Copyright: Rolf Basten
Über Wesen, Wirkung und Wahrnehmung von Zeit – im Spiegel der Musikgeschichte
Die Dimension der Ohnmacht und Begrenzung
„Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding.
Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts.
Aber dann auf einmal,
da spürt man nichts als sie:
sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen.
In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie,
in meinen Schläfen fließt sie.“ (Die Marschallin in Richard Strauss Rosenkavallier, 1.Aufzug, Text von Hugo von Hofmannsthal)
Dieser bewegende Monolog, von dem ich nur einen kleinen Teil zietiert habe, zeigt zweierlei: Menschen, vor allem in fortgeschrittenen Jahren, empfinden Zeit als etwas, dem wir ohnmächtig ausgeliefrert sind. Wir haben, neben den dafür notwendigen Körperteilen, alle möglichenMittel erfunden, uns relativ ungehindert durch den Raum bewegen zu können, aber nicht durch die Zeit. Hier scheitert menschlicher Wille, hier erkennt der Mensch, dass er mit dem Willen nur das Wenigste zu bewirken vermag. Als Zweites drückt der Monolog sehr schön aus, wie wir Zeit nur mit subjektiven Schwankungen wahrnehmen können. Augustinus sagt in seinen Confessiones, wenn er Zeit erlebe, bemerke er sie, wenn er gefragt werde, was Zeit sei, wisse er es nicht. Gerade die Zeit lehrt uns, wie begrenzt wir nur im Stande sind, in das Wesen der Dinge einzudringen. Mit Hilfe von Musik ist es jedoch möglich, einen beträchtlichen Erkenntnisprozess zu bewältigen. Das physische Wesen vonMusik ist jenem der Zeit sehr verwandt. Dazu kommt, dass wir inzwischen viele Details der Musikgeschichte kennen und sie im interdisziplinären Verbund von Antropologie, Soziologie, Hörpsychologie, Religion und Philosophie als Denkprozessor verwenden können.
Denn alle Schönen Künste, also auch die Musik, sind reine Erscheinungsformen
des Geistes und der gesellschaftlichen Stadien eines Kulturkreises.
Europa, der christlich-abendländische Kulturkreis mit seiner
Fokussierung des Rationalen – schon seit der Antike – und des
Individuellen – seit dem Humanismus – nimmt dabei eine Sonderstellung
ein, was freilich nicht elitär/hierarchisch gemeint sein
soll.
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Die Individuen und individuellen Ereignisse sind im Spannungsfeld
von Geist und Gesellschaft mit den Tropfen eines mächtigen Stromes
vergleichbar, der sich unaufhaltsam vorwärts bewegt. Wenig darin ist
zufällig und schon gar nichts willkürlich. Blickt man stromaufwärts,
erscheint uns die Abbildung eines Zeitablaufes, den wir Geschichte zu
nennen pflegen. Der geschichtliche Prozess ist, wie alles Gewesene,
Seiende und Werdende, Beziehungssache – im Sinne kausaler und
konditionaler Wechselwirkungen. Im Kontext unseres Themas
natürlich Wechselwirkungen zwischen Individuen untereinander,
zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen beiden und Umwelt,
zwischen Mensch und Gott, im Falle von Atheisten zwischen diesen
und dem, was sie für sich als unverzichtbares „Gottsubstitut“
installiert hatten oder haben.
Parsifal und der Augenblick
Wenn ich Sie mit dem Anfang von Wagners Bühnenweihfestspiel
„Parsifal“ aus dem Jahre 1882 begrüßt habe, noch bevor ich ein Wort
an Sie gerichtet hatte, geschah dies nicht, um mich als Wagnerianer zu
outen, der ich gar nicht bin. Das Vorspiel beginnt feierlich, verhalten,
es mutet geradezu wie ein gregorianischer Choral an. Aber es steckt
noch mehr darin: Parsifal ist ja ein Tor, von der Mutter ohne jedwede
Möglichkeit zur Entwicklung seiner Identität aufgezogen. Er besitzt
kein Reflexionsvermögen, Individuation hat bei ihm nicht stattgefunden,
Rationalität ist nicht vorhanden. Parsifal ist in gewisser
Hinsicht mit unseren Urahnen vergleichbar, er lebt vollkommen im
Intuitiven, im Instinkt sowie im Trieb (ausgenommen der Sexualtrieb).
