Montag, 3. Dezember 2007

Eignungsprüfungen an Konservatorien und Musikhochschulen




Kleiner Test zum Stand Ihres Wissens

Wenn Sie nachstehende Aufgaben erfolgreich ausführen können, so haben Sie realistische Chancen, die Eignungsprüfung im Nebenfach Theorie zu bestehen. Falls nicht, greifen Sie zum Telefon!

Beginnen Sie mit der Vorbereitung!

089-7253439

1. Singen Sie die beiden Tonfolgen vom Blatt!

1.a. tonal – spielen Sie vor dem Singen die Fis-Dur-Kadenz in Oktavlage, um den Grundton der Skala abzunehmen!

1.b. Geben Sie sich den Ton Es vor.

Je nach Frauen- oder Männerstimme oktavieren Sie die Beispiele in Ihren Gesangsbereich!

2. Wo liegen in den beiden vierstimmigen Beispielen 2.a. und 2.b. die Fehler? (2.a. hat einen, 2.b. enthält zwei Fehler)

Allgemeinwissen

3. Beim Sextakkord liegt bekanntlich die Terz eines Dreiklanges im bass. Warum nennt man ihn dann nicht „Terzakkord“?

4. Warum soll man nach einer dominantischen Harmonie nur in Ausnahmefällen eine Subdominante setzen?

5. Erklären Sie die Termini homophon – heterophon und polyphon. Ordnen Sie diese musikgeschichtlichen Epochen zu!

Sonntag, 2. Dezember 2007

Bach - Mozart - cannabich - von Gedankenaustausch und Gedankenarbeit

zur Entwicklung der Symphonie -
von Gedankenaustausch und Gedankenarbeit
Vortrag in der Galerie f5komma6 vom 29. 11 2007

