Montag, 1. Juni 2009

"Neues Denken in alten Versen" - Die symphonischen Dichtungen von Franz Liszt

1. Prometheus – ein Schöpfer

Als Alles auf der Erde geschaffen worden war und seinen Platz darin gefunden hatte, fehlte noch ein Geschöpf, welches die Welt mit seinem Geiste zu beherrschen vermochte.
Da betrat Prometheus, Angehöriger eines Titanengeschlechtes, das einst von Zeus entmachtet und in den Tartaros verbannt worden war, die Erde. Von seinem Vater hatte er Klugheit und Wissen geerbt. Daher war ihm bekannt, dass in der Erde göttlicher Samen schlummerte. Er nahm Ton und formte daraus Geschöpfe nach den Ebenbildern der Götter. Er schloss gute wie schlechte Eigenschaften darin ein, die er dem Tierreich entlieh. Pallas Athene war von den Geschöpfen des Prometheus beeindruckt und hauchte ihnen daher den Geist ein. So entstanden die Menschen, die alsbald die Erde zahlreich bevölkerten. Prometheus bemerkte, dass seine Geschöpfe ohne sinnliche Wahrnehmung, ohne die Fähigkeit zu begreifen oder mit ihren Händen zu erschaffen durch die Welt taumelten. So unterwies er sie im Gebrauch aller ihrer Fähigkeiten, und bald schon beherrschten die Menschen Ackerbau, Bergbau, machten sich die Natur untertan und entfalteten die Schönen Künste: Dichtung, Malerei, Tanz und Musik. Nur das Feuer mussten sie von den Göttern erbitten. Mit der Fähigkeit, Energie zu produzieren und darüber zu verfügen, wären sie selber wie Götter gewesen.
Die Götter boten den Menschen ihren Schutz zum Preis an, dass sie von ihnen Verehrung und Opfer erhielten. Die Menschen erwählten Prometheus zu ihrem Vertreter, dessen Aufgabe insbesondere darin bestand, die Forderungen der Götter maßvoll zu halten. Prometheus versuchte Zeus zu umschmeicheln und ihn auszutricksen. Dieser durchschaute als Allwissender den Menschenvertreter und verweigerte erst recht die Herausgabe des Feuers.
Doch Prometheus erfand eine List: er näherte sich mit einer leicht entflammbaren Fackel dem Sonnenwagen des Helios, sie entzündete sich und Prometheus brachte den Menschen so das Feuer.
Zeus war über die List des Prometheus und den Machtzuwachs der Menschen schäumend vor Wut. Die Prometheusgeschöpfe mussten in ihrer macht begrenzt werden. Hephaistos, den Gott des Feuers und der Schmiedekunst, , ließ er eine unwiderstehliche, rundherum bildschöne Jungfrau schaffen, weshalb sie den Namen Pandora – die allumfassend Beschenkte – genannt wurde. Die arglosen Menschen waren von Pandora beeindruckt und der Bruder des Prometheus, Epimetheus, nahm sie in sein Haus auf. Als Dank erhielt er von ihr eine Büchse zum Geschenk. Als er sie öffnete, entwichen aus ihr alle Krankheiten, befielen die Menschen und brachten ihnen Elend und Tod. Die Hoffnung, die einzig gute Gabe des Büchseninhaltes, wurde am Entweichen gehindert, indem Pandora die Büchse zuschlug und für immer verschloss.
Natürlich ließ Zeus auch Prometheus bestrafen. Seine Knechte fingen ihn und schmiedeten ihn über einem gähnenden, entsetzlichen Abgrund hängend an einen Felsen im Kaukasus. Hier musste er ohne Schlaf, ohne Essen und Trinken ausharren. Jeden Tag kam ein Adler und fraß bei lebendigem Leibe seine Leber. Diese Qualen musste Prometheus über viele Jahrhunderte ertragen, bis er von Herakles befreit wurde.

