Jede geschichtliche Epoche besitzt ihre nie wieder erreichten Höhepunkte,
Palestrinna im 16., Johann Sebastian Bach im 18., Anton
Bruckner im 19. Jahrhundert etc. Gleichwohl ist nicht zu übersehen,
dass man bezüglich der spirituellen Entwicklung des Menschen sehr
wohl eine Entwicklung zum Besseren konstatieren kann. Es ist
faszinierend, wie sich der spirituelle Blick des Menschen im Laufe
seiner Entwicklung geweitet hat: vom Tunnelblick des Fetischismus,
der Objekte mit magischen Fähigkeiten belegte, über den Kult, worin
Personen mit Göttlichem belegt waren, bis hin zum ganz weiten und
tiefen Blick mit der Erkenntnis eines Gottes in den monotheistischen
Religionen. Diese Weitung ist in den Künsten selbstverständlich
nachvollziehbar. Sie lösen sich von ihrer ausschließlichen Verankerung
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im Kult und entfalten auf verschiedenen Ebenen des menschlichen
Daseins mannigfaltige Phänomene.
Zeitgestaltung als „sich Ereignendes“
Die Existenz von Bewusstsein impliziert Zeitwahrnehmung, somit auch
die Unterscheidung des Vergangenen, des Gegenwärtigen und
Zukünftigen. War Erinnerungsvermögen erworben, konnte man sich
nicht nur erinnern, man wollte sich erinnern und man wollte natürlich
etwas Erworbenes oder Geleistetes erinnerbar machen. Beim Bild
erschien dies am einfachsten. Aber schon bei Sprache wurde es
komplizierter. Hier sah man sich vor eine interdisziplinäre Herausforderung
gestellt: man musste akustische Phänomene graphisch
darstellen. Bei Musik gestaltete sich dies besonders schwierig.
Versuche, Musik visuell darzustellen, um Zeit und Raum zu
überbrücken, begannen bereits im antiken Ägypten.
Die erste systematische, voll entwickelte Notenschrift gab es dann in
der griechischen Antike, vor allem im Zusammenhang mit
Musiktheorie. Man verwendete Buchstaben, die auch verdreht
geschrieben wurden, um eine bestimmte Ausführungsinstruktion zu
geben. Die Musik war einstimmig. Sie bestand also aus einer Linie, die
von mehreren Sängern und Spielern gleichzeitig ausgeführt wurde.
Solch eine Musik konnte man natürlich auch mündlich tradieren.
„Musike“ nahm in Hellas unter den Musen die Vorrangstellung ein. Sie
stellte die Einheit von Poesie, Weise und Tanz dar. Zeichen für
Zeitgestaltung der Musik existierten nicht. Das, was wir heute
Rhythmus nennen, ereignete sich, es ergab sich von selbst aus dem
Wort, welches die Musik trug. Rhythmus tauchte als Wort erstmals 700
vor Christus auf und bedeutete das Auf und Ab des Glücks.
Ab dem 5. Jahrhundert vor Christus bedeutete der Terminus die
harmonische, gleichmäßige Bewegung beim Tanzen. Die Zeitgestaltung
der Musik manifestierte sich durch die Versfüsse der Dichtung.
Mehrere Versfüsse wurden bekanntlich in einem Metrum zusammengefasst.
Dieses erhielt je nach Anzahl der Versfüsse seinen Namen,
waren es sechs, so hieß es „Hexameter“. Basis der in unserem Sinne
rhythmischen Vorgänge bildete der chronos protos, die „erste Zeit“,
eine Kürze, zwei von diesen Kürzen ergaben dann eine Länge. Aus
diesen Elementen setzten sich die Versfüsse der Dichtung zusammen.
Noch bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts gebrauchte die Musiktheorie
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den Ausdruck Versfuß oder deren verschiedenen Namen, z. B.
Spondeus, Trochäus, Jambus etc. im Bereich der Musiktheorie.
Am Anfang war das Wort, dies gilt wie man sieht nicht nur für die
Bibel. So verwundert es auch keineswegs, dass Augustinus in seiner
musikphilosophischen Schrift „De Musica“ (leider nicht vollständig
erhalten) ausgiebig über Sprache, Worte und ihre rhythmischen
Aspekte nachdenkt.
Auch als sich rein instrumentale Tanzmusik entwickelt hatte, wurde
Musik und ihr Rhythmus in Versfüssen gedacht, die Schritt- bzw.
Sprungfolge gaben ein Übriges zur Orientierung hinsichtlich
Zeitgestaltung. Dies blieb so bis weit ins Mittelalter hinein. Hören wir
zwei kurze Musikbeispiele, einen Gregorianischen Choral aus dem 6.
nachchristlichen Jahrhundert und eine Estampie aus dem 12. Jahrhundert.
Versuchen Sie nachzuempfinden, wie schön der Fluss dieser
Musik das Resultat von Ereignis und gelassene Hingabe ist.