Vor allem entbehrt er der apriorischen Dispositionen des Subjekts:
nämlich bewusste Raum- und Zeitwahrnehmung. Somit besitzt er kein
nachhaltiges Erinnerungsvermögen, welches mit Raum- und Zeitwahrnehmung
stets untrennbar einhergeht, ihm fehlt daher auch
Beziehungsfähigkeit. Dennoch ist er für sein Amt als künftiger
Gralshüter bereits ausersehen. Parsifal ist gleichsam der Augenblick,
der die Zukunft verzehrt und unmittelbar als Vergangenheit hinter
sich lässt. Dies hat er, nebenbei bemerkt, mit dem physischen Wesen
der Musik gemeinsam.
Wenn Sie den Beginn des Parsifalvorspiels auch noch so aufmerksam
verfolgen, so werden Sie trotzdem nicht im Stande sein, die Taktart zu
bestimmen, dementsprechend auch nur schwer die Notenwerte des
Rhythmus. So lässt Wagner uns die fehlende Zeitwahrnehmung des
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Toren genial nachempfinden. Das Eingangsmotiv wird von den
Streichern und tiefen Klarinetten im Einklang vorgetragen, sie stimmen
zwar die Tonika-Dreiklangstöne nacheinander an, dann aber erklingt
alsbald der vierte Ton der As-Dur-Tonleiter um einen halben Ton
erhöht, was die eindeutige Zugehörigkeit zu einer bestimmten Tonart
verwischt.
Durch dies und das Fehlen vom Zusammenklingen verschiedener Töne
übereinander lässt Wagner uns genial die fehlende Raumwahrnehmung
des Parsifal nachempfinden, bevor sich dann das Ensemble
durch Harfe, Hörner etc. ergänzt zum Tonika-Akkord aufbaut und das
Leitmotiv für das Erglühen des Grals vorwegnimmt, so drückt Wagner
genial die Bestimmung Parsifals für den Gral aus. Am Ende des ersten
Aufzuges wird Parsifal beim Gang zur Gralsburg dem Torhüter
Gurnemanz sagen: „Ich schreite kaum, doch wähn ich mich schon weit“
– Gurnemanz wird daraufhin mit „Du siehst, mein Sohn, zum Raum
wird Dir die Zeit“ antworten. Wenn ich über dies in solcher
Ausführlichkeit gesprochen habe, so tat ich es, damit Sie sich fehlende
Zeitwahrnehmung und Zeitgestaltung ein wenig vorstellen können.
Zeitgestaltung und Fasslichkeit musikalischer Substanz
Musik hat sich vom bloßen Ereignis erst dadurch lösen und zu
relevanter Kunst wandeln können, dass bewusste Zeitwahrnehmung
sowie die Fähigkeit, diese einzuteilen, vom Menschen erworben
worden war. Beides bedingt Erinnerungsvermögen, denn der
Gegenwartsmoment dauert höchstens drei Sekunden, wie Forschungen
zum Problem des real existierenden Jetzt ergeben haben. Reales
Musikgeschehen ist ja wie der Augenblick selbst, sein Gegenwartsmoment
ist beträchtlich kurz. Um einen musikalischen Zusammenhang
zu fassen, muss das Gedächtnis bemüht werden. Sie hören nun zwei
Tonfolgen, die jeweils länger als drei Sekunden sein werden. Dabei
sollen Sie für sich selber herausfinden, ob beide Tonfolgen identisch
sind oder nicht. (Die Beispiele erklingen.)
Sie werden festgestellt haben, dass diese Frage kaum zu beantworten
war, weil die Tonfolgen in ziemlich raschem Tempo erklungen sind.