2. Der Schöpferische – ein Prometheus

Zu allen Zeiten hat der Prometheus-Mythos die Künstler angeregt, weil sie sich als Schaffende in ganz besonderer Weise von ihm betroffen fühlten. Es geht darin schließlich um das Kreative, das Kreieren, um Kreaturen und um Kreationen.
1801 fand die Uraufführung des Balletts „Die Geschöpfe des Prometheus“ von Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) in Wien statt. Beinahe gleichzeitig verfasste Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) seine Legende „Der gefesselte Prometheus“. In beiden Werken erkennen wir, dass sich die Lesart von Mythen mit den kulturellen bzw. gesellschaftlichen Veränderungen stets wandelt.
Zu jener Zeit lösten sich die Künste aus ihrer Bindung an Stand bzw. gesellschaftliche Funktion heraus und emanzipierten sich zum eigenständigen kulturellen Wert. Damit erhielten auch die Künstler einen neuen Status, der sie im Verlauf des 19.Jahrunderts von Dienern des Hofes, der Kirche oder eines Rates zu unabhängigen, selbständig Schaffenden werden ließ.
Für den „neuen“ Künstler war Prometheus von einer bloßen Gleichnisgestalt zur vollkommenen Identifikationsfigur geworden. Er begriff sich bewusst als Mittelpunkt und Vermittler zwischen dem Göttlichen und den Menschen. Diese sah er in den Geschöpfen des Lichtbringers im Mythos repräsentiert.
Aus dem Tartaros erniedrigender Dienstverhältnisse der Adelsgesellschaft befreit, war er ans Licht getreten und sah sich nicht mehr bloß als Medium göttlicher schöpferischer Willensvollstreckung. Vielmehr empfand er sich selbst als einen genuinen, autarken, göttergleich Schaffenden. Seine Bestimmung erkannte er darin, die Sinne und den Geist der Menschen zu belehren und zu beleben. Er wollte ihnen die Flamme der Leidenschaften, das Licht der Erkenntnis, Bildung sowie ethisch/moralische Verfeinerung bringen. Zum Preis der Prometheus-Qualen war er bereit, seiner Verpflichtung wahrhaftig nachzukommen, über dem gähnenden Abgrund einer ungesicherten Existenz an den Fels seiner Bestimmung geschmiedet, schlaflos vor Zukunftssorgen, oft genug hungernd weil brotlos, und stets nach Verständnis und Anerkennung dürstend.
Nicht mehr als ein „homo faber“, Arbeitstier, auch nicht als „viator mundi“, nach mittelalterlicher Sichtweise ein Pilger auf der Wanderschaft durch die Welt, nein, als „faber mundi“, als Arbeiter an einer neuen Welt wollte er sich verstanden wissen.

3. Spiegel der idealen Gesellschaft

Die Vision dieser neuen Welt war das Resultat eines über mehrere Jahrhunderte hindurch gewachsenen christlich-humanistisch – aufgeklärten Wertekodex.
Kaum eine Kunst spiegelt das Werden dieses Wertekodex so deutlich wieder, wie die Musik; und kaum eine künstlerische Erscheinungsform gibt den Abriss der Gesellschaftsform dieser idealisierten Weltordnung klarer wieder, als es die Sonatenhauptsatzform der Wiener Klassik tut. Weil das neue soziale Konzept damals Wille und Wollen aller fortschrittlichen Künstler durchdrungen hatte, findet sich die Sonatenhauptsatzform in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts als innenarchitektonischer Plan auch solcher Gattungen, die nicht explizit als Sonate bezeichnet waren– Solokonzert, Streichquartett oder Serenade beispielsweise.
Die Symphonie der Wiener Klassik, ebenfalls in Sonatenform, versinnbildlicht nicht nur in ihrer formalen Anlage sondern darüber hinaus in ihrer Realisierungsweise eindrucksvoll die damals anvisierte Gesellschaft. Für diese selbst steht der Orchesterapparat, seine zahlreichen Musiker verkörpern deren Individuen. Es gibt zwar eine Hierarchie, aber jede Stimme, jede Instrumentengattung des Ensembles ist nötig und unentbehrlich für das Gesamte. Fehlte nur ein Detail, so könnte der spezifische Klang, durch welchen sich die Symphonie erst konstituiert, nicht produziert werden. Darin manifestiert sich demokratische Gleichberechtigung, unabhängig von der hierarchischen Position. Der Komponist, damals zugleich auch der Dirigent, repräsentiert das Individuelle an sich, nach dem sich die Gesellschaft richtet. Der Formplan, die Sonatenhauptsatzform, ist die vernünftig, verbindlich geregelte Gesellschaftsordnung, worin individuelle Gedankenkonzepte entfaltet, verarbeitet werden oder miteinander wetteifern können.
Den Hörern diente die verbindliche Form als Orientierung, als Wiedererkennungsmöglichkeit und Erkenntnishilfe. Mit der formalen Verbindlichkeit konnten sie die musikalischen Gedanken und deren Verarbeitung einordnen oder zuordnen und ein Werk begreifen.

