Schubert – über Musik und Empathie
Abscheulicher! Wo eilst du hin?
Was hast du vor in wildem Grimme?
Des Mitleids Ruf, der Menschheit Stimme,
Rührt nichts mehr deinen Tigersinn?
(Leonoreim1.Aufzug von Beethovens Fidelio)
Beziehungsfähigkeit - Empathie
Eine derjenigen Fähigkeiten, worin sich die Menschheit definitiv vom Tier unterscheidet, ist Beziehungsfähigkeit. Durch sie vermag der Mensch das zu empfinden, was im oben angeführten Zitat aus Beethovens einziger Oper Fidelio (1805)
eindrucksvoll „Stimme der Menschheit“ genannt wird: Mitleid. Gemeint ist hier nicht etwa Bedauern, auch nicht die göttliche Tugend, das Erbarmen. Die Meisten fühlen sich als Empfänger derartiger Empfindungen heutzutage in ihrer Würde herabgesetzt. Gemeint ist im Zitat die ursprüngliche Bedeutung von Mitleid: nämlich das Vermögen, sich in einen Anderen hineinzufühlen, sich vorstellen zu können, wie „es“ für ihn sein mag und entsprechend ethisch zu handeln. Wegen der Bedeutungsverschiebung des Begriffes Mitleid wird hier „Empathie“ bevorzugt. Sie ist freilich von Individuum zu Individuum jeweils in unterschiedlichem Maße vorhanden. Man kann sie üben, jedoch nicht unbegrenzt vermehren und schon gar nicht erzwingen. Aber sie ist definitiv eine Quelle ethischer Prinzipien und Forderungen. Bei Tieren steuern Instinkt und Trieb das Zusammenleben in Rudel oder Herde. Für die Organisation menschlichen Zusammenlebens, der Gesellschaft also, braucht es ethische Prinzipien und ethisches Handeln. So kam es über einen langwierigen Entwicklungsprozess, geprägt durch den Monotheismus des Judentums, das Christentum, den Humanismus und die Aufklärung zur Vision unserer modernen, freiheitlichen, demokratischen, dem Individuum gemäßen Gesellschaftsordnung, welche sich den Menschenrechten verpflichtet fühlt.
Dazu gehört dann aber noch ein Weiteres. Es ist das, zu dem jeder Mensch einen natürlichen Drang verspürt: Freiheit.
Am Ende des ersten Fidelioaktes erklingt der Gefangenenchor, wenn die Gefangenen einmal auf Drängen Leonorens und auf Geheiß Roccos aus ihrem Kerker heraus an das Tageslicht und die freie Luft gehen dürfen. Hier wird die Freiheit als unentbehrliches Gut der menschlichen Existenz und somit der Gesellschaft metaphorisch beschworen:
„O welche Lust, in freier Luft
Den Atem leicht zu heben!
Nur hier, nur hier ist Leben,
Der Kerker eine Gruft.“.
Mit der Französischen Revolution hatte man den „Kerker“ – die Alte Gesellschaft zu zerstören versucht. Man wollte die neue Gesellschaft aufbauen, was ja bekanntlich fehlschlug. Aber die freiheitlichen Ideen lebten weiter und wirkten. Beethovens „Fidelio“ belegt dies und stellt ein beständiges politisches Postulat dar. Die bürgerliche Gesellschaft ließ sich auch nicht durch reaktionäre Feldzüge aufhalten. Mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 wurde die Restauration in Gang gesetzt. Man versuchte letzten Endes vergeblich, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Künstler und Denker litten unsäglich unter dem Terror von Zensur, Verfolgung und Inhaftierung.
Beethoven, von kämpferischer, selbstbewusster Natur, war als prominenter Künstler weniger gefährdet. Gleichwohl blieb seine Symphonie Nr.3 Es-Dur, die Eroica, in Prag noch bis 1848 mit Aufführungsverbot belegt. Franz Schubert jedoch geriet ins Visier der Metternichschergen, weil einige seiner Schriftstellerfreunde sowie deren Texte als Bedrohung des Staates angesehen wurden.