Zeitgestaltung als Kompositionselement
Im Mittelalter geschieht nun etwas in der Europäischen Musik, das
einzigartig ist: die Musik wird mehrstimmig. Mehrere Stimmen singen
gleichzeitig verschiedene Töne mit unterschiedlicher Tondauer. Jetzt
war das Erschaffen eines Musikstückes zum konstruierenden,
organisierenden, kurz rationalen Akt geworden. Zum ersten Mal
sprach man vom Zusammensetzen der Töne, vom Komponieren. Ab
diesem Stadium konnte musikalische Zeitgestaltung nicht mehr länger
Ergebnis eines frei schwingenden Ereignisses sein, die Tondauer
musste jetzt genau vorgeschrieben werden, damit das Stimmgeflecht
seine Struktur sinnvoll und korrekt entfalten konnte. Folglich musste
Notenschrift die Aufgabe erfüllen, den Willen des Komponisten klarer
und klarer darzustellen. Mit graphischen Zeichen mussten von nun an
präzise Zeitwerte ausgedrückt werden.
Hören Sie ein Beispiel früher Mehrstimmigkeit aus dem 13. Jahrhundert,
„Viderunt omnes“ von Perotinus Magnus zu Notre Dame. Sie
können noch eine weitere, kolossale Veränderung erfahren: die
Notenbewegung der Singstimmen ist nicht länger dem Wortrhythmus
unterworfen. Stimmführung, die gewandte Gestaltung musikalischer
Linien war jetzt von größerer Bedeutung als die Vorgabe durch die
Versfüsse des vertonten Textes. Beim nächsten Beispiel, rund 100 Jahre
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später, abermals Notre Dame, vernehmen Sie es noch deutlicher:
Zeitgestaltung ist nun zum selbstständigen, absoluten Gestaltungsfaktor
geworden. Hören wir Guillaume de Machauts Rondeau „Mein
Ende ist mein Anfang“ aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Die
großartige Ära der polyphonen Satzkunst hat ihren Anfang
genommen.
Zeitgestaltung als Stilelement
Im Humanismus, wo der Mensch an sich zum Mittelpunkt aller Dinge
geworden war, wandelte sich die Musik von einer lyrisch-deskriptiven
zu einer dramatisch-expressiven Kunst. In der Monodie, aus der sich
später das Rezitativ und die Arie entwickelten, sollte die Musik zwar
wieder Dienerin des Wortes sein, aber daneben war eine ganz neue
Art von Musik entstanden: die Absolute Musik. Das ist reine
Instrumentalmusik, die nicht auf Text oder Tanz sondern nur auf sich
selbst bezogen war. Ihre Aufgabe bestand in der Darstellung
individueller Affekte. Musikalische Zeitgestaltung erfuhr hier einen
enormen Bedeutungswandel und Bedeutungszuwachs. Vom
Wortrhythmus befreit war sie nicht mehr nur Gestaltungsfaktor, sie
war jetzt selbstständiges Ausdrucksmittel. In Monteverdis
„Combattimento di Tancredi e Clorinda“ von 1638 verschmolz diese
Veränderung mit dem neuen monodischen Gesangsstil und
ermöglichte erstmals die Darstellung von Zorn.
Tempo als formendes Element
Hier tritt noch ein Weiteres zutage: die Geschwindigkeit, das Tempo
dieses Ausschnittes. Aufregung und Wut lassen den Puls ansteigen.
Erst in einer Epoche, wo Zeitgestaltung zum eigenständigen Stilmittel
geworden war, konnte Musik solch ein Phänomen darstellen. Die
Notenwerte, welche ein Komponist wählte, implizierten von nun an
auch die Geschwindigkeit. Zudem hielten Tempovorschriften Einzug in
die Spielanweisungen. Das Tempo selbst war nun Stilelement. Am
Beginn des 17. Jahrhunderts wechselten die Tempoangaben innerhalb
eines Stückes mannigfaltig, ganz so, wie es der jeweilig ausgedrückte
Affekt erforderte. Doch im Verlauf des Jahrhunderts separierten sich
diese verschiedenen Tempoabschnitte voneinander und wurden zu
selbstständigen Sätzen, zyklische Formen konnten somit entstehen,
Suite, Sonate, Symphonie. War Tempo zunächst schon ein eigenständiger
Ausdrucksträger geworden, so geriet er in einer Gesellschaft die
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zunehmend durch chronometrische Reglementierung gekennzeichnet
war, sogar zum Formträger. Die schnellen Sätze mit wirbelnden
Sechzehntelnoten und treibenden so genannten Impulsbässen das sind
schnelle repetierende Achtelnoten in den Bässen, sowie Motorik als
neuem musikalischem Phänomen stellten die Repräsentation des
Absolutistischen Herrschergestus dar, wie uns die Einleitungssinfonia
zu Alessandro Scarlattis Oper „Griselda“(1710) deutlich macht.
Zeitgestaltung – Chronos
Nachdem sich die Instrumentalmusik weitgehend aus dem „Griff“ des
Gesprochenen gelöst hatte, war musikalische Zeitgestaltung kein sich
Ereignendes mehr. Nun war sie zum wesentlichen Element der
persönlichen, künstlerischen Willensvorgabe durch den Komponisten
geworden. Die Notenschrift stellte dadurch eine immer genauer
werdende Vorgabe dar, sie entsprach bereits in großen Teilen dem
heutigen Stand. Man dachte im 18. Jahrhundert nicht mehr in
Versfüssen sondern in Motiven. Vor allem Taktstriche wurden
bedeutsam und der moderne Akzentstufentakt entwickelte sich. Darin
wird eine bestimmte Anzahl von gleichmäßigen Pulsschlägen – Metrum
– hierarchisch zu sinnvollen Einheiten zusammengefasst. Das Metrum
entspricht quasi dem Chronos, der Bewegung eines Uhrzeigers.