4. Zwickmühle und Lösungsansatz


Im 19.Jahrhundert wirkte sich der Liberalismus immer intensiver auf Kultur und Gesellschaft aus, dadurch nahm stets die Bedeutung der Subjektivität zu, was alsbald zur höchst individualistischen Handhabung aller Formen der reinen Instrumentalmusik führte.
Mit dem schwinden der allgemeingültigen, verbindlichen Formhandhabung schwand aber auch die Orientierungsmöglichkeiten der Rezepienten. Was nicht schwand, war der Wunsch der Komponisten, verstanden zu werden, und der Anspruch der Hörer, ein neues Werk zu begreifen. So kam es dazu, dass Beethoven in seiner Neunten Symphonie den Text der „Ode an die Freude“ von Friedrich Schiller (1759 – 1805) durch Chor und Solisten gesungen als Verständnishilfe in den Finalsatz aufgenommen hatte.
Im Grunde bedeutete dieser Geniestreich ein Paradoxon, war Absolute Musik, deren repräsentativstes Phänomen die Symphonie darstellte, doch eigentlich Musik ohne außermusikalischen Bezug wie Wort oder Aktion. Die Zeitgenossen reagierten euphorisch auf das Paradoxon, trotzdem stellte sich für nachfolgende Komponistengenerationen die Frage, wie es mit der Symphonie nun weitergehen sollte. Richard Wagner (1813 – 1883) zog die radikalsten Konsequenzen, wandte sich nach ersten Versuchen vollkommen von der Symphonie ab und stellte das symphonische „know how“ in den Dienst seines Gesamtkunstwerkes.
So einfach konnte man die Symphonie aber nicht in Pension schicken. Sie war schließlich nicht die Erfindung eines Einzelnen, die überholt war, sondern Allgemeingut bürgerlicher Kunst und Kultur, durch zahlreiche zeitübergreifende Beiträge erkämpft, erworben und gewachsen. Gerade sie galt als künstlerisches Emblem der Menschenrechtsideen mit ihren Festschreibungen eines ethisch unverrückbaren, empathischen Verhältnisses von Staat zum Bürger, von Kollektiv zum Individuum. Eine Symphonie schreiben hieß, sich für das menschliche an sich einzusetzen – und Erbanspruch auf die Nachfolge des großen Ludwig van Beethoven – eigentlich dem Prometheus der symphonischen Form - anzutreten.
Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847) und Robert Schumann (1810 – 1856) begaben sich behutsam hinter die Grenzen der „Grande Symphony“ Beethovens, trugen schwer an der symphonischen Last und provozierten die Kritik Derer, die eine historische Weiterentwicklung der Symphonie postulierten. Andere, die neue Wege in der Symphonie gewagt hatten, mussten die Schelte Jener einstecken, welche die bewahrende Fortführung der Beethoven-Tradition forderten. Hierin bestand im ganzen 19.Jahrhundert eine Zwickmühle für die Komponisten.
Seit 1827 hatte FranGoisAntoine Habeneck Beethovens Symphonien in Paris aufgeführt und eine unglaubliche Begeisterung für den Klassiker ausgelöst. Hector Berlioz (1803 – 1869) hatte diese Aufführungen selbst in ausführlichen Kritiken besprochen.