Die kulturelle Emanzipation des Individuums führte im Europa des 18.Jahrhunderts zu spektakulären Veränderungen und Neuerungen. Die Ideen und Schriften Jean Jacques Rousseaus spiegeln diese wieder. Dabei fällt auf, wie stark das Subjektive in unserer Kultur bereits an Bedeutung gewonnen hatte. Rousseau betonte den empfindenden, bedürftigen und instinkthaften Teil der menschlichen Persönlichkeit. Eine vernunftorientierte, reglementierte Gesellschaft sah er als unnatürlich und daher als deformierend für das Individuum an. Sein Postulat, zum Einfachen und Natürlichen zurückzukehren, fand ein Pendant in den Schönen Künsten. Hier endete um die Jahrhundertmitte das reglementierte, etikettenhafte Barock, welches den Geist der Aufklärungsphilosophie wiederspiegelte. Im Bereich der Musik begann die sogenannte Vorklassik. Ihr empfindsamer, galanter und zuweilen stürmischer Tonfall zeugt davon, dass Individualität und Subjektivität sich von jetzt an freier als zuvor in der Kunst entfalten konnten. Der gestiegene Pegel an Subjektivität und Liberalität erlaubte es jetzt, viele strenge Vorschriften und Regeln der vorangegangenen Epoche einfach über Bord zu werfen. Im Vergleich zum Barock war diese neue Art Musik naiv und simpel. Das aber hatte den Vorteil, dass sie breiten Bevölkerungsschichten zugänglich war, selbst den wenig gebildeten. Die Philosophie der Aufklärung und die neue Rousseau-Strömung hatten interessanterweise ein feindseliges Verhältnis. Darin kommt jener Entfremdungsprozess zum Ausdruck, der signifikant für die westliche Kultur ist. In diesem Prozess sind Vernunft, Empfinden und Geist in heftige Eigendynamik geraten und haben sich voneinander separiert. In der Persönlichkeit der meisten Menschen des westlichen Kulturkreises hat einer dieser drei Bereiche ein Übergewichtt. Dadurch ist häufig die Beziehung zu den beiden anderen Sektoren gestört. Im Sprachgebrauch unterscheiden wir ja auch zwischen Kopf-, Gefühls- und vergeistigten Menschen.
Ihren Sieg über die anderen Gattungen der Absoluten Musik verdankte die Symphonie den neu gewonnenen Freiheiten im Stil. In der symphonischen Praxis spiegelte sich das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum übrigens genauso wieder, wie es von Rousseau gefordert wurde: der Staat sollte sich nach dem Individuum richten, nicht umgekehrt. Das Orchester, das die Gesellschaft symbolisierte, richtete sich nach einem Individuum, dem Dirigenten. Er war in der Regel auch zugleich Komponist der aufgeführten Werke.
Die Form und die neue Orchesterspielpraxis der Symphonie konnte sich vor allem dadurch entwickeln, dass man im vorklassischen Stil das Hauptaugenmerk auf die Oberstimme bzw. eingängige Melodik lenkte. Harmonik und Begleitung dagegen wurden sehr schlicht und einfach gehalten.
Seit der Mitte des 18.Jahrhunderts stand das Mannheimer Hoforchester als weltbestes an der Spitze aller Ensembles. Mit seiner neuen Proben- und Orchestrierpraxis sowie seiner technischen Perfektion setzte es nicht nur Maßstäbe sondern trieb den Siegeszug der Symphonie voran. 1757 trat Johann Christian Caanabich (1731 – 1798) die Nachfolge von Johann Stamitz an, der das Orchester gegründet hatte. Cannabich war seit seinem 12.Lebensjahr schon Orchestermitglied. Er wurde vom pfälzischen Kurfürsten Carl Theodor wegen seines auffälligen Talents zu Kompositionsstudien bei Nicolo Jommelli, damals einer der bekanntesten Opernkomponisten, nach Italien
geschickt. Von dort zurückgekehrt wirkte er wieder im Orchester mit und komponierte 90 Symphonien. Darin kann man seinen Erfahrungsreichtum durch den Umgang mit einem Spitzenorchester vortrefflich erkennen. In den Briefen Mozarts gehört Cannabich zu den meist genannten Namen. Mozart war in Begleitung seiner Mutter auf Reisen gegangen, um an exponierter Stelle in Europa ein festes Arbeitsverhältnis zu finden. So hielt er sich 1777 einige Zeit in Mannheim auf, er lernte Cannabich kennen und es entstand eine lebenslange Freundschaft zwischen beiden. Cannabich hatte die Größe des jungen Genies sogleich erkannt. Seine Kollegen, so Mozart in einem Brief, nahmen ihn jedoch anfänglich nicht sehr ernst wegen seiner Jugend und seines kleinen Wuchses. Die Freunde hatten einen regen Gedankenaustausch über die Situation der Oper, die Symphonienkomposition und Angelegenheiten der Orchestrierung. Wir dürfen davon ausgehen, dass hier eine gegenseitige Befruchtung stattgefunden hat. Als dann Kurfürst Carl Theodor seinen Hof im Jahre 1778 nach München verlegte, übersiedelte natürlich auch sein Spitzenorchester dorthin. 1780 kam es zu einer weiteren fruchtbaren Begegnung Mozarts mit Cannabich. Dieser leitete die Proben sowie die Uraufführung des Idomeneo, der experimentellsten aller Mozartopern. Mit dieser Oper wurde die „späte und reife“ Schaffensperiode des Genies eingeleitet. Vergleichen wir die Sinfonie zu Beginn des Idomeneo mit der 10 Jahre später komponierten Symphonie Nr.63 von Cannabich, so ist unüberhörbar, dass beide Komponisten in ihrer Entwicklung einen langen Weg miteinander gegangen waren, man kann aber auch die Unterschiede nicht überhören, die Cannabich als großes Talent und Mozart als Genie ausweisen. Talent bringt Höchstleistungen im Überkommenen, Genie erschließt neue Räume und erbringt zugleich zeitübergreifend wirksame Höchstleistungen. Zu diesem gravierenden Unterschied zwischen beiden Freunden gesellten sich aber auch noch entscheidende kulturelle Veränderungen.