Vergleichen wir die vorhin gehörte Estampie aus dem 12. Jahrhundert
mit einem Andante aus Mozarts Posthornserenade, um dies besser
nachfühlen zu können. Bei allem Charme und bei aller Ruhe des
Mozart-Andantes kann man die Kontrolle, den Gestaltungswillen und
die chronometrische Regelmäßigkeit nicht überhören. Kein Wunder,
die Gesellschaft war komplex geworden, Zeitgenauigkeit war
notwendig, Chronometer beherrschten den Tagesablauf.
Chronos und Kairos
Während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgte ein großer
Schub der Europäischen Kultur ins Subjektive und Individualistische,
denken Sie an die „Kopernikanische Wende“, die an Kants Feststellung,
das Objektive existiere erst durch die Wahrnehmung des
Subjekts, festgemacht wird. Und auch Rousseaus Parteiname für das
Individuum und dessen Empfindungen verdeutlichen dies. Der Schub
beförderte Europa in ein neues Zeitalter. Die bürgerliche, freiheitliche
Gesellschaftsordnung begann sich im 19. Jahrhundert durchzusetzen
und die Epoche der Romantik konnte ab ca. 1830 beginnen.
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Die Veränderungen bescherten der Musik nicht nur Neuerungen
sondern auch Probleme. Zeitgestaltung war auf der einen Seite Teil
künstlerischer Willensvollstreckung durch den Komponisten. Auf der
anderen Seite konnte nun der Ausführende sehr eigenwillig mit einem
Werk umgehen, denn die Aufführungspraxis hatte sich vom Vortrag
zur Interpretation mit hermeneutischem Ansatz gewandelt. Melzer
schuf hier eine Möglichkeit zur Abhilfe: Er erfand das Metronom, mit
dessen Hilfe der Komponist das erwünschte tempo mathematisch
genau vorschreiben konnte. Beethoven begann seit 1817 Metronomangaben
seinen Werken voranzustellen. Vorläufer für das Metronom
hatte es bereits seit dem 17. Jahrhundert gegeben, jetzt aber erst
bestand Bedarf an solch einem Hilfsmittel. dass Melzels Erfindung
nicht bloß zum stupiden Üben noch stupiderer Etüden geschaffen
wurde, sehen wir an den Metronomangaben der Beethovenschen
Symphonien, wo sie strikte Vorgaben für den Dirigenten sein sollten.
Von Beethoven selbst berichteten seine Zeitgenossen, er habe sich
durchaus nicht sklavisch an seine eigenen Angaben gehalten. Wie soll
man das auch können, bedenkt man Phänomene wie beispielsweise
Lampenfieber, das durch die Ausschüttung von Adrenalin reale
Zeitempfindung beeinflusst. Wenn ich mir Mitschnitte meiner eigenen
Konzerte anhöre, bin ich oft genug erstaunt, wie rapide die Tempi
sind, obwohl sie mir im Augenblick der Aufführung durchaus maßvoll
erschienen waren. Dann kann es aber auch passieren, dass mir die
selben Tempi später wieder ruhig vorkommen.
Subjektive Zeitwahrnehmung in einer subjektiven Kultur, woran kann
man sich da orientieren, um herauszufinden, was richtig ist? Bei der
Uraufführung von Max Bruchs Violinkonzert hielten sich Dirigent und
Solist nicht an die Tempovorgabe des Komponisten, er spielte um
einiges rascher. Bruch kommentierte dies hinterher, dass er das
schnellere Tempo als viel besser empfand.
Chronos – Kairo
Unabhängig davon, woran wir uns orientieren können oder sollen: das
Lebendige des Musizierens resultiert gerade aus dem Widerspruch
zwischen mathematischer Genauigkeit und individueller Abweichung,
man kann sagen: zwischen Chronos und Kairos, der gleichmäßigen,
exakten Zeiteinteilung und dem durch künstlerische Geschicklichkeit
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kreierten Glücksmoment. Verdichtung von Gefühlen kann künstlerisch
in die Verdichtung musikalischer Zeitgestaltung umgesetzt werden.
Dazu kann es dem Komponisten oder den Interpreten geeignet
erscheinen, ein Metrum außer Acht zu lassen und im Sinne eines
rhetorischen Gestus das Tempo zu beschleunigen oder zu reduzieren.
Tempo rubato lautet der Fachausdruck hierfür, es wurde signifikantes
Stilelement der romantischen Epoche. Mit den Worten ritardando,
accelerando, stringendo etc. im Notentext fordert der Komponist die
Verlangsamung oder Beschleunigung vom Interpreten ein.
Zeit als Material
In der Moderne des 20.Jahrhunderts widerfährt der Handhabung
musikalischer Zeitgestaltung ein bemerkenswerter, gleichwohl zu
erwarten gewesener Wandel, namentlich in der Avantgarde: das
Metrum hat seine Bedeutung verloren, Rhythmus erfüllt nicht mehr die
Funktion motivischer Gestaltung oder der Vermittelung seelischer,
räumlicher und zeitlicher Bewegung. Zeitgestaltung wird hier in den
Dienst der Organisation des immer neu erfundenen Klangmaterials
gestellt, das oftmals wie eine große, bewegungslose Fläche vor uns
zu stehen scheint. Solch ein Phänomen spiegelt das Paradoxon unserer
modernen Gesellschaft wieder, worin Zeit als Dienerin des Materials
bzw. Materiellen behandelt wird.