1829 schrieb er in einem Brief an einen Freund, er wolle und könne Beethoven nicht übertreffen, weil er bis an die Grenzen der Kunst gegangen sei, sondern nur auf einem anderen Weg weiterschreiten. Mit seiner Symphonie Fantastique (1831 uraufgeführt) hat Berlioz dies erstmals in die Tat umgesetzt. Entsprechend groß war denn auch der Misserfolg. Nicht nur die traditionelle Anzahl von vier Sätzen der Symphonie hatte er gewagt zu erweitern, er führte sogar einen Walzer, der nichts in einer Symphonie zu suchen hatte, war er doch „Unterhaltungsmusik“, als zweiten Satz ein. Ferner verwendete er Instrumente, die vorher Tabu in der Symphonie gewesen waren: Harfe oder Becken z. B. Die Form veränderte bzw. missachtete er nach seinem kreativen „Belieben“. Als Genius wusste Berlioz selbstverständlich um die Notwendigkeit von etwas Verbindlichem in der Absoluten Musik, damit die Hörer sie begreifen konnten. Anstatt aber die schablonenhafte Form des Sonatenhauptsatzes einzuhalten, zog er es vor, ein Leitmotiv, von ihm selber Idee fixe genannt, einzuführen. Dieses zog sich als konstituierendes Element durch alle Sätze. Darüber hinaus gab ein quasi autobiographisches Rahmen Programm nötige Hinweise auf den Gehalt des Werkes. Den Versuch eines poetischen Rahmenprogramms hatte Beethoven in der Symphonie Nr.6 „Pastorale“ schon sehr erfolgreich versucht. Seine Vorgaben waren jedoch nicht spezifisch autobiographisch, vielmehr handelte es sich darin um Szenerien, die Jeder in seiner Realität auch erleben konnte, – im Gegensatz zu einem Hexensabbat auf dem Blocksberg oder einem Gang zum Richtplatz wie in der Symphonie fantastique. Aber Berlioz reizte seine Zeitgenossen nicht nur mit der individualistischen Konzeption seines Werkes sondern auch mit einer neuen, ungewohnten Ästhetik. Zum Beispiel seine neue Art der Instrumentierung, die dazu führte, dass die Orchesterklangfarbe sich zum eigenständigen Ausdrucksfaktor emanzipierte und den Spaltklang des klassischen Symphonieorchesters beendete.

In seinen Memoiren berichtet Berlioz, Niccolo Paganini (1782 – 1838) habe ihm 1833, tief beeindruckt von der Symphonie fantastique, den Kompositionsauftrag für ein Solokonzert erteilt. Beim Ansehen der Partitur zeigte der exzentrische Geigenvirtuose sich enttäuscht und lehnte das Werk ab, weil er so lange nichts zu spielen hatte, - er müsse immerfort zu tun haben, so seine Argumentation. Dank dieser Absage hatte sich für Berlioz die Gelegenheit ergeben, sein neues Werk ohne „Rücksicht“ gestalten zu können. Er nannte es nun nicht Konzert sondern, in Reflexion auf die Rezeption des symphonischen Schaffens von Beethoven, Symphonie, mit einer Bratsche als Soloinstrument. So entstand die Symphonie „Harold in Italien“. Das Versepos „Childe Harold's Pilgrimage“ von Lord Byron lieferte hier einen poetischen Bezugspunkt, quasi Begleitprogramm zur Konzeption des Werkes und als „Formersatz zur Orientierung der Hörer. In Erinnerung an seine einsamen Wanderungen durch die Abruzzen (zu Beginn der 1830erjahre) projizierte er sich als zurückhaltenden, verträumten, romantischen Helden in Harold hinein. Verkörpert wird er durch die Partie der Solobratsche, die in allen vier Sätzen (Berlioz hielt sich hier wieder an die Viersätzigkeit der Klassischen Tradition) auftaucht. Die meisten Zeitgenossen begriffen das Werk nicht. Auch viele Komponistenkollegen erkannten nicht seinen umwerfenden Lösungsansatz für zukünftige Symphoniekompositionen. Von Vielen wurde Harold in Italien schlicht als Programmmusik abgetan, die man von je her als minderwertig ansah.