Zudem wurden sie von einem Synthesizer vorgetragen, der alle Töne
mit gleicher Tonstärke wiedergegeben hat. Musik konstituiert sich
durch die Parameter Tonhöhe, Tondauer und Tonstärke. Sie hören
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beide Tonfolgen nun abermals, jedoch sind sie jetzt mit kleinen Pausen
an bestimmten Stellen versehen. (Die geänderten Beispiele erklingen.)
Sie haben feststellen können, wie viel fasslicher die musikalische
Substanz nun erschienen war – und Sie haben vermutlich leichter
herausfinden können, dass es kleine Abweichungen zwischen beiden
Beispielen gegeben hat, ja vielleicht sogar an welchen Stellen.
Am besten fasslich werden die Tonfolgen für Sie aber dann erst sein,
wenn differenzierte Zeitgestaltung vorhanden ist. Die zwei Tonfolgen
erklingen nun abermals, jedoch werden die Töne unterschiedliche
Dauer haben, oder anders ausgedrückt: Notenwerte. Die Kombination
diverser Notenwerte in proportionalem Verhältnis zueinander ergibt
den Rhythmus. Er entscheidet über die Fasslichkeit einer musikalischen
Substanz, die Tonhöhe alleine nicht. Ich spiele Ihnen als Beweis eine
Melodie vor, welche Ihnen allen bekannt ist. Einmal nur mit korrekten
Tönen aber mit vollkommen verändertem Rhythmus. Jetzt werden Sie
das Lied noch einmal vernehmen. Diesmal ist kein richtiger Ton dabei,
jedoch ist der Rhythmus korrekt. Sie merken, Sie haben das Lied nun
alle erkennen können.
Rhythmus, also intuitive oder bewusste Zeitgestaltung, ist das
Elementare von Musik. Eine beliebige Tonfolge ohne Zeitorganisation
könnte niemals eine musikalisch konkrete oder aussagekräftige
Substanz ergeben. Eine Folge organisierter Tondauern dagegen kann
dies sehr wohl, man denke beispielsweise an Schlagzeugsoli der
Rockmusik oder die Nachrichtenübermittelung durch Trommeln bei
Naturvölkern.
Intuitive Zeitgestaltung
Rhythmus ist deswegen so elementar, weil er sich bereits im Stadium
des rein Intuitiven ereignet. Er ist das Resultat von Impuls, vom
Impuls zur körperlichen Bewegung als Ausdruck von Gemütsbewegung.
Bereits bei Anthropoiden ist ein Bewegungsrausch mit
periodisch wiederkehrenden Bewegungen des Körpers oder einzelner
Gliedmaßen anzutreffen. Das Regelmäßige und Systematische vollzieht
sich dabei freilich rein intuitiv. Stets geht dies körperliche Geschehen
im Verbund mit Lautäußerungen einher.
Wir können von Anbeginn der Menschheitsgeschichte davon ausgehen,
dass Tanz immer mit Lautäußerungen verbunden gewesen war und
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eine wichtige soziale Funktion erfüllt hat. Im Intuitiven war Ahnen
entstanden und ließ poco a poco bewusstes Sein entstehen.
Individuationsvermögen führte zur bewussten Unterscheidung
zwischen dem Eigenen und dem Anderen bzw. den Anderen. Anfangs
galt es, Ängste vor einer noch wenig verstandenen, insofern
bedrohlich anmutenden Umwelt zu bannen. Weitere Motivationen
lieferte die Mobilisierung von Aggressionen für den erfolgreichen
Ausgang kriegerischer Handlungen und sexuelles Werberitual. Tanzen
war kein privates Freizeitvergnügen, es war magische Kulthandlung
von existenzieller Bedeutung.
Das Zusammenleben bewusster Individuen in einer bedrohlichen
Umwelt schafft Nöte. Diese gilt es zu wenden. Es entsteht Bedarf an
Notwendigkeiten. Die Organisation von Gesellschaft mit
Arbeitsteilung ist notwendig. Damit dies funktioniert, sind
Kommunikation – über Lautartikulation, Bild und Schrift – sowie
verbindliche Zeiteinteilung notwendig. Je differenzierter und
komplexer sich Gesellschaften entwickeln, umso differenzierter und
komplexer müssen Kommunikation und Zeiteinteilung werden.