Seine Freunde beschrieben Schubert als umgänglichen Menschen, der aber auch sehr heftig und unhöflich werden konnte, wenn ihm etwas nicht behagte oder aufstieß. Schubert fühlte sich dem Wahrhaftigen verpflichtet. Ein Indiz dafür liefert das Credo in seiner ersten Messe aus G-Dur (1814). An der Stelle „ich glaube an den Heiligen Geist“ unterließ Schubert den Passus „die Heilige, Katholische Kirche“. Sie war in den Augen der Fortschrittlichen mit dem alten Regime, welches es zu beseitigen galt, zu eng verflochten. Darum nahm sich der gläubige Schubert „die Freiheit“ und ließ diesen Passus weg. Für uns erscheint so etwas heutzutage selbstverständlich, weil unsere Gesellschaft so freizügig geworden ist, zu Schuberts Zeiten bedeutete es nahezu eine Heldentat.
Form - Freiehit - Empathie
Die freie Gesellschaft, wie wir sie kennen, nahm ihren Anfang zur Zeit Schuberts. Alte Probleme wurden beseitigt, neue wurden geschaffen. Das Handeln nach eigenem Willen war ins Zentrum des modernen, bürgerlichen Freiheitsbegriffes gerückt. Weil aber der Wille vom Individuum nicht vollkommen kontrollierbar ist, erweist sich dieser Begriff als Phantasmagorie. Im fortgeschrittenen Stadium einer Kultur bzw. Gesellschaftsform, die auf einem Willenorientierten Freiheitsbegriff basiert, kreisen die Individuen um sich selber, gleichsam Satelliten im Gravitationsfeld ihres Willens. Das Ego wird zum Zentrum, Transzendenz oder Orientierung an etwas Übergeordnetem verliert kollektiv an Bedeutung, die Subjektivität expandiert enorm. Alsbald wird das subjektiv Wahrgenommene nicht mehr von der objektiven Realität unterschieden. Bei den Individuen einer solchen Kultur verringert sich die Individuation und damit auch empathisches Vermögen. Man verharrt in der eigenen, stets guten Absicht. Diese rechtfertigt das eigene Handeln und entbindet den Handelnden scheinbar von seiner Verantwortung für das tatsächliche Resultat der Handlungen. Ich habe es doch gut gemeint, ich wollte nur das Beste etc. , solche Entschuldigungen sind uns ja allen bekannt.
In den Schönen Künsten ergeben sich selbstverständlich Probleme, wenn empathische Fähigkeiten sich reduzieren und die Absicht in den Vordergrund rückt. Das Verhältnis-Dreieck Künstler – Kunstwerk – Publikum, welches im Idealfall gleichschenkelig wäre, erfährt eine gewaltige Deformation. Der Künstler und sein Kunstwerk liegen nun ganz eng beieinander, das Publikum ist weit entfernt. Man kann sich ein Dreieck mit extrem langer Grundlinie vorstellen, wobei der linke Schenkel winzig, der rechte sehr gedehnt und die Höhe minimal erscheinen. Im Falle von Musik ergeben sich nun gravierende Probleme. Ein Bild oder ein Text verweilen real körperlich fassbar, solange der Blick des Betrachters auf ihnen ruht. Musik ist unmittelbar an den Zeitablauf gebunden, kaum ist etwas erklungen, gehört es bereits der Vergangenheit an, während im nächsten Augenblick schon wieder Neues erklingt, weil das Stück ja weitergeht. Musik ist nur über Erinnerung erfassbar (es sei denn, man hätte den Notentext direkt vor sich).