Das Spannungsverhältnis zwischen Chronos und Kairos bleibt aber
lebendigkeitsspendend, solange musiziert wird. Musik konstituiert
sich durch Tonhöhe, Tonstärke und Tondauer. Wodurch manifestieren
sich letzten Endes die Unterschiede zwischen verschiedenen Interpretationen
eines Werkes? Die Tonhöhe darf nicht verändert werden, weil
unser Gehör die Abweichung als „falsch“ empfinden würde. Jedoch
die Tonstärke bietet eine gewisse Möglichkeit, sie signifikantesten
verleiht die Chronos-Kairos-Spannung, die Akzentuierung und
Platzierung der Tondauer einer Interpretation ihre persönliche Note.
Durch die Tonträger, welche Interpretationsgeschichte überliefern und
hörbar machen, was es schon an Interpretationen gegeben hat, geraten
ausführende Musiker unter erheblichen Druck, sie müssen sich unter
immer schwereren Bedingungen voneinander abgrenzen. Dabei
kommt auch die Überlegung ins Spiel, mit welchen Mitteln ein neuer
Reiz des Gehörten vermittelt werden kann. Dies geht sehr häufig über
kleine Akzentverschiebungen, metrische Eigenwilligkeiten und die
Tempowahl.
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Zu Beginn dieses Vortrages sagte ich, Individuen seien wie Tropfen in
einem mächtigen Strom. Dieser Strom fließt immer schneller,
Veränderungen vollziehen sich rascher und rapider. Es ist vollkommen
logisch, dass die epocheneigene Geschwindigkeit auch die Interpreten
mitreißt, dies kann man in der beständigen Zunahme der Tempi sehen,
welche die Interpreten wählen, man kann durchaus von einem
Interpretationsaccelerando sprechen.
Göttlicher 'Gestaltungsauftrag
Wir gehören der Zeit, der Augenblick gehört uns
Am Beispiel der Musik wird klar, wie abhängig alles von der Zeit und
ihrer Gestaltung ist. Die Zeit gehört nicht uns, wir gehören der Zeit.
Der Fluss gehört nicht dem Tropfen, der Tropfen gehört dem Fluss.
Das Wesen von Zeit lässt sich über die Musik nur spekulativ
ergründen, gleichwohl erfahren wir durch die Musik einiges über die
subjektive Wirkung von Zeit. Wir begreifen durch Musik die
Notwendigkeit, Zeit sinnvoll zu gestalten. Sinnvolle Zeitgestaltung,
das ist ein süperbes Motto, nicht nur für einen Musiker sondern für
jeden Menschen und die Gesellschaft. Das Leben ist für jeden ein
göttlicher Gestaltungsauftrag.
Aus der Vergangenheit Gelerntes soll in der Gegenwart umgesetzt
werden, um einer positiven, günstigen Zukunft möglichst wenig
Hindernisse in den Weg zu stellen. Musik ist wie keine andere Kunst
an den Augenblick gebunden, man lernt als Diener der Musik in
gewissem Maße die Fähigkeit zur Hingabe an den Augenblick – auch
im alltäglichen Leben. Wir sind eine begrenzte Spanne auf dieser Welt
und dürfen mit ein wenig Bewusstsein und Erkenntnisfähigkeit die
Herrlichkeit göttlicher Schöpfung schauen und preisen. Welch ein
Geschenk. Welch eine Verschwendung dagegen, hadernd in der
Vergangenheit zu verharren oder nach verlockenden Früchten der
ungewissen Zukunft zu gieren. Andreas Gryphius hat das im
17. Jahrhundert viel eindrucksvoller und schöner mit folgenden
Worten gesagt:
Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen;
mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen.
Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in Acht,
so ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht!

Donnerstag, 9. Oktober 2008

Schubert - Über Musik und Empathie

Schubert – über Musik und Empathie

Abscheulicher! Wo eilst du hin?
Was hast du vor in wildem Grimme?
Des Mitleids Ruf, der Menschheit Stimme,
Rührt nichts mehr deinen Tigersinn?
(Leonoreim1.Aufzug von Beethovens Fidelio)

Beziehungsfähigkeit - Empathie
Eine derjenigen Fähigkeiten, worin sich die Menschheit definitiv vom Tier unterscheidet, ist Beziehungsfähigkeit. Durch sie vermag der Mensch das zu empfinden, was im oben angeführten Zitat aus Beethovens einziger Oper Fidelio (1805)
eindrucksvoll „Stimme der Menschheit“ genannt wird: Mitleid. Gemeint ist hier nicht etwa Bedauern, auch nicht die göttliche Tugend, das Erbarmen. Die Meisten fühlen sich als Empfänger derartiger Empfindungen heutzutage in ihrer Würde herabgesetzt. Gemeint ist im Zitat die ursprüngliche Bedeutung von Mitleid: nämlich das Vermögen, sich in einen Anderen hineinzufühlen, sich vorstellen zu können, wie „es“ für ihn sein mag und entsprechend ethisch zu handeln. Wegen der Bedeutungsverschiebung des Begriffes Mitleid wird hier „Empathie“ bevorzugt. Sie ist freilich von Individuum zu Individuum jeweils in unterschiedlichem Maße vorhanden. Man kann sie üben, jedoch nicht unbegrenzt vermehren und schon gar nicht erzwingen. Aber sie ist definitiv eine Quelle ethischer Prinzipien und Forderungen. Bei Tieren steuern Instinkt und Trieb das Zusammenleben in Rudel oder Herde. Für die Organisation menschlichen Zusammenlebens, der Gesellschaft also, braucht es ethische Prinzipien und ethisches Handeln. So kam es über einen langwierigen Entwicklungsprozess, geprägt durch den Monotheismus des Judentums, das Christentum, den Humanismus und die Aufklärung zur Vision unserer modernen, freiheitlichen, demokratischen, dem Individuum gemäßen Gesellschaftsordnung, welche sich den Menschenrechten verpflichtet fühlt.