5. Ausdruck statt Nachahmung

Die negative Bewertung von Programmmusik erklärt sich dadurch, dass Kunst sich im Spannungsfeld von „Mimesis“ und „Poesis“ bewegt. Mimesis ist die Nachahmung der Natur. Sie kann zweifellos sehr kunstvoll ausgeführt sein, birgt jedoch die Gefahr des Künstlichen oder Unnatürlichen. Das Märchen „Die chinesische Nachtigall“ darf als lehrreiche Metapher hierfür gesehen werden. Kant sagt in der „Kritik der Urteilskraft“ wahre Kunst erscheint als Natur. Poesis ist die geistige Abstraktion der Realität. Sie ist kunstvoll, sie versucht keine Nachahmung der Natur und lässt vor allem Raum für freie Assoziationen. Freilich birgt sie auch die Gefahr des Unverständlichen, namentlich in Musik ohne Text.
In der Kindersprache heißt ein Hund schlicht „Wauwau“, quasi als Lautnachahmung des gemeinten Tieres. Auch Jemand, der nicht der deutschen Sprache mächtig ist, könnte vom Klang her erraten, um welch ein Tier es sich hier handelt. Das Wort Hund, Ergebnis einer Abstraktion von Realität und jeglicher Lautnachahmung entzogen, lässt nicht unmittelbar auf seine Bedeutung schließen.
Wären die Sprachen im Mimetischen verhaftet geblieben, so hätte es niemals zu gehobener, qualitätsvoller Dichtung kommen können. Mit diesem Beispiel soll versinnbildlicht werden, wie es dazu kommt, dass Programmmusik so geschmäht wurde, Absolute Musik ist ihrer Entstehung und ihrem Wesen nach eben Poesis.
Lautmalerei und Darstellung von Naturvorgängen hatte die Instrumentalmusik in der Oper und im Oratorium während des 17.Jahrhunderts „gelernt“. Um Szenarien beschreiben zu können, insbesondere an Stellen, wo es noch keine Aktion der Protagonisten mit Text auf der Bühne gibt, erfüllte dies seinen Sinn. Selbstständige Instrumentalmusik jedoch, die sich ganz dem Lautmalerischen verschrieb, empfand man als minderwertig.
Antonio Vivaldis „Jahreszeiten“, wohl das berühmteste Beispiel für Programmmusik, entstand weder aus Banalität noch aus formaler Notwendigkeit heraus sondern um des Experimentierens willen. Die Form des Solokonzertes ist durch den Wechsel von Solo und Tutti so klar und einfach, dass man ein poetisches Programm wie das Sonett, welches den Jahreszeiten zugrunde liegt, um des Verständnisses willen nicht bräuchte. Der Reiz bestand für Vivaldi vor allem darin, die Naturvorgänge wie Vogelgezwitscher oder Sommergewitter etc. zur Erfindung und zum Ausprobieren neuer, extravaganter Spieltechniken auf dem Soloinstrument zu nutzen.
Die Mimethik der Jahreszeiten-Konzerte oder des „Tempesta di Mare“ aus op.8 ist fantasievoll und inspiriert, gängelt den Hörer nicht, erlaubt freie Assoziationen und fesselt auch ohne Hinweis auf das vertonte Programm. Vergleicht man den letzten Satz des Sommers von Vivaldi (ein Gewitter) mit den Gewitterstürmen von Beethovens Pastorale und der Wilhelm-Tell-Ouvertüre von Gioacchino Rossini (1792 – 1868), so stellt man Folgendes fest: Vivaldi erzählt „seinen“ Sturm mit Hilfe von symbolisierenden Spielfiguren aus dem Requisitorium der barocken Affektenlehre. Beethoven und Rossini dagegen haben sich vom Symbolhaften der Affektenlehre befreit und schildern sehr realistisch den Naturvorgang. Trotzdem wird darin nicht effekthaschend nachgeahmt sondern geistreich reflektiert. Beim Gewitter der Alpensymphonie bemüht Richard Strauss (1864 – 1949) noch zusätzlich eine Windmaschine und vertont Blitze, Donner, Wind etc so realistisch, dass freie Assoziationen vollkommen ausgeschlossen sind. Dies wäre aus der Sicht Kants keine Kunst, die als Natur erscheint, sondern Natur die als Kunst erscheinen soll.
Liszt in seinem Artikel über die Harold-Symphonie:
„Im ganzen genommen trägt der spezifische Symphoniker seine
Zuhörer mit sich in ideale Regionen, die auszudenken und aus-
zuschmücken er der Phantasie jedes einzelnen überlässt. In solchen
Fällen ist es sehr gefährlich, dem Nachbar dieselben Szenen und
Gedankenreihen oktroyieren zu wollen, in die sich unsere Einbildung
versetzt fühlt. Möge da jeder schweigend sich der Offenbarungen
und Visionen erfreuen, für die es keine Namen und keine Bezeichnung gibt.“