Die schönen Künste sind gleichfalls Notwendigkeiten, im Verhältnis
der Individuen untereinander, dieser wiederum zum Kollektiv und
vor allem beider zum Göttlichen. Als Erscheinungsformen von Geist
und Gesellschaft spiegelt sich in ihnen deren zunehmende
Differenziertheit und Komplexität natürlich wieder. Dies bedeutet
jedoch keine Wertung, als fände immer nur eine Entwicklung vom
Guten zum Besseren statt.
Jede geschichtliche Epoche besitzt ihre nie wieder erreichten Höhepunkte,
Palestrinna im 16., Johann Sebastian Bach im 18., Anton
Bruckner im 19. Jahrhundert etc. Gleichwohl ist nicht zu übersehen,
dass man bezüglich der spirituellen Entwicklung des Menschen sehr
wohl eine Entwicklung zum Besseren konstatieren kann. Es ist
faszinierend, wie sich der spirituelle Blick des Menschen im Laufe
seiner Entwicklung geweitet hat: vom Tunnelblick des Fetischismus,
der Objekte mit magischen Fähigkeiten belegte, über den Kult, worin
Personen mit Göttlichem belegt waren, bis hin zum ganz weiten und
tiefen Blick mit der Erkenntnis eines Gottes in den monotheistischen
Religionen. Diese Weitung ist in den Künsten selbstverständlich
nachvollziehbar. Sie lösen sich von ihrer ausschließlichen Verankerung
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im Kult und entfalten auf verschiedenen Ebenen des menschlichen
Daseins mannigfaltige Phänomene.
Zeitgestaltung als „sich Ereignendes“
Die Existenz von Bewusstsein impliziert Zeitwahrnehmung, somit auch
die Unterscheidung des Vergangenen, des Gegenwärtigen und
Zukünftigen. War Erinnerungsvermögen erworben, konnte man sich
nicht nur erinnern, man wollte sich erinnern und man wollte natürlich
etwas Erworbenes oder Geleistetes erinnerbar machen. Beim Bild
erschien dies am einfachsten. Aber schon bei Sprache wurde es
komplizierter. Hier sah man sich vor eine interdisziplinäre Herausforderung
gestellt: man musste akustische Phänomene graphisch
darstellen. Bei Musik gestaltete sich dies besonders schwierig.
Versuche, Musik visuell darzustellen, um Zeit und Raum zu
überbrücken, begannen bereits im antiken Ägypten.
Die erste systematische, voll entwickelte Notenschrift gab es dann in
der griechischen Antike, vor allem im Zusammenhang mit
Musiktheorie. Man verwendete Buchstaben, die auch verdreht
geschrieben wurden, um eine bestimmte Ausführungsinstruktion zu
geben. Die Musik war einstimmig. Sie bestand also aus einer Linie, die
von mehreren Sängern und Spielern gleichzeitig ausgeführt wurde.
Solch eine Musik konnte man natürlich auch mündlich tradieren.
„Musike“ nahm in Hellas unter den Musen die Vorrangstellung ein. Sie
stellte die Einheit von Poesie, Weise und Tanz dar. Zeichen für
Zeitgestaltung der Musik existierten nicht. Das, was wir heute
Rhythmus nennen, ereignete sich, es ergab sich von selbst aus dem
Wort, welches die Musik trug. Rhythmus tauchte als Wort erstmals 700
vor Christus auf und bedeutete das Auf und Ab des Glücks.
Ab dem 5. Jahrhundert vor Christus bedeutete der Terminus die
harmonische, gleichmäßige Bewegung beim Tanzen. Die Zeitgestaltung
der Musik manifestierte sich durch die Versfüsse der Dichtung.
Mehrere Versfüsse wurden bekanntlich in einem Metrum zusammengefasst.
Dieses erhielt je nach Anzahl der Versfüsse seinen Namen,
waren es sechs, so hieß es „Hexameter“. Basis der in unserem Sinne
rhythmischen Vorgänge bildete der chronos protos, die „erste Zeit“,
eine Kürze, zwei von diesen Kürzen ergaben dann eine Länge. Aus
diesen Elementen setzten sich die Versfüsse der Dichtung zusammen.