Der Inhalt von Musik ist daher nur über Festlegung, über Bindung zu vermitteln oder zu begreifen. Solch eine Bindung kann Verschiedenes sein: ein gesellschaftliches Ritual (geistlich oder Weltlich), ein Text, aber auch Bewegung als Ausdruck bzw. Charakterisierung, man denke an Gesellschaftstanz oder Ballett. Bei Absoluter Musik (bei Sonate oder Symphonie etwa), die sich nicht auf Äußeres sondern auf sich selbst bezieht, wird Bindung durch Vorgabe beispielsweise einer allgemein verbindlichen Form sowie ästhetischer Prinzipien möglich. Die Intensität der Bindung an Form und Prinzipien lassen den Stand der Subjektivität einer Kultur erkennen. Daraus wiederum kann man Rückschlüsse darauf ziehen, wie frei die Individuen einer Gesellschaft waren oder sind.
Im Zeitalter des Absolutismus zum Beispiel befand sich der Herrscher einer bestimmten Region ganz im Zentrum allen gesellschaftlichen Geschehens, Alles bezog sich direkt oder indirekt auf ihn. In dieser Zeit stand die Fuge mit ihren strengen Prinzipien hoch im Kurs. In ihr bestand die Freiheit, der subjektive Anteil des Komponisten lediglich darin, das Fugenthema selber zu erfinden. Das Thema nannte man damals bezeichnenderweise „Subictum“. Zwar konnte der Fugenkomponist über Dramatik und Ausmaß seiner Fuge selbst bestimmen (Selbstbestimmung des Individuums), doch darüber hinaus hatte er sich strikt den strengen Satzprinzipien der Gattung Fuge zu unterwerfen (Staatsräson des Absolutismus) . Alles in der Fuge richtete sich strikt nach dem „subiektun“ (Ausrichtung auf den Herrscher).. Dieses zitierte der Komponist immer wieder unverwandelt in einer der Stimmen. Es durfte höchstens gemäß mathematischer Prinzipien unterschiedlich erscheinen: auf dem Kopf stehend (mit Minus multipliziert), rückwärts verlaufend (an einer Symmetrieachse gespiegelt), in halbierten oder doppelten Notenwerten gesetzt (dividiert bzw. multipliziert). Unterwerfung des Subjektiven unter festgelegte Prinzipien und nicht freie Gedankenarbeit charakterisieren die Gattung der Fuge.
Als dann die fortschrittlichen, bürgerlichen Kräfte wirksam wurden und die Aufklärung mit ihren liberalen Ideen vorangeschritten war, entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 18Jahrhunderts die Sonatenform. Sie ermöglichte eine freie Gedankenarbeit des Komponisten, weil dieser nun nicht mehr durch eine Fülle strenger Satzprinzipien eingeschnürt war. Die Bindung an das allgemein bekannte Schema der Sonatenform erlaubte es den Hörern, die Gedankenarbeit zu verfolgen, was sie zum Verstehen eines neuen Werkes befähigte. Der Komponist versetzte sich in sein Publikum, indem er die Form einhielt, das Publikum konnte sich dadurch am Geschehen der Gedankenarbeit beteiligen - der empathische Zustand einer Gesellschaft, deren Hauptmerkmal noch nicht Entfremdung gewesen ist. Je freier und selbstbestimmter die Individuen einer Gesellschaft sind, umso notwendiger ist Empathie.
Beethoven war unzweifelhaft der Komponist, welcher, verglichen mit allen seinen Kollegen vor ihm, am individuellsten schuf. Er wollte natürlich verstanden werden. Um die Bedeutung der Form für ein Verständnis wissend gab er sie nicht auf. In seinem musikgeschichtlichen Verantwortungsbewusstsein, stets auf Weiterentwicklung bedacht, versuchte er daher, sie immer wieder nur zu individualisieren statt sie aufzugeben. Weil die Gesellschaft im Verlauf des 19.Jahrhunderts für die Bürger im Sinne von Willensvollstreckung immer freier wurde, gerieten überlieferte Form und Individualität nahezu in antagonistische Widersprüche.