Dazu gehört dann aber noch ein Weiteres. Es ist das, zu dem jeder Mensch einen natürlichen Drang verspürt: Freiheit.
Am Ende des ersten Fidelioaktes erklingt der Gefangenenchor, wenn die Gefangenen einmal auf Drängen Leonorens und auf Geheiß Roccos aus ihrem Kerker heraus an das Tageslicht und die freie Luft gehen dürfen. Hier wird die Freiheit als unentbehrliches Gut der menschlichen Existenz und somit der Gesellschaft metaphorisch beschworen:
„O welche Lust, in freier Luft
Den Atem leicht zu heben!
Nur hier, nur hier ist Leben,
Der Kerker eine Gruft.“.
Mit der Französischen Revolution hatte man den „Kerker“ – die Alte Gesellschaft zu zerstören versucht. Man wollte die neue Gesellschaft aufbauen, was ja bekanntlich fehlschlug. Aber die freiheitlichen Ideen lebten weiter und wirkten. Beethovens „Fidelio“ belegt dies und stellt ein beständiges politisches Postulat dar. Die bürgerliche Gesellschaft ließ sich auch nicht durch reaktionäre Feldzüge aufhalten. Mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 wurde die Restauration in Gang gesetzt. Man versuchte letzten Endes vergeblich, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Künstler und Denker litten unsäglich unter dem Terror von Zensur, Verfolgung und Inhaftierung.
Beethoven, von kämpferischer, selbstbewusster Natur, war als prominenter Künstler weniger gefährdet. Gleichwohl blieb seine Symphonie Nr.3 Es-Dur, die Eroica, in Prag noch bis 1848 mit Aufführungsverbot belegt. Franz Schubert jedoch geriet ins Visier der Metternichschergen, weil einige seiner Schriftstellerfreunde sowie deren Texte als Bedrohung des Staates angesehen wurden.
Seine Freunde beschrieben Schubert als umgänglichen Menschen, der aber auch sehr heftig und unhöflich werden konnte, wenn ihm etwas nicht behagte oder aufstieß. Schubert fühlte sich dem Wahrhaftigen verpflichtet. Ein Indiz dafür liefert das Credo in seiner ersten Messe aus G-Dur (1814). An der Stelle „ich glaube an den Heiligen Geist“ unterließ Schubert den Passus „die Heilige, Katholische Kirche“. Sie war in den Augen der Fortschrittlichen mit dem alten Regime, welches es zu beseitigen galt, zu eng verflochten. Darum nahm sich der gläubige Schubert „die Freiheit“ und ließ diesen Passus weg. Für uns erscheint so etwas heutzutage selbstverständlich, weil unsere Gesellschaft so freizügig geworden ist, zu Schuberts Zeiten bedeutete es nahezu eine Heldentat.

Form - Freiehit - Empathie

Die freie Gesellschaft, wie wir sie kennen, nahm ihren Anfang zur Zeit Schuberts. Alte Probleme wurden beseitigt, neue wurden geschaffen. Das Handeln nach eigenem Willen war ins Zentrum des modernen, bürgerlichen Freiheitsbegriffes gerückt. Weil aber der Wille vom Individuum nicht vollkommen kontrollierbar ist, erweist sich dieser Begriff als Phantasmagorie. Im fortgeschrittenen Stadium einer Kultur bzw. Gesellschaftsform, die auf einem Willenorientierten Freiheitsbegriff basiert, kreisen die Individuen um sich selber, gleichsam Satelliten im Gravitationsfeld ihres Willens. Das Ego wird zum Zentrum, Transzendenz oder Orientierung an etwas Übergeordnetem verliert kollektiv an Bedeutung, die Subjektivität expandiert enorm. Alsbald wird das subjektiv Wahrgenommene nicht mehr von der objektiven Realität unterschieden. Bei den Individuen einer solchen Kultur verringert sich die Individuation und damit auch empathisches Vermögen. Man verharrt in der eigenen, stets guten Absicht. Diese rechtfertigt das eigene Handeln und entbindet den Handelnden scheinbar von seiner Verantwortung für das tatsächliche Resultat der Handlungen. Ich habe es doch gut gemeint, ich wollte nur das Beste etc. , solche Entschuldigungen sind uns ja allen bekannt.
In den Schönen Künsten ergeben sich selbstverständlich Probleme, wenn empathische Fähigkeiten sich reduzieren und die Absicht in den Vordergrund rückt. Das Verhältnis-Dreieck Künstler – Kunstwerk – Publikum, welches im Idealfall gleichschenkelig wäre, erfährt eine gewaltige Deformation. Der Künstler und sein Kunstwerk liegen nun ganz eng beieinander, das Publikum ist weit entfernt. Man kann sich ein Dreieck mit extrem langer Grundlinie vorstellen, wobei der linke Schenkel winzig, der rechte sehr gedehnt und die Höhe minimal erscheinen. Im Falle von Musik ergeben sich nun gravierende Probleme. Ein Bild oder ein Text verweilen real körperlich fassbar, solange der Blick des Betrachters auf ihnen ruht. Musik ist unmittelbar an den Zeitablauf gebunden, kaum ist etwas erklungen, gehört es bereits der Vergangenheit an, während im nächsten Augenblick schon wieder Neues erklingt, weil das Stück ja weitergeht. Musik ist nur über Erinnerung erfassbar (es sei denn, man hätte den Notentext direkt vor sich).