Die Künste waren im zweiten Drittel des Jahrhunderts dabei, sich aus ihrer gesellschaftlichen Funktion als Zierrat zu lösen und sich als eigenständige Valeurs in der Kultur zu etablieren. Der Anspruch auf Erbaulichkeit und Unterhaltsamkeit wich nach und nach jenem auf höchsten Ausdruck, Wahrhaftigkeit und höchste Qualität. So entstand schließlich „Ernste Musik“ - nicht mehr nur im geistlichen sondern auch im weltlichen Bereich. Damit war der Vorklassik ihr Ende bereitet. Ernsthafte Kunst konnte sich nach den fortschrittlichen bürgerlichen Vorstellungen nicht nur auf Details wie Erbaulichkeit und Unterhaltsamkeit beschränken. Sie musste sich des Gesamten annehmen. Das heißt: nicht nur des Freien, auch des Gebundenen, nicht nur des Subjektiven sondern auch des Objektiven, nicht nur des Menschlichen sondern auch des Göttlichen. Indem man Melodie, schlichte Harmonik und Begleitung in den Vordergrund stellte, war das nicht zu machen.
Wie aber konnte die Symphonie den neuen Anforderungen genügen?
In Mozarts Briefen der späten Siebzigerjahre taucht ein weiterer Name häufig auf: Bach (Johann Sebastian). Er ist stets mit der Bitte an den Vater verbunden, ihm Noten, insbesondere Fugen
des Thomaskantors zu schicken. Fugen kannte Mozart natürlich und er hatte ja selbst große kontrapunktische Fähigkeiten besessen.
Jedoch die absolute Konsequenz von Bachs Fugen, die rationelle, ökonomische Handhabung des Kompositionsmaterials übten eine starke Faszination auf ihn aus. Kein Ton in Bachs polyphonen Werken war Zierrat oder überflüssig. Die Fugen stellten sinndurchdrungene Stücke dar, jede einzelne Note besaß Legitimation durch die Begrenzung auf das am Anfang exponierte Motivmaterial. Dies schien Wege aufzuweisen, die Symphonie gemäß den sich verändernden Ansprüchen der Kunst weiterzuentwickeln. Erst Gedankenarbeit konnte die Klassische Symphonie zur vollendeten Kunstform von Bestand erheben. Haydn war dies gelungen, indem er „thematische Arbeit“ in den Durchführungsteil des Symphonienkopfsatzes eingeführt hatte. Kühnes harmonisches Geschehen, Stutzung, Wiederholung oder kollagenartige Kombination des Motivmaterials führten den Hörern die Denkprozesse des Komponisten vor. Haydn veränderte auch hin und wieder Details der allgemein bekannten Formvorlage. So entstand ein „Überraschungseffekt“ bei den Hörern, durch den ein Gedanke bzw. eine Konsequenz aus der Gedankenarbeit unterstrichen werden konnte. Mozart folgte Haydn auch in diesem Punkt, zumeist jedoch auf wesentlich maßvollere Weise. Als er 1786 die Prager Symphonie KV504 in D-Dur komponierte (sie wurde 1787 In Prag uraufgeführt, daher ihr Name) ist unter dem Einfluss Bachscher Fugengenialität seine vielleicht ungewöhnlichste Symphonie entstanden. Hier einige Beispiele: Diese Symphonie besitzt
eine langsame Einleitung vor dem schnellen Kopfsatz. Bei Haydn war dies der Regelfall, bei Mozart hingegen gibt es dies nicht all zu häufig. Kraftvoll, affirmativ im Unisono beginnt die Einleitung. Dann hören wir eine zaghaft aufsteigende Dreiklangsbrechung über der Tonika, nur von den Streichern abrupt im piano vorgetragen. In dem Augenblick aber, wo das Phrasenende auf einem harmonieeigenen Ton der Tonika vermutet wird, erklingt im forte überraschend ein unerwarteter, Akkord, eine sogenannte Wechseldominante (Fis-Dur). Alsdann wird piano mit Seufzern in der Mollparallele fortgefahren. Schon in diesen ersten Takten kündigt sich an, dass wir im weiteren Verlauf durch Ungewöhnliches gefordert werden. Trotz des D-Dur hat dieser recht lange Einleitungssatz nichts Strahlendes, in seinem weiteren Verlauf schreitet er gar mit düsterer, unheimlicher Majestät, die an Don Giovannis Ende erinnert, voran, um dann klagend, fragend auf der Dominante im piano stehen zu bleiben. Der darauf folgende Sonatenhauptsatz (allegro) wartet dann bereits mit der nächsten Überrascheng auf: Die ersten Violinen beginnen alleine mit dem d’ in Synkopen, als blende sich das Thema allmählich ein, dann beginnen 2.Violinnen, Bratschen, Celli und Kontrabässe mit langsamen Notenwerten, als stellten sie eine Frage. Diese wird dann in Takt 7 und 8 von den Bläsern selbstbewusst beantwortet. Wir haben bereits innerhalb der ersten 8 Takte einen extremen Dualismus. Der gesamte Satz beeindruckt, weil er durchwegs vielschichtig, polyphon angelegt ist. Kein motivisches Füllmaterial wird aufgefahren, um Übergänge zu gestalten, statt dessen bezieht er sich konsequent, rationell und ökonomisch auf Motivmaterial des Haupt und Nebengedankens. Waren bereits im Teil der Themenaufstellung (Exposition) imitatorische Einwürfe zu vernehmen, so gebärdet sich der Durchführungsteil fugenartig, mit imitatorischem Geschehen und dramatischer Verknüpfung der Motivik. Mozart hat hier Bachs kompositorische Ethik und konsequente, durchorganisierte Kontrapunktik nicht einfach manieristisch imitiert, er hat sie genial transformiert und als Arbeitsmethode in die moderne Symphonie seiner Zeit integriert. Der langsame Satz lässt das (üblicherweise) Liedhafte weit hinter sich. Er gibt sich klagend, melancholisch, man ahnt bereits Schubert. Das Finale beeindruckt mit seinen extremen Klangkontrasten zwischen instabil anmutenden, verwischten Episoden, die jäh von aggressiven, markanten Fortissimopassagen abgelöst werden. Der Prager Symphonie fehlt das Menuett, welches üblicherweise an dritter Stelle steht. Manche Musikwissenschaftler rätseln herum, was der Grund dafür sei. Bedenkt man den Charakter und die Dichte der drei beschriebenen Sätze, so muss man erkennen, dass hier ein höfischer, womöglich galanter, charmanter Menuettsatz gar keinen Sinn ergeben würde. Es war folgerichtig von Mozart, hier auf die Einhaltung einer Konvention zu verzichten. Haydn hat polyphone Arbeitsmethoden weniger bemüht als Mozart, seit Beethoven gehören sie jedoch zum Standard in der Symphonie. Dort begegnen uns hin und wieder eindrucksvolle Fugenepisoden, so etwa im zweiten Satz der 3.Symphonie „Eroica“.