Ein interessantes Experiment im symphonischen Schaffen von Carl Ditters von Dittersdorf (1739 – 1799) soll hier nicht unerwähnt bleiben. Der Verfasser von gut 130 Symphonien, der regelmäßig Streichquartettpartner mit Wolfgang Amadeus Mozart, Joseph Haydn und Vanhall spielte, verwendete die Metamorphosen Ovids als poetische Vorlage für einige seiner Symphonien. Bedauerlicherweise hört man diese Werke kaum in Konzerten oder Rundfunksendungen, qualitätsvolle Einspielungen auf CD liegen ebenfalls nicht vor. Man darf die Versuche Dittersdorfs nun nicht als Vorläufer oder Wegbereiter der symphonischen Dichtung missverstehen. Die poetische Vorlage ersetzt hier nicht eine verbindliche musikalische Form, sie wird dem Sonatenhauptsatz vielmehr einverleibt. Ein Satz der Symphonie „Phaeton“ schildert, wie der Held den Sonnenwagen seines Vaters in rasanter Fahrt steuert, aus der Bahn gerät, auf der Erde Verwüstungen, Dürren, Brände und Stürme auslöst, alsdann von Zeus, den die Erde zu Hilfe rief, mit Blitzen geschlagen wird, wodurch Phaetons tödlicher Sturz vom Himmel auf die Erde erfolgt. Am Anfang des Satzes hören wir den Aufstieg des Sonnenwagens in einem sich langsam nach oben bewegenden Synkopenmotiv. Unvermittelt wird dieses Motiv mit halbierten Notenwerten zum Glied einer langen Kette über rastloser Harmonik. Die Synkopierung symbolisiert in der Tradition der Affektenlehre, dass etwas unheilvoll aus der Bahn gerät. So wird nach Art einer Sonatensatzdurchführung die Katastrophe der Sage erzählt, dann kommt kurz Lautmalerei ins Spiel, wir „hören“ die Blitze des Zeus, dann die Donner und vernehmen den Sturz Phaetons. Die Metamorphosen-Symphonien Dittersdorfs stehen zwar für das experimentierfreudige späte 18.Jahrhundert, dürfen dennoch als Vorahnung dessen, was Beethoven in seiner „Pastorale“ erreichen wird, gesehen werden.