Der Inhalt von Musik ist daher nur über Festlegung, über Bindung zu vermitteln oder zu begreifen. Solch eine Bindung kann Verschiedenes sein: ein gesellschaftliches Ritual (geistlich oder Weltlich), ein Text, aber auch Bewegung als Ausdruck bzw. Charakterisierung, man denke an Gesellschaftstanz oder Ballett. Bei Absoluter Musik (bei Sonate oder Symphonie etwa), die sich nicht auf Äußeres sondern auf sich selbst bezieht, wird Bindung durch Vorgabe beispielsweise einer allgemein verbindlichen Form sowie ästhetischer Prinzipien möglich. Die Intensität der Bindung an Form und Prinzipien lassen den Stand der Subjektivität einer Kultur erkennen. Daraus wiederum kann man Rückschlüsse darauf ziehen, wie frei die Individuen einer Gesellschaft waren oder sind.
Im Zeitalter des Absolutismus zum Beispiel befand sich der Herrscher einer bestimmten Region ganz im Zentrum allen gesellschaftlichen Geschehens, Alles bezog sich direkt oder indirekt auf ihn. In dieser Zeit stand die Fuge mit ihren strengen Prinzipien hoch im Kurs. In ihr bestand die Freiheit, der subjektive Anteil des Komponisten lediglich darin, das Fugenthema selber zu erfinden. Das Thema nannte man damals bezeichnenderweise „Subictum“. Zwar konnte der Fugenkomponist über Dramatik und Ausmaß seiner Fuge selbst bestimmen (Selbstbestimmung des Individuums), doch darüber hinaus hatte er sich strikt den strengen Satzprinzipien der Gattung Fuge zu unterwerfen (Staatsräson des Absolutismus) . Alles in der Fuge richtete sich strikt nach dem „subiektun“ (Ausrichtung auf den Herrscher).. Dieses zitierte der Komponist immer wieder unverwandelt in einer der Stimmen. Es durfte höchstens gemäß mathematischer Prinzipien unterschiedlich erscheinen: auf dem Kopf stehend (mit Minus multipliziert), rückwärts verlaufend (an einer Symmetrieachse gespiegelt), in halbierten oder doppelten Notenwerten gesetzt (dividiert bzw. multipliziert). Unterwerfung des Subjektiven unter festgelegte Prinzipien und nicht freie Gedankenarbeit charakterisieren die Gattung der Fuge.
Als dann die fortschrittlichen, bürgerlichen Kräfte wirksam wurden und die Aufklärung mit ihren liberalen Ideen vorangeschritten war, entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 18Jahrhunderts die Sonatenform. Sie ermöglichte eine freie Gedankenarbeit des Komponisten, weil dieser nun nicht mehr durch eine Fülle strenger Satzprinzipien eingeschnürt war. Die Bindung an das allgemein bekannte Schema der Sonatenform erlaubte es den Hörern, die Gedankenarbeit zu verfolgen, was sie zum Verstehen eines neuen Werkes befähigte. Der Komponist versetzte sich in sein Publikum, indem er die Form einhielt, das Publikum konnte sich dadurch am Geschehen der Gedankenarbeit beteiligen - der empathische Zustand einer Gesellschaft, deren Hauptmerkmal noch nicht Entfremdung gewesen ist. Je freier und selbstbestimmter die Individuen einer Gesellschaft sind, umso notwendiger ist Empathie.
Beethoven war unzweifelhaft der Komponist, welcher, verglichen mit allen seinen Kollegen vor ihm, am individuellsten schuf. Er wollte natürlich verstanden werden. Um die Bedeutung der Form für ein Verständnis wissend gab er sie nicht auf. In seinem musikgeschichtlichen Verantwortungsbewusstsein, stets auf Weiterentwicklung bedacht, versuchte er daher, sie immer wieder nur zu individualisieren statt sie aufzugeben. Weil die Gesellschaft im Verlauf des 19.Jahrhunderts für die Bürger im Sinne von Willensvollstreckung immer freier wurde, gerieten überlieferte Form und Individualität nahezu in antagonistische Widersprüche.
Die Oper hatte es leichter. In ihr war Gedankenarbeit (noch) nicht relevant (Wagner hatte die „Bühne noch nicht betreten). Ihr lagen Texte zugrunde und man sah eine Handlung auf der Bühne, die, in Zeiten vor dem Regietheater, noch kongruent mit der Musik war.
Im Prozess der Individualisierung unserer Kultur hatte die Oper gelernt, wirkliche Individuen musikalisch zu beschreiben.