Die Prager Symphonie ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Leistungen der Wiener Klassik. Haydn und Mozart haben rationale Elemente wieder in die Musik, die ganz von der Empfindung vereinnahmt worden war, zurückgeführt. Die Balance zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven ist für die Kunst und die Rezepienten von größter Wichtigkeit.
Nach der Aufklärung mit ihrer Überbetonung des Rationalen war es den Gesetzen der Dialektik entsprechend logisch und notwendig, das Subjektive und Empfindsame zu fokussieren, wie es Rousseau getan hat. Individualität aber besteht aus Beidem und Kunst ist für alle Bereiche menschlicher Existenz zuständig, also muss sie Beides ansprechen. Dies ist der Wiener Klassik gelungen, darin liegt ihre zeitlose Bedeutung. Kunst kann in einer Kultur mit Entfremdung zwischen Vernunft und Empfindung als integrierender Faktor wirken. Mit der Einführung von Gedankenarbeit in die Symphonienkomposition hat man die Musik vor dem Verharren im Schlichten, Subjektiven und Einseitigen bewahrt. In der Klassik wurde dem oberflächlichen Zuhörern der Zugang erschwert. Die Komponisten forderten sowohl emotionales wie rationales Mitgehen. Es soll mitgedacht werden. Wer da aber sagt, es genüge, sich am schönen Klang zu ergötzen, der bleibt den Komponisten Einiges schuldig. Wer die Musik wirklich in sich aufnehmen möchte, der braucht Energie, aber er bekommt sie um das Vielfache auf einer anderen Ebene zurück. Damit ist wohl auch völlig klar, dass Kunst nicht für den bloßen Konsum bestimmt ist. Sie gerät in der bürgerlichen Gesellschaft in ihren bekannten inneren Widerspruch: sie kann niemals Massenprodukt sein oder werden. Man ist aber seitens der Veranstalter oder Tonträgerproduzenten immer wieder dazu gezwungen, zumindest dazu verführt, dies zu versuchen, weil Kunst und Kultur profitabel sein müssen. Dieser Widerspruch der bürgerlichen Kunst ist so schnell wahrscheinlich kaum zu lösen. Abgesehen von allen Zwängen der Produktionsverhältnisse und auch jenseits aller geschmacklichen Verschiedenheit bei den Rezepienten:

Musik hören bedeutet Wahrnehmen und das wiederum erfordert Hören als eine Einheit von Fühlen und Denken.

Montag, 29. Oktober 2007

Mozarts und Haydns Sinfonik –

Mozarts und Haydns Sinfonik –

über komplementäre Genialität

Zeitreise durch die Musikgeschichte, Vortrag am 25. 10. 2007 in der Galerie f5komma6

Die westliche Kultur ist die Kultur des Individuellen und des Subjektiven. Sie wurde dies unter der Einwirkung ihrer kulturimmanenten Faktoren.

Weil die Schönen Künste reine Erscheinungsformen von Geist und Gesellschaft sind, nahmen sie in Europa zwangsläufig eine ganz spezifische Entwicklung. Dies sehen wir deutlich seit der Epoche des Humanismus um 1500.

Geist beinhaltet Dynamik. Konzentration und Expansion sind zwei wesentliche Prinzipien der Dynamik. Sie sind nicht einfach Gegensätze, sie stehen vielmehr in einem dialektischen Verhältnis zueinander und wirken meist im Verbund.

Je stärker sich die westliche Kultur auf das Individuelle konzentrierte, desto mehr expandierte das Subjektive und übernahm in der bürgerlichen Gesellschaft seit dem 19.Jahrhundert immer stärker die Vorherrschaft.

In der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts fand der Kopernikuseffekt in Europas Kultur statt. Zuvor erschien das Objektive als Fixpunkt, um welchen das Subjektive „kreiste“ . Jetzt aber sah man das Subjektive als Zentrum, um welches Objektivität kreist. Kant1 sagte in seiner kritischen Phase, das Objektive existiere erst durch die Wahrnehmung oder Erkenntnis durch das Subjekt.

In der Musik spiegelte sich der Kopernikuseffekt im Phänomen der Sonatenhauptsatzform wieder. In ihr bildeten die subjektiven Empfindungen und Gedankenprozesse das Zentrum. Um dieses „kreiste“ die Form als objektiver Rahmen. Sie gab sozusagen einen verbindlichen, immer gleichbleibenden Grundriss wie bei einem Bauwerk vor. Er wurde von allen Komponisten eingehalten. Proportionen, Maße und innere Gestaltung des Bauwerks wurden je nach subjektivem Inhalt individuell konzipiert. Die Hörer vermochten es dennoch, sich in jedem neuen „Gebäude“ zurecht zu finden, weil der Grundriss, den Alle ja kannten, immer der gleiche blieb.

Kunst kann nur dann von Bestand sein, wenn sie verstanden werden kann. Dazu bedarf es unabdingbar der Koexistenz subjektiver und objektiver Aspekte im Kunstwerk.

Das Vorzügliche der Wiener Klassik besteht in dem ausgewogenen Verhältnis beider Aspekte, welches die Komponisten in ihren Werken herstellten.

Die Sonatenhauptsatzform lag deshalb im letzten Drittel des 18.Jahrhunderts nahezu sämtlichen Kopfsätzen aller Gattungen der Absoluten Musik2 zugrunde. In der klassischen Symphonie findet Musik, die ausschließlich sich selbst und den Belangen der menschlichen Existenz an sich verpflichtet ist, ihre repräsentativste, relevanteste und monumentalste Erscheinungsform.

Am Beginn der Wiener Klassik stand die Bedeutung des Individuums und seiner Leistungen bereits deutlich im Vordergrund. Hier entstand die Vorstellung von Genialität im heutigen Sinn. Demnach ist sie eine kreative Begabung. Ihr Unterschied zum bloßen Talent besteht darin, dass sie nicht nur im Rahmen des Überkommenen Vollendetes leistet. Genialität erschließt völlig neue Bereiche und erfüllt sie zugleich mit Höchstleistungen. Je mehr die Subjektivität an Herrschaft in der Kultur errang, desto stärker wurde insbesondere die Originalität genialer Werke betont.