Noch bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts gebrauchte die Musiktheorie
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den Ausdruck Versfuß oder deren verschiedenen Namen, z. B.
Spondeus, Trochäus, Jambus etc. im Bereich der Musiktheorie.
Am Anfang war das Wort, dies gilt wie man sieht nicht nur für die
Bibel. So verwundert es auch keineswegs, dass Augustinus in seiner
musikphilosophischen Schrift „De Musica“ (leider nicht vollständig
erhalten) ausgiebig über Sprache, Worte und ihre rhythmischen
Aspekte nachdenkt.
Auch als sich rein instrumentale Tanzmusik entwickelt hatte, wurde
Musik und ihr Rhythmus in Versfüssen gedacht, die Schritt- bzw.
Sprungfolge gaben ein Übriges zur Orientierung hinsichtlich
Zeitgestaltung. Dies blieb so bis weit ins Mittelalter hinein. Hören wir
zwei kurze Musikbeispiele, einen Gregorianischen Choral aus dem 6.
nachchristlichen Jahrhundert und eine Estampie aus dem 12. Jahrhundert.
Versuchen Sie nachzuempfinden, wie schön der Fluss dieser
Musik das Resultat von Ereignis und gelassene Hingabe ist.
Zeitgestaltung als Kompositionselement
Im Mittelalter geschieht nun etwas in der Europäischen Musik, das
einzigartig ist: die Musik wird mehrstimmig. Mehrere Stimmen singen
gleichzeitig verschiedene Töne mit unterschiedlicher Tondauer. Jetzt
war das Erschaffen eines Musikstückes zum konstruierenden,
organisierenden, kurz rationalen Akt geworden. Zum ersten Mal
sprach man vom Zusammensetzen der Töne, vom Komponieren. Ab
diesem Stadium konnte musikalische Zeitgestaltung nicht mehr länger
Ergebnis eines frei schwingenden Ereignisses sein, die Tondauer
musste jetzt genau vorgeschrieben werden, damit das Stimmgeflecht
seine Struktur sinnvoll und korrekt entfalten konnte. Folglich musste
Notenschrift die Aufgabe erfüllen, den Willen des Komponisten klarer
und klarer darzustellen. Mit graphischen Zeichen mussten von nun an
präzise Zeitwerte ausgedrückt werden.
Hören Sie ein Beispiel früher Mehrstimmigkeit aus dem 13. Jahrhundert,
„Viderunt omnes“ von Perotinus Magnus zu Notre Dame. Sie
können noch eine weitere, kolossale Veränderung erfahren: die
Notenbewegung der Singstimmen ist nicht länger dem Wortrhythmus
unterworfen. Stimmführung, die gewandte Gestaltung musikalischer
Linien war jetzt von größerer Bedeutung als die Vorgabe durch die
Versfüsse des vertonten Textes. Beim nächsten Beispiel, rund 100 Jahre
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später, abermals Notre Dame, vernehmen Sie es noch deutlicher:
Zeitgestaltung ist nun zum selbstständigen, absoluten Gestaltungsfaktor
geworden. Hören wir Guillaume de Machauts Rondeau „Mein
Ende ist mein Anfang“ aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Die
großartige Ära der polyphonen Satzkunst hat ihren Anfang
genommen.
Zeitgestaltung als Stilelement
Im Humanismus, wo der Mensch an sich zum Mittelpunkt aller Dinge
geworden war, wandelte sich die Musik von einer lyrisch-deskriptiven
zu einer dramatisch-expressiven Kunst. In der Monodie, aus der sich
später das Rezitativ und die Arie entwickelten, sollte die Musik zwar
wieder Dienerin des Wortes sein, aber daneben war eine ganz neue
Art von Musik entstanden: die Absolute Musik. Das ist reine
Instrumentalmusik, die nicht auf Text oder Tanz sondern nur auf sich
selbst bezogen war. Ihre Aufgabe bestand in der Darstellung
individueller Affekte. Musikalische Zeitgestaltung erfuhr hier einen
enormen Bedeutungswandel und Bedeutungszuwachs. Vom
Wortrhythmus befreit war sie nicht mehr nur Gestaltungsfaktor, sie
war jetzt selbstständiges Ausdrucksmittel. In Monteverdis
„Combattimento di Tancredi e Clorinda“ von 1638 verschmolz diese
Veränderung mit dem neuen monodischen Gesangsstil und
ermöglichte erstmals die Darstellung von Zorn.