Ein Opernkomponist ist empathisch mehrfach gefordert. Er muss sich vorstellen können, wie seine fiktiven Protagonisten sich in bestimmten Situationen verhalten oder fühlen. Doch mehr noch: er muss sich auch in sein Publikum hineinversetzen. Zum einen muss er sich vorstellen, mit welchen kompositorischen Mitteln er die handelnden Figuren deutlich „zeichnen“ kann. Zum anderen muss er wissen, wie er die Empfindungen des Publikums für oder gegen die Protagonisten mobilisieren kann. Es geht schließlich darum, die Dramaturgie von der Bühne in den Zuschauerraum zu übertragen. Unabhängig von Kulturkreis oder geschichtlicher Epoche kann Kunst nur entstehen bzw. verstanden werden, wenn Menschen empathische Fähigkeiten besitzen. Kunst überlebt nur, wenn sich das Publikum berühren lassen kann.
Hat eine Kultur oder Gesellschaft ihre empathischen Fähigkeiten erst einmal eingebüßt, so haben es die Künste besonders schwer, weil sie vom zeitgenössischen Publikum nicht mehr verstanden werden. Das ist die Situation heutzutage.
Zu Beethovens und Schuberts Zeiten hatten die Probleme erst langsam ihren Anfang genommen.

Dieschubert-idiomatische Ausdrucksweise

Manche fragen sich, warum Beethoven nur eine Oper komponiert hat. Er war zwar ein dramatischer Komponist, aber bei ihm stand die freie Gedankenarbeit im Vordergrund und nicht die Verarbeitung von Texten. Daher stellte die Absolute Musik den Schwerpunkt seines Schaffens dar. Bei Mozart, ja selbst bei Haydn mit seinem gewaltigen Schaffen an Symphonien, Sonaten und Streichquartetten, verhielt sich das noch anders. Die internationale Bedeutung von Symphonie, Sonate und Streichquartett konnte erst in der bürgerlichen Gesellschaft entstehen, weil sich in ihr die Musik vom Gebrauchsgegenstand zum Anbetungsobjekt einer Elite gewandelt hatte.
Mit der Oper verhielt es sich zunächst noch anders. Sie war niederen wie höheren Gesellschaftsschichten gleichermaßen zugänglich. Dies lag einmal an der leichteren Verständlichkeit durch die Verflechtung von Text, Musik und szenischem Geschehen. Zum anderen musste sie eine „Massenveranstaltung“ sein, weil nur maximale Publikumszahlen den finanziellen Aufwand von Aufführungen annähernd abdecken konnten.
Zu Beginn des 19.Jahrhunderts war die Oper noch eine italienische Domäne gewesen. Jedoch in den neuen Produktionsverhältnissen begann sich die Idee des Nationalstaates durchzusetzen und mit ihr entstanden in den Künsten die verschiedenen Nationalstile. Man besann sich auf die eigenen volkstümlichen Traditionen. Volksmusik war nunmehr eine wesentliche Inspirationsquelle und so pries man denn auch zunächst noch das Einfache und Schlichte. Außerdem ging man dazu über, Opern in der eigenen Landessprache zu vertonen. Das Singspiel in deutscher Sprache, welches zögerlich im 18.Jahrhundert zu existieren begonnen hatte, war jetzt äußerst gefragt, vor allem in Wien. Carl Maria von Webers romantische Oper „Der Freischütz“ (von 1822) stellt dann ein bedeutendes Beispiel für den Anfang der „Deutschen Oper“ dar. Sie wies ganz eigene Züge auf. Dies lag nicht zuletzt am symphonischen „Know How“ , welches Weber zur Beschreibung von Stimmungsbildern in den verschiedenen Szenen einsetzte. In Italien, dem Mutterland der Oper beherrschte ein Komponist die Szene, dessen Name alsbald in ganz Europa in aller Munde war: Gioacchino Rossini. Er machte die Zuhörer geradezu süchtig auf seine feurige Musik – und auch die Komponisten außerhalb des Operngenres gerieten unter Rossinis Einfluss. Der Finalsatz von Schuberts dritter Symphonie in D-Dur beweist dies mit seinem Tarantellacharakter.
Schubert wollte als freischaffender Komponist leben. In einer Zeit, da sich die Bedeutung der Absoluten Musik erst allmählich als international relevant zu entwickeln begann, konnte man am besten als Opernkomponist zu Weltruhm gelangen und damit von seiner Kunst leben.
Antonio Salieri empfahl seinem Schüler Franz Schubert daher, Opern zu komponieren – in italienischer Sprache versteht sich. Doch der Schüler folgte seinem so sehr geschätzten Lehrer nicht. Er versuchte es zunächst mit Singspielen: 1815 entstanden „Fernando“ und „Claudine Bella Villa“. Letzterem lag ein Goethetext zugrunde. Bereits in der Ouvertüre dieses Werkes werden wir Zeugen für den großen Einfluss Beethovens auf Schubert. Doch vor allem das Eigene, ganz Andere überstrahlt den Einfluss. Es ist der romantische Duktus, es ist die spezielle Instrumentierung (die keinesfalls nur der geringen Orchester-Erfahrung entspringt sondern kompositorischer Absicht), und es ist vor allem die ausdrucksvolle, ungewöhnliche Harmonik, die so früh bereits auf Bruckner hinweist. Im weiteren Verlauf finden sich selbstverständlich auch konventionelle Elemente, wie man sie in den Singspielen der Wiener Kollegen findet. Der ausnehmend geschickte kompositorische Umgang mit der menschlichen Stimme ist hier, wie auch bei seinen noch früheren Werken, ebenso auffällig wie beeindruckend. Dennoch blieben die Singspiele und Opern Schuberts vergleichsweise erfolglos. Bis heute konnten sie keinen festen Platz im gängigen Opernrepertoire erringen, obwohl hervorragende Dirigenten wie etwa Nicolaus Harnoncourt sich durch exquisite Aufführungen immer wieder darum bemüht haben. Es sind nun nicht etwa kompositorische Mängel der Grund dafür. Es ist vielmehr die Schubert-idiomatische Ausdrucks- und Artikulationsweise. Sie konnte sich nur wenig in großflächigen dramatischen Opern mit aufwendigen Arien manifestieren. Das Kunstlied mit Klavierbegleitung, komprimiert, konzentriert und zeiträumlich begrenzt bot die idealen Voraussetzungen. 1815, im Entstehungsjahr der beiden oben genannten Singspiele, komponierte Schubert weit über 100 Lieder. Damals konnte man sich mit einem qualitätsvollen Liedschaffen aber noch keinen internationalen Namen machen. Die Konzertpodien waren von Solovirtuosen oder Orchestern beherrscht. Das Lied und das Streichquartett hatte fast ausnahmslos in den Salons seinen Platz. Erst seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts wurden dann auch Liederabende im Konzertsaal Usus.