Die Oper hatte es leichter. In ihr war Gedankenarbeit (noch) nicht relevant (Wagner hatte die „Bühne noch nicht betreten). Ihr lagen Texte zugrunde und man sah eine Handlung auf der Bühne, die, in Zeiten vor dem Regietheater, noch kongruent mit der Musik war.
Im Prozess der Individualisierung unserer Kultur hatte die Oper gelernt, wirkliche Individuen musikalisch zu beschreiben.
Ein Opernkomponist ist empathisch mehrfach gefordert. Er muss sich vorstellen können, wie seine fiktiven Protagonisten sich in bestimmten Situationen verhalten oder fühlen. Doch mehr noch: er muss sich auch in sein Publikum hineinversetzen. Zum einen muss er sich vorstellen, mit welchen kompositorischen Mitteln er die handelnden Figuren deutlich „zeichnen“ kann. Zum anderen muss er wissen, wie er die Empfindungen des Publikums für oder gegen die Protagonisten mobilisieren kann. Es geht schließlich darum, die Dramaturgie von der Bühne in den Zuschauerraum zu übertragen. Unabhängig von Kulturkreis oder geschichtlicher Epoche kann Kunst nur entstehen bzw. verstanden werden, wenn Menschen empathische Fähigkeiten besitzen. Kunst überlebt nur, wenn sich das Publikum berühren lassen kann.
Hat eine Kultur oder Gesellschaft ihre empathischen Fähigkeiten erst einmal eingebüßt, so haben es die Künste besonders schwer, weil sie vom zeitgenössischen Publikum nicht mehr verstanden werden. Das ist die Situation heutzutage.
Zu Beethovens und Schuberts Zeiten hatten die Probleme erst langsam ihren Anfang genommen.
Dieschubert-idiomatische Ausdrucksweise
Manche fragen sich, warum Beethoven nur eine Oper komponiert hat. Er war zwar ein dramatischer Komponist, aber bei ihm stand die freie Gedankenarbeit im Vordergrund und nicht die Verarbeitung von Texten. Daher stellte die Absolute Musik den Schwerpunkt seines Schaffens dar. Bei Mozart, ja selbst bei Haydn mit seinem gewaltigen Schaffen an Symphonien, Sonaten und Streichquartetten, verhielt sich das noch anders. Die internationale Bedeutung von Symphonie, Sonate und Streichquartett konnte erst in der bürgerlichen Gesellschaft entstehen, weil sich in ihr die Musik vom Gebrauchsgegenstand zum Anbetungsobjekt einer Elite gewandelt hatte.
Mit der Oper verhielt es sich zunächst noch anders. Sie war niederen wie höheren Gesellschaftsschichten gleichermaßen zugänglich. Dies lag einmal an der leichteren Verständlichkeit durch die Verflechtung von Text, Musik und szenischem Geschehen. Zum anderen musste sie eine „Massenveranstaltung“ sein, weil nur maximale Publikumszahlen den finanziellen Aufwand von Aufführungen annähernd abdecken konnten.
Zu Beginn des 19.Jahrhunderts war die Oper noch eine italienische Domäne gewesen. Jedoch in den neuen Produktionsverhältnissen begann sich die Idee des Nationalstaates durchzusetzen und mit ihr entstanden in den Künsten die verschiedenen Nationalstile. Man besann sich auf die eigenen volkstümlichen Traditionen. Volksmusik war nunmehr eine wesentliche Inspirationsquelle und so pries man denn auch zunächst noch das Einfache und Schlichte. Außerdem ging man dazu über, Opern in der eigenen Landessprache zu vertonen. Das Singspiel in deutscher Sprache, welches zögerlich im 18.Jahrhundert zu existieren begonnen hatte, war jetzt äußerst gefragt, vor allem in Wien. Carl Maria von Webers romantische Oper „Der Freischütz“ (von 1822) stellt dann ein bedeutendes Beispiel für den Anfang der „Deutschen Oper“ dar. Sie wies ganz eigene Züge auf. Dies lag nicht zuletzt am symphonischen „Know How“ , welches Weber zur Beschreibung von Stimmungsbildern in den verschiedenen Szenen einsetzte. In Italien, dem Mutterland der Oper beherrschte ein Komponist die Szene, dessen Name alsbald in ganz Europa in aller Munde war: Gioacchino Rossini. Er machte die Zuhörer geradezu süchtig auf seine feurige Musik – und auch die Komponisten außerhalb des Operngenres gerieten unter Rossinis Einfluss. Der Finalsatz von Schuberts dritter Symphonie in D-Dur beweist dies mit seinem Tarantellacharakter.