Tempo als formendes Element
Hier tritt noch ein Weiteres zutage: die Geschwindigkeit, das Tempo
dieses Ausschnittes. Aufregung und Wut lassen den Puls ansteigen.
Erst in einer Epoche, wo Zeitgestaltung zum eigenständigen Stilmittel
geworden war, konnte Musik solch ein Phänomen darstellen. Die
Notenwerte, welche ein Komponist wählte, implizierten von nun an
auch die Geschwindigkeit. Zudem hielten Tempovorschriften Einzug in
die Spielanweisungen. Das Tempo selbst war nun Stilelement. Am
Beginn des 17. Jahrhunderts wechselten die Tempoangaben innerhalb
eines Stückes mannigfaltig, ganz so, wie es der jeweilig ausgedrückte
Affekt erforderte. Doch im Verlauf des Jahrhunderts separierten sich
diese verschiedenen Tempoabschnitte voneinander und wurden zu
selbstständigen Sätzen, zyklische Formen konnten somit entstehen,
Suite, Sonate, Symphonie. War Tempo zunächst schon ein eigenständiger
Ausdrucksträger geworden, so geriet er in einer Gesellschaft die
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zunehmend durch chronometrische Reglementierung gekennzeichnet
war, sogar zum Formträger. Die schnellen Sätze mit wirbelnden
Sechzehntelnoten und treibenden so genannten Impulsbässen das sind
schnelle repetierende Achtelnoten in den Bässen, sowie Motorik als
neuem musikalischem Phänomen stellten die Repräsentation des
Absolutistischen Herrschergestus dar, wie uns die Einleitungssinfonia
zu Alessandro Scarlattis Oper „Griselda“(1710) deutlich macht.
Zeitgestaltung – Chronos
Nachdem sich die Instrumentalmusik weitgehend aus dem „Griff“ des
Gesprochenen gelöst hatte, war musikalische Zeitgestaltung kein sich
Ereignendes mehr. Nun war sie zum wesentlichen Element der
persönlichen, künstlerischen Willensvorgabe durch den Komponisten
geworden. Die Notenschrift stellte dadurch eine immer genauer
werdende Vorgabe dar, sie entsprach bereits in großen Teilen dem
heutigen Stand. Man dachte im 18. Jahrhundert nicht mehr in
Versfüssen sondern in Motiven. Vor allem Taktstriche wurden
bedeutsam und der moderne Akzentstufentakt entwickelte sich. Darin
wird eine bestimmte Anzahl von gleichmäßigen Pulsschlägen – Metrum
– hierarchisch zu sinnvollen Einheiten zusammengefasst. Das Metrum
entspricht quasi dem Chronos, der Bewegung eines Uhrzeigers.
Vergleichen wir die vorhin gehörte Estampie aus dem 12. Jahrhundert
mit einem Andante aus Mozarts Posthornserenade, um dies besser
nachfühlen zu können. Bei allem Charme und bei aller Ruhe des
Mozart-Andantes kann man die Kontrolle, den Gestaltungswillen und
die chronometrische Regelmäßigkeit nicht überhören. Kein Wunder,
die Gesellschaft war komplex geworden, Zeitgenauigkeit war
notwendig, Chronometer beherrschten den Tagesablauf.
Chronos und Kairos
Während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgte ein großer
Schub der Europäischen Kultur ins Subjektive und Individualistische,
denken Sie an die „Kopernikanische Wende“, die an Kants Feststellung,
das Objektive existiere erst durch die Wahrnehmung des
Subjekts, festgemacht wird. Und auch Rousseaus Parteiname für das
Individuum und dessen Empfindungen verdeutlichen dies. Der Schub
beförderte Europa in ein neues Zeitalter. Die bürgerliche, freiheitliche
Gesellschaftsordnung begann sich im 19. Jahrhundert durchzusetzen
und die Epoche der Romantik konnte ab ca. 1830 beginnen.