Je höher der Subjektivitätsstand einer Kultur ist, desto schwerer wird die Verständigung ihrer Individuen untereinander, zumal in einer Gesellschaft mit Entfremdung als charakteristischem Merkmal.

Insofern kann man sich gut ausmalen, wie schwer es da erst Genies haben, verstanden zu werden. Wie kann man denn Genies überhaupt verstehen? Bedürfte es seitens der Rezepienten eigentlich nicht der selben Genialität, um das Genie in seiner Gesamtheit zu begreifen?

Um wie Vieles leichter fällt es dagegen, Genialität zu bewundern oder zu verehren. Doch Verehrung bedeutet nicht notwendigerweise Verständnis. Verehrung und Bewunderung von Genialität kompensiert oft genug die Erkenntnis des eigenen Talentdefizits oder ist die Projektion narzisstischer Sehnsüchte. Man verehrt also vielfach vor allem die Kluft zwischen dem „Normalen“ und dem Genie und geht dabei an der wahren Bedeutung der Genialität vorbei. Dies sehen wir deutlich im Virtuosenkult.

Komponisten sind keine Virtuosen, sie haben es infolgedessen viel schwerer. So häufte sich mit Zunahme von Subjektivität und Entfremdung in der Gesellschaft seit dem 19.Jahrhundert denn auch das Phänomen des von den Zeitgenossen völlig unverstandenen Genies.

Im letzten Drittel des 18.Jahrhunderts, als noch die alte Gesellschaftsform bestanden hat, war die Situation in dieser Hinsicht ein wenig einfacher. Noch hatten sich die Schönen Künste nicht als eigenständige Valeurs aus ihrem gesamtgesellschaftlichen Kontext separiert. Musik hatte kunstvoll und gleichzeitig unterhaltsam zu sein.

Mozarts3 und Haydns4 Genialität sind komplementär, sie ergänzen sich also jeweils. Im Bereich der Absoluten Musik ist Haydn von expansiver, Mozart von konzentrierender Genialität. Im Bereich der Oper ist es genau umgekehrt.

Über Mozarts Symphonien kann man nicht sprechen, ohne stets auf Haydn zu verweisen (ähnlich verhält es sich mit Beethovens Symphonien). Haydns expansive Genialität im sinfonischen Schaffen wurde durch Mozarts Genialität bestätigt und vervollkommnet. Eine konzentrierende Genialität, die ständig fand, ohne zu suchen und die im Moment ihrer Entstehung schon perfekt war. Haydn schuf Neuerungen in der Absoluten Musik, Mozart griff sie auf und folgte Haydn mit der ihm eigenen Perfektion. Die letzten Symphonien der Beiden zeigen dies besonders deutlich. Allerdings versetzt uns der Tonfall von Haydns späten Symphonien bereits ins 19.Jahrhundert, während Mozarts symphonischer Tonfall konservativer anmutet. In der Oper ist Mozart der Avantgardist. Er empfand die Genrezuordnung in Opera serea5 und Opera buffa6 als hinderlich, weil es ihm darum ging, vom Klischee Abstand zu nehmen und wahrhaftige Menschen mit all ihren Fassetten auf die Bühne zu stellen. Damit nahm tatsächlich eine Entwicklung bis hin zum Verdischen7 Verismo8 ihren Anfang. Gleichwohl bleibt Mozart stilistisch vollkommen im 18.Jahrhundert.

Mozart und Haydn waren auch in ihrer Persönlichkeit und Vita zwei sehr unterschiedliche Genietypen. Mozart, der als Wunderkind bereits mit 7 Jahren Symphonien schreiben konnte, war im Verbund mit seiner Virtuosität das auffällige Genie. Genialität, das muss uns immer vor Augen sein, besteht aber nicht darin, etwas mit 7 Jahren zu komponieren, was Andere vielleicht erst mit 30 zustande bringen. Genialität erschließt neue Räume, verbunden mit Höchstleistung und zeitübergreifender Wirksamkeit. In dieser Hinsicht sind Haydns Symphonien der frühen 60er Jahre seines Jahrhunderts die genialeren. Haydn fehlte der Wunderkindaspekt, er war zudem von ungewöhnlicher Bescheidenheit und er besaß kein exzentrisches Wesen. Er war dadurch ein unauffälliges, unspektakuläres Genie. Seine expansive Genialität war jedoch für die Entwicklung der Symphonik des 19.Jahrhunderts von größter Wirksamkeit. Gerade das 19.Jahrhundert aber erkannte dies aufgrund seiner Vorstellung vom Genie als narzisstisch und exzentrisch gar nicht.