Schubert wollte als freischaffender Komponist leben. In einer Zeit, da sich die Bedeutung der Absoluten Musik erst allmählich als international relevant zu entwickeln begann, konnte man am besten als Opernkomponist zu Weltruhm gelangen und damit von seiner Kunst leben.
Antonio Salieri empfahl seinem Schüler Franz Schubert daher, Opern zu komponieren – in italienischer Sprache versteht sich. Doch der Schüler folgte seinem so sehr geschätzten Lehrer nicht. Er versuchte es zunächst mit Singspielen: 1815 entstanden „Fernando“ und „Claudine Bella Villa“. Letzterem lag ein Goethetext zugrunde. Bereits in der Ouvertüre dieses Werkes werden wir Zeugen für den großen Einfluss Beethovens auf Schubert. Doch vor allem das Eigene, ganz Andere überstrahlt den Einfluss. Es ist der romantische Duktus, es ist die spezielle Instrumentierung (die keinesfalls nur der geringen Orchester-Erfahrung entspringt sondern kompositorischer Absicht), und es ist vor allem die ausdrucksvolle, ungewöhnliche Harmonik, die so früh bereits auf Bruckner hinweist. Im weiteren Verlauf finden sich selbstverständlich auch konventionelle Elemente, wie man sie in den Singspielen der Wiener Kollegen findet. Der ausnehmend geschickte kompositorische Umgang mit der menschlichen Stimme ist hier, wie auch bei seinen noch früheren Werken, ebenso auffällig wie beeindruckend. Dennoch blieben die Singspiele und Opern Schuberts vergleichsweise erfolglos. Bis heute konnten sie keinen festen Platz im gängigen Opernrepertoire erringen, obwohl hervorragende Dirigenten wie etwa Nicolaus Harnoncourt sich durch exquisite Aufführungen immer wieder darum bemüht haben. Es sind nun nicht etwa kompositorische Mängel der Grund dafür. Es ist vielmehr die Schubert-idiomatische Ausdrucks- und Artikulationsweise. Sie konnte sich nur wenig in großflächigen dramatischen Opern mit aufwendigen Arien manifestieren. Das Kunstlied mit Klavierbegleitung, komprimiert, konzentriert und zeiträumlich begrenzt bot die idealen Voraussetzungen. 1815, im Entstehungsjahr der beiden oben genannten Singspiele, komponierte Schubert weit über 100 Lieder. Damals konnte man sich mit einem qualitätsvollen Liedschaffen aber noch keinen internationalen Namen machen. Die Konzertpodien waren von Solovirtuosen oder Orchestern beherrscht. Das Lied und das Streichquartett hatte fast ausnahmslos in den Salons seinen Platz. Erst seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts wurden dann auch Liederabende im Konzertsaal Usus.