6. Der entfesselte Prometheus

In der Harold-Symphonie entband also der poetische Bezug den Komponisten vom Schablonenhaften der überlieferten Form. Wegen des Unverständnisses der Zeitgenossen fühlte sich Franz Liszt (1811 – 1886) aufgerufen, einen ausführlichen Artikel mit großer Parteinahme für das neue Berlioz-Konzept zu verfassen. Freilich ging es neben kollegialer Solidarität vor allem um die Darlegung seines eigenen symphonischen Verständnisses, welches Berlioz durchaus ähnlich ist, es in Vielem aber noch an Konsequenz und Progressivität übertrifft.
In besagtem Artikel lesen wir: „Der malende Symphonist aber, der sich die Aufgabe stellt, ein in seinem Geist deutlich vorhandenes Bild, eine Folge von Seelenzuständen, die ihm unzweideutig und bestimmt im Bewußtsein liegen, ebenso klar wiederzugeben, - warum sollte er nicht mit Hilfe eines Programms nach vollem Verständnis streben?!" Hier und im folgenden Zitat des Artikels offenbart Lisztein vorzügliches Schaffensethos, wie es eines Symphonikers angemessen und würdig geheißen werden kann, namentlich in seinem Streben nach vollem Verständnis durch das Publikum, nach einem notwendigen sinnvollen Dreiecksverhältnis von Komponist – Werk – Rezepient also.
„Wir unsererseits sind überzeugt,
dass nicht jedes Genie seinen Flug auf die engen Grenzen der Bühne
zu beschränken vermag und infolgedessen gezwungen ist, sich ein
neues Gewand zu bilden.