Von Anfang an aber zeichnete sich Haydns Schaffen durch hohen und originellen Einfallsreichtum und ebenso individuelle wie gelungene Experimente aus. Dabei stammte er aus einfachen Verhältnissen und einer Familie ohne musikalische Vorfahren. In der neuen Ära nach dem Ende des Barock fand er zudem nur wenig worauf er aufbauen konnte. Ganz anders dagegen Mozart. Er stammte bekanntlich aus einer Familie mit musikalischen Vorfahren und stand unter der Fuchtel seines Vaters, der ihn von frühester Jugend an mit Musik an Hof, in Theater und Kirche „bombardiert“ hat. Die vielen Reisen führten bereits als Kind zur Begegnung mit der italienischen Oper und den Werken Johann Christian Bachs9 (des jüngsten Sohnes des Thomaskantors). Seine Opern und Symphonien beeinflussten Mozarts Stil bis in die letzte Schaffensperiode. Auch in der Instrumentalmusik war die Oper stets Mozarts Inspirationsquelle, oft genug scheinen imaginäre Texte seinen Themen zugrunde zu liegen. Man denke zudem auch an das „singende Allegro“ in seinen Instrumentalwerken.

Die Oper stellte für Haydn eine sekundäre Inspirationsquelle dar. Bei ihm war es unter anderem die Volksmusik Österreichs und Ungarns. Immer wieder können wir dies deutlich vernehmen und zugleich Haydns expansive Genialität erkennen. Er verfiel nicht in „volkstümelnde“ Gestikulation sondern er absorbierte das schlichte und eingängige, gleichwohl kraftvolle Material und wandelte es in große Symphonik. Entschlossen und zielstrebig steuerte er auf die Klassische Symphonie zu. Sie ist sein Werk. Sie wurde durch ihn vom handwerklich meisterhaften Gebrauchsstück zur originellen, bedeutsamen und beständigen Kunstgattung transformiert und erhoben. Er schaffte in der Absoluten Musik also genau das, was Mozart in seinen späten Opern gelang.

Europas Kultur und Gesellschaft befand sich am Ende des 18.Jahrhunderts an einem Wendepunkt, welcher in der Musik zu einem Glücksfall als Erscheinungsform führte.

In Haydns Symphonik und in Mozarts Opern sprach erstmals der Mensch als Individuum zum Menschen als Individuum. Komponist und Rezepient wurden als paritätisch angesehen. Weder biederte sich das Werk den Hörern an, noch zwang das Werk den Hörer zur sklavischen Subordination. Wo es der subjektive Inhalt erforderte, wurde die formale Konzeption abgeändert, wo es die Verständlichkeit erforderte, wurde das Subjektive dem Formalen untergeordnet.

Die engen Freunde Mozart und Haydn erkannten jeweils die Genialität des Anderen. Sie waren keine Rivalen, weil sie das Komplementäre ihrer Genialität erkannt haben mochten, ganz sicher waren sie beide von gleichen ethischen Grundsätzen geleitet. Ihr Schaffen liefert ideales Lehrmaterial für das Verhältnis von Individualität zur Gesellschaft und von Gesellschaft zur Individualität.

Genialität ist für die Entwicklung einer Kultur immer ein Glücksfall. Für das Genie selber bedeutet sie jedoch oftmals Bürde, Qual und Einsamkeit – aber nicht nur. Genialität ist ein Geschenk Gottes, wodurch dem Schaffenden die Gnade und der Vorzug gewährt wird, dem größten und eigentlichen Schöpfer aller Dinge nicht nur verbunden sondern sogar nahe zu sein.

In den Werken Haydns und Mozarts spüren wir immer wieder tief berührt, wie stark sie dies gefühlt haben.