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Die Veränderungen bescherten der Musik nicht nur Neuerungen
sondern auch Probleme. Zeitgestaltung war auf der einen Seite Teil
künstlerischer Willensvollstreckung durch den Komponisten. Auf der
anderen Seite konnte nun der Ausführende sehr eigenwillig mit einem
Werk umgehen, denn die Aufführungspraxis hatte sich vom Vortrag
zur Interpretation mit hermeneutischem Ansatz gewandelt. Melzer
schuf hier eine Möglichkeit zur Abhilfe: Er erfand das Metronom, mit
dessen Hilfe der Komponist das erwünschte tempo mathematisch
genau vorschreiben konnte. Beethoven begann seit 1817 Metronomangaben
seinen Werken voranzustellen. Vorläufer für das Metronom
hatte es bereits seit dem 17. Jahrhundert gegeben, jetzt aber erst
bestand Bedarf an solch einem Hilfsmittel. dass Melzels Erfindung
nicht bloß zum stupiden Üben noch stupiderer Etüden geschaffen
wurde, sehen wir an den Metronomangaben der Beethovenschen
Symphonien, wo sie strikte Vorgaben für den Dirigenten sein sollten.
Von Beethoven selbst berichteten seine Zeitgenossen, er habe sich
durchaus nicht sklavisch an seine eigenen Angaben gehalten. Wie soll
man das auch können, bedenkt man Phänomene wie beispielsweise
Lampenfieber, das durch die Ausschüttung von Adrenalin reale
Zeitempfindung beeinflusst. Wenn ich mir Mitschnitte meiner eigenen
Konzerte anhöre, bin ich oft genug erstaunt, wie rapide die Tempi
sind, obwohl sie mir im Augenblick der Aufführung durchaus maßvoll
erschienen waren. Dann kann es aber auch passieren, dass mir die
selben Tempi später wieder ruhig vorkommen.
Subjektive Zeitwahrnehmung in einer subjektiven Kultur, woran kann
man sich da orientieren, um herauszufinden, was richtig ist? Bei der
Uraufführung von Max Bruchs Violinkonzert hielten sich Dirigent und
Solist nicht an die Tempovorgabe des Komponisten, er spielte um
einiges rascher. Bruch kommentierte dies hinterher, dass er das
schnellere Tempo als viel besser empfand.
Chronos – Kairo
Unabhängig davon, woran wir uns orientieren können oder sollen: das
Lebendige des Musizierens resultiert gerade aus dem Widerspruch
zwischen mathematischer Genauigkeit und individueller Abweichung,
man kann sagen: zwischen Chronos und Kairos, der gleichmäßigen,
exakten Zeiteinteilung und dem durch künstlerische Geschicklichkeit
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kreierten Glücksmoment. Verdichtung von Gefühlen kann künstlerisch
in die Verdichtung musikalischer Zeitgestaltung umgesetzt werden.
Dazu kann es dem Komponisten oder den Interpreten geeignet
erscheinen, ein Metrum außer Acht zu lassen und im Sinne eines
rhetorischen Gestus das Tempo zu beschleunigen oder zu reduzieren.
Tempo rubato lautet der Fachausdruck hierfür, es wurde signifikantes
Stilelement der romantischen Epoche. Mit den Worten ritardando,
accelerando, stringendo etc. im Notentext fordert der Komponist die
Verlangsamung oder Beschleunigung vom Interpreten ein.
Zeit als Material
In der Moderne des 20.Jahrhunderts widerfährt der Handhabung
musikalischer Zeitgestaltung ein bemerkenswerter, gleichwohl zu
erwarten gewesener Wandel, namentlich in der Avantgarde: das
Metrum hat seine Bedeutung verloren, Rhythmus erfüllt nicht mehr die
Funktion motivischer Gestaltung oder der Vermittelung seelischer,
räumlicher und zeitlicher Bewegung. Zeitgestaltung wird hier in den
Dienst der Organisation des immer neu erfundenen Klangmaterials
gestellt, das oftmals wie eine große, bewegungslose Fläche vor uns
zu stehen scheint. Solch ein Phänomen spiegelt das Paradoxon unserer
modernen Gesellschaft wieder, worin Zeit als Dienerin des Materials
bzw. Materiellen behandelt wird.