Vielen erscheint es als ein absurdes, um nicht zu sagen profa-
nierendes Beginnen, ein fremdes Element in die Instrumentalmusik
einführen und hier heimisch machen zu wollen — ein Element,
das die freie Bewegung des Gefühls durch bestimmte, der Vor-
Stellung im voraus gegebene Objekte beschränkt, den Komponisten
zu einer poetisch zu formulierenden Konzeption, die er literarisch
zu vertreten hat, zwingt und die Aufmerksamkeit des Hörers nicht
allein auf das musikalische Gewebe, sondern auch auf die durch
seine Konturen und Reihenfolge ausgesprochenen Ideen lenkt.
Wie sollten sie nicht vor Berlioz, dem Vertreter dieser Richtung,
ihr Haupt verhüllen und ihr Barthaar ausraufen, vor ihm, der
dieses Beginnen so weit treibt, daß er in die bis jetzt absolut unpersönliche Symphonie die Stimme des Menschen durch Symbolisierung als gegenwärtig ertönen läßt? — vor ihm, der es wagt,
in die Symphonie ein anderes Interesse zu legen als das bisherige
und sie durch ein Element neuer Art zu beleben? — vor ihm,
der nicht damit zufrieden ist, die Klagen allgemeiner Trauer in
sie zu ergießen, die Hoffnungen aller aus ihr ertönen zu lassen,
aus ihrem Brennpunkt alle Affekte und Erschütterungen, Leiden
und Gluten auszuströmen, die im Herzen der Menschen, ja der
Menschheit pulsieren, sondern alle ihre Mittel und Kräfte sich zu
eigen macht, um sie zum Ausdruck der Leiden und Empfindungen
einer bestimmten Individualität, die aber ganz Ausnahme ist, zu
entfalten?“
Liszt war Namensgeber und Erfinder der Gattung „Symphonische Dichtung“, erstmals gebrauchte er den Begriff bei „Tasso“, 1849. Insgesamt 13 dieser Werke verdanken wir ihm. Seine erste symphonische Dichtung war „Ce qu'on entend sur la montagne“, von Liszt selber auch kurz „Bergsymphonie“ genannt. 1849 wurde sie erstmals aufgeführt, dann aber noch einige Male überarbeitet. In ihr wird deutlich, dass hier keine außermusikalische Handlung nach einem Fahr- oder Regieplan vertont wird. Hier geht es um „die Erneuerung der Musik durch ein innigeres Verhältnis zur Poesie“, wie Liszt selber sagte. Poesie versteht er hier nicht im Sinne von Wortdichtung sondern von Poesis.
Philosophische Gedanken über Mensch und Natur, über die Dialektik von Geist und Materie etc. sind es, die er symphonisch abhandelt, so auch in der Bergsymphonie. Victor Hugos Gedichtzyklus „Herbstblätter“ hatte Liszt mit seinen zahlreichen „Bildern“ zur symphonischen Reflexion inspiriert. Zwei Stimmen geben hier Laut, „Der Dichter vernimmt zwei Stimmen, die eine unermesslich, glorreich und ordnungsvoll, dem Herrn ihren jubelnden Lobgesang entgegenbrausend; die andere dumpf, voll Schmerzenslaut, von Lästern, Weinen und Fluchen angeschwellt. Die eine sprach: Natur, die andere: Menschheit! Die beiden Stimmen ringen sich einander näher und näher, durchkreuzen und verschmelzen sich, bis sie endlich in geweihter Betrachtung aufgeben und verhallen.", dies lesen wir im Erstdruck der Partitur des Werkes.
Die symphonischen Dichtungen sind auch Charakterisierungen oder Stimmungsbilder ihrer Protagonisten, z. B. in „Tasso, Orpheus, Faust, Prometheus oder Mazepa. Im Prometheus dreht es sich nicht um die Erzählung des Mythos, vielmehr erfahren wir zunächst das Leid eines Gefesselten, eines Rebellen, der gegen Regeln verstieß und am Ende triumphal verklärt wird.
„Lasst uns das neue Denken in alte Verse fassen - galt mir als Regel und wies mich zu musikalischer Plastik und Symmetrie hin“ bemerkt der Komponist in einem Brief auf die Prometheus-Symphonie bezogen.
Die symphonischen Dichtungen haben weder die Ausmaße der „Grande Sinfonie“ alla Beethoven, noch gliedert Liszt sie in mehrere Sätze. Dies ermöglicht ihn, sie bei aller Dialektik oder allen kontrastierenden inhaltlichen Elementen kohärent-organisch durchzuformen. Liszt hat Prometheus gleich die Fesseln des Festhaltens an Form und Tradition geistreich gesprengt. Man kann bei seiner Symphonik von höchster „Kunst des Übergangs“ im Sinne Richard Wagners sprechen. Mit ihrer auf Berlioz zurückgehenden, konsequent weiterentwickelten Klangfarbenorchestrierung und dem kühnen Modulations-Geschehen zählten diese Orchesterwerke Franz Liszts zu den avantgardistischen seiner Zeit.
Es ist sehr zu bedauern, wie wenig Aufmerksamkeit ihnen in unserem heutigen Musikleben geschenkt wird. Dabei sind sie, abgesehen von ihrer Schönheit und Qualität, unentbehrlich für das wirkliche Verständnis der Symphonien Gustav Mahlers (1860 – 1911).
In der „Orpheus-Symphonie“ vernehmen wir anhand zauberhafter Klänge, wie der Held selbst Tiere und Steine mit seinem Gesang zu rühren vermag.
Rührung, Anrührung, Berührung, Bewegung des Inneren, darin liegen gleichermaßen Magie, Macht und Aufgabe der Musik. Oftmals sollte oder muss man sich zuerst Wissen aneignen, um sich anrühren lassen zu können, denn außer dem rein sinnlichen Genuss, den uns die tönende Kunst schenkt, kann, ja soll sie auch zu Verständnis bzw. Verstehen zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Werk führen. Die symphonischen Dichtungen von Liszt sind göttliches Beweismaterial dafür!