Schubert hat das Lied aus der haus- und gebrauchsmusikalischen Enge des 18.Jahrhunderts befreit und zu einer relevanten, modernen, zeitübergreifenden Kunstgattung erhoben. Die Melodie trägt hier nicht mehr den Text bloß durch Zeichnung einer Grundstimmung sondern deutet ihn detailliert aus. Die konsequente musikalische Textausdeutung war im späten 16.Jahrhundert von der Florentiner Camarata gefordert worden und führte zur Entstehung von Oper und Oratorium, zu Arie und Rezitativ. Im Lied geschah dies erst bei Schubert. Der Klavierpart seiner Lieder ist weit mehr als nur Begleitung. Er ist gleichberechtigter Partner der Singstimme, welcher den Text seinerseits paritätisch ausdeutet. Für tonmalerische Effekte wie in der Programmmusik besteht hierbei nur wenig Raum. Die oftmals tiefenpsychologische Textausdeutung der Klavierparts bewerkstelligt Schubert mittels Gedankenarbeit wie in der Absoluten Musik. Diese wiederum erfuhr ihrerseits in der reifen Schaffensphase Schuberts eine Durchdringung durch das Liedhafte. Am klarsten hören wir dies im den Impromptus und Moments Musicaux, sie führen direkt zu Mendelson Bartholdys „Lieder ohne Worte“.
In den großen Gattungen - Sonate, Symphonie und Streichquartett – entschärfte sich der Widerspruch zwischen überkommener Form und ausgeprägter Individualität durch liedhafte Behandlung. Sie macht die subjektive und individualistische Formhandhabung sowie die Gedankenarbeit durchschaubarer und fasslicher als zum Beispiel bei den letzten Beethoven Klaviersonaten oder Streichquartetten.
Die Oper als Raum dramatischen Handelns ist weniger empathisch als das Lied. Die Oper funktioniert ihrem Wesen nach nur dann, wenn es ihr gelingt, das Publikum unmittelbar in die Dramatik einzubeziehen. Das geht freilich nur dadurch, dass seine Emotionen manipuliert werden - für oder gegen die verschiedenen Protagonisten. Dies bedeutet nichts anderes, als dass die Hörer durch den Willen eines Komponisten gegängelt werden müssen.
Das Lied ist der Raum des Erzählens. Es wird vorgetragen, nicht agiert. Insofern lässt es dem Zuhörer viel mehr Freiraum für Assoziationen. Es steht daher der Absoluten Musik näher, deren weitgehend abstraktes Wesen den allergrößten Freiraum für Gedanken- oder Gefühlsassoziationen gewährt.
Die natürliche, wesensbedingte Zurückhaltung des Liedhaften zwingt dem Hörer kein Gefühl auf. Dadurch ist ein wesentlicher Bestandteil von Empathie vorhanden, wie er bei Analytikern oder Therapeuten unentbehrlich ist: sich in einen Menschen hineinzuversetzen, ohne dessen Empfindung in sich selber hochkommen zu lassen. Dies gilt freilich für alle Menschen, denn nur dann kann ethisches Handeln als Konsequenz erfolgen, und Blockaden, Abwehr oder gar Sentimentalität verhindert werden.

Empathie kann und soll nicht erzwungen werden. Man kann sie nicht unbegrenzt vermehren, aber man kann und muss sich in ihr üben.
Der Trend unserer Kultur und Gesellschaftsform, worin sich Beziehungsfähigkeit und empathisches Vermögen mehr und mehr reduzieren, lässt sich nicht gewaltsam aufhalten oder gar umkehren.
Aber die Schönen Künste sind Anschauungs- und Lehrmaterial, weil sie nicht isolierte Phänomene sondern Resultat mannigfaltiger Beziehungen sind; Beziehungen zwischen Menschen, zwischen Individuum und Gesellschaft, vor allem zwischen Mensch und Gott. Wenn wir Kunst nur als Konsumartikel, Wellnessfaktor oder Statussymbol behandeln, zeigt dies, wie egozentrisch unsere Kultur bereits geworden ist. Gleichwohl beschreibt diese Aussage ein Paradoxon, weil Egozentrik und Kultur sich ausschließen.
Schuberts Werk bietet uns immer wieder Möglichkeit, besonders über Empathie als Elementarteil von Beziehungsfähigkeit nachzudenken, vielleicht sogar, uns zu verändern.