Das Spannungsverhältnis zwischen Chronos und Kairos bleibt aber
lebendigkeitsspendend, solange musiziert wird. Musik konstituiert
sich durch Tonhöhe, Tonstärke und Tondauer. Wodurch manifestieren
sich letzten Endes die Unterschiede zwischen verschiedenen Interpretationen
eines Werkes? Die Tonhöhe darf nicht verändert werden, weil
unser Gehör die Abweichung als „falsch“ empfinden würde. Jedoch
die Tonstärke bietet eine gewisse Möglichkeit, sie signifikantesten
verleiht die Chronos-Kairos-Spannung, die Akzentuierung und
Platzierung der Tondauer einer Interpretation ihre persönliche Note.
Durch die Tonträger, welche Interpretationsgeschichte überliefern und
hörbar machen, was es schon an Interpretationen gegeben hat, geraten
ausführende Musiker unter erheblichen Druck, sie müssen sich unter
immer schwereren Bedingungen voneinander abgrenzen. Dabei
kommt auch die Überlegung ins Spiel, mit welchen Mitteln ein neuer
Reiz des Gehörten vermittelt werden kann. Dies geht sehr häufig über
kleine Akzentverschiebungen, metrische Eigenwilligkeiten und die
Tempowahl.
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Zu Beginn dieses Vortrages sagte ich, Individuen seien wie Tropfen in
einem mächtigen Strom. Dieser Strom fließt immer schneller,
Veränderungen vollziehen sich rascher und rapider. Es ist vollkommen
logisch, dass die epocheneigene Geschwindigkeit auch die Interpreten
mitreißt, dies kann man in der beständigen Zunahme der Tempi sehen,
welche die Interpreten wählen, man kann durchaus von einem
Interpretationsaccelerando sprechen.
Göttlicher 'Gestaltungsauftrag
Wir gehören der Zeit, der Augenblick gehört uns
Am Beispiel der Musik wird klar, wie abhängig alles von der Zeit und
ihrer Gestaltung ist. Die Zeit gehört nicht uns, wir gehören der Zeit.
Der Fluss gehört nicht dem Tropfen, der Tropfen gehört dem Fluss.
Das Wesen von Zeit lässt sich über die Musik nur spekulativ
ergründen, gleichwohl erfahren wir durch die Musik einiges über die
subjektive Wirkung von Zeit. Wir begreifen durch Musik die
Notwendigkeit, Zeit sinnvoll zu gestalten. Sinnvolle Zeitgestaltung,
das ist ein süperbes Motto, nicht nur für einen Musiker sondern für
jeden Menschen und die Gesellschaft. Das Leben ist für jeden ein
göttlicher Gestaltungsauftrag.
Aus der Vergangenheit Gelerntes soll in der Gegenwart umgesetzt
werden, um einer positiven, günstigen Zukunft möglichst wenig
Hindernisse in den Weg zu stellen. Musik ist wie keine andere Kunst
an den Augenblick gebunden, man lernt als Diener der Musik in
gewissem Maße die Fähigkeit zur Hingabe an den Augenblick – auch
im alltäglichen Leben. Wir sind eine begrenzte Spanne auf dieser Welt
und dürfen mit ein wenig Bewusstsein und Erkenntnisfähigkeit die
Herrlichkeit göttlicher Schöpfung schauen und preisen. Welch ein
Geschenk. Welch eine Verschwendung dagegen, hadernd in der
Vergangenheit zu verharren oder nach verlockenden Früchten der
ungewissen Zukunft zu gieren. Andreas Gryphius hat das im
17. Jahrhundert viel eindrucksvoller und schöner mit folgenden
Worten gesagt:
Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen;
mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen.
Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in Acht,
so ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht!
Freitag, 30. Januar 2009
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