Schubert hat das Lied aus der haus- und gebrauchsmusikalischen Enge des 18.Jahrhunderts befreit und zu einer relevanten, modernen, zeitübergreifenden Kunstgattung erhoben. Die Melodie trägt hier nicht mehr den Text bloß durch Zeichnung einer Grundstimmung sondern deutet ihn detailliert aus. Die konsequente musikalische Textausdeutung war im späten 16.Jahrhundert von der Florentiner Camarata gefordert worden und führte zur Entstehung von Oper und Oratorium, zu Arie und Rezitativ. Im Lied geschah dies erst bei Schubert. Der Klavierpart seiner Lieder ist weit mehr als nur Begleitung. Er ist gleichberechtigter Partner der Singstimme, welcher den Text seinerseits paritätisch ausdeutet. Für tonmalerische Effekte wie in der Programmmusik besteht hierbei nur wenig Raum. Die oftmals tiefenpsychologische Textausdeutung der Klavierparts bewerkstelligt Schubert mittels Gedankenarbeit wie in der Absoluten Musik. Diese wiederum erfuhr ihrerseits in der reifen Schaffensphase Schuberts eine Durchdringung durch das Liedhafte. Am klarsten hören wir dies im den Impromptus und Moments Musicaux, sie führen direkt zu Mendelson Bartholdys „Lieder ohne Worte“.
In den großen Gattungen - Sonate, Symphonie und Streichquartett – entschärfte sich der Widerspruch zwischen überkommener Form und ausgeprägter Individualität durch liedhafte Behandlung. Sie macht die subjektive und individualistische Formhandhabung sowie die Gedankenarbeit durchschaubarer und fasslicher als zum Beispiel bei den letzten Beethoven Klaviersonaten oder Streichquartetten.
Die Oper als Raum dramatischen Handelns ist weniger empathisch als das Lied. Die Oper funktioniert ihrem Wesen nach nur dann, wenn es ihr gelingt, das Publikum unmittelbar in die Dramatik einzubeziehen. Das geht freilich nur dadurch, dass seine Emotionen manipuliert werden - für oder gegen die verschiedenen Protagonisten. Dies bedeutet nichts anderes, als dass die Hörer durch den Willen eines Komponisten gegängelt werden müssen.
Das Lied ist der Raum des Erzählens. Es wird vorgetragen, nicht agiert. Insofern lässt es dem Zuhörer viel mehr Freiraum für Assoziationen. Es steht daher der Absoluten Musik näher, deren weitgehend abstraktes Wesen den allergrößten Freiraum für Gedanken- oder Gefühlsassoziationen gewährt.
Die natürliche, wesensbedingte Zurückhaltung des Liedhaften zwingt dem Hörer kein Gefühl auf. Dadurch ist ein wesentlicher Bestandteil von Empathie vorhanden, wie er bei Analytikern oder Therapeuten unentbehrlich ist: sich in einen Menschen hineinzuversetzen, ohne dessen Empfindung in sich selber hochkommen zu lassen. Dies gilt freilich für alle Menschen, denn nur dann kann ethisches Handeln als Konsequenz erfolgen, und Blockaden, Abwehr oder gar Sentimentalität verhindert werden.
Empathie kann und soll nicht erzwungen werden. Man kann sie nicht unbegrenzt vermehren, aber man kann und muss sich in ihr üben.
Der Trend unserer Kultur und Gesellschaftsform, worin sich Beziehungsfähigkeit und empathisches Vermögen mehr und mehr reduzieren, lässt sich nicht gewaltsam aufhalten oder gar umkehren.
Aber die Schönen Künste sind Anschauungs- und Lehrmaterial, weil sie nicht isolierte Phänomene sondern Resultat mannigfaltiger Beziehungen sind; Beziehungen zwischen Menschen, zwischen Individuum und Gesellschaft, vor allem zwischen Mensch und Gott. Wenn wir Kunst nur als Konsumartikel, Wellnessfaktor oder Statussymbol behandeln, zeigt dies, wie egozentrisch unsere Kultur bereits geworden ist. Gleichwohl beschreibt diese Aussage ein Paradoxon, weil Egozentrik und Kultur sich ausschließen.
Schuberts Werk bietet uns immer wieder Möglichkeit, besonders über Empathie als Elementarteil von Beziehungsfähigkeit nachzudenken, vielleicht sogar, uns zu verändern.
Donnerstag, 9. Oktober 2008
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