Rolf Basten

Copyright

1Immanuel Kant 1724 – 1804, Philosoph der Deutschen Aufklärung

2Absolute Musik ist rein instrumentale Musik ohne funktionale Bindung an außermusikalische Vorgänge wie staatliches oder geistliches Ritaul beispielsweise

3Wolfgang Amadeus Mozart 1756 - 1791

4Joseph Haydn 1732 - 1809

5ernste Oper

6komische Oper

7Giuseppe Verdi 1813 - 1901

8Fachausdruck für die von Verdi entwickelte Konzeption zur wahrhaftigsten Darstellung des Menschlichen im Bühnenwerk

9Johann Christian Bach 1735 - 1782

Donnerstag, 18. Oktober 2007

Zwei kulturimmanente Faktoren Europas

Die zwei kulturimmanenten Faktoren Europas

Europas Kultur hat ihre Wurzeln im Christentum. Daher haben auch die beiden kulturimmanenten Faktoren Europas ihren Ursprung darin. Europas Kultur zeichnet sich durch eine ungeheuer rasante, mitreißende Dynamik aus. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der eine kulturimmanente Fakttor das Prinzip der Expansion, der andere das der Konzentration repräsentiert. Beide Faktoren wirken stets gemeinsam und verstärken sich gegenseitig.

1. Der expansive kulturimmanente Faktor

1.1. Ursprung

Das Christentum wurzelt bekanntlich im Monotheismus des Judentums. Dies hatte den einen, personellen Gott erkannt, von dem Alles kommt. Welch ein riesiger Sprung in der Entwicklung der Menschheit!

Doch in der Dreifaltigkeit des Christentums wird der eine Gott in drei selbstständigen Erscheinungsformen manifest. Als Gott Vater, Schöpfer aller Dinge auf der Ebene der Vernunft und Erkenntnis, In Christu Jesu auf der Ebene der persönlichen, menschlichen Begegnung und der Empfindung sowie im Heiligen Geist auf der Ebene der Abstraktion und des Geistigen. Drei wesentliche Wahrnehmungssektoren des Menschen wurden mit jeweils eigener göttlicher Wesenspräsenz erfüllt. Dies hat anscheinend deren Eigendynamik verursacht und die Entwicklung der europäischen Kultur gewissermaßen mit Separationsenergie beliefert.

Salopp gesagt: man kann im „göttlichen Splitting“ den Ursprung des expansiven kulturimmanenten Faktoren vermuten.

Er bewirkte kontinuierlich die Separation von Dingen, die anfänglich eine Einheit dargestellt hatten, die einst eng bzw. scheinbar untrennbar miteinander verbunden waren. Blicken wir auf die letzten zwei Jahrtausende zurück, so können wir diesen unaufhaltsamen Separationsprozess als typisch europäisch deutlich erkennen. Er ist in außereuropäischen Kulturen erst dann zu beobachten, nachdem sie von europäischer Kultur beeinflusst worden sind.

Das Separationsphänomen darf hier nicht mit Zerfall oder Verfall verwechselt werden. Es handelt sich auch nicht um ein Phänomen vergleichbar der Zellteilung. Dies wäre ganz einfach Vermehrung. Im europäisch signifikanten Separationsprozess drifteten die Dinge nicht einfach auseinander. Die herausgelösten Partikel entwickelten jeweils eine Eigendynamik. Aus den herausgelösten Teilen separierten sich durch den expansiven kulturimmanenten Faktor wieder welche, entwickelten ihrerseits Eigendynamik und so fort. Ein beständiger Hypostasierungsprozess fand statt und er hält immer noch an. Europa ist der dynamischste und expansivste aller Kulturkreise.

Für die Künste hatte diese Dynamik gravierende Folgen. Veränderungen geschahen auf rasante Weise und brachten die überwältigende Vielfalt der Stile und Epochen hervor. Unter dem zusammenwirken der beiden europäischen kulturimmanenten Faktoren steigerte sich der ständige, Alles erfassende Separationsprozess. Er führte zur Zersplitterung und Entfremdung als soziales, psychologisches, markantes kulturelles Ereignis in unserer Zeit.

1.2. Wirkung

In der Musik sind die Phänomene europäischer Kulturdynamik besonders auffällig. Das Gehör ist der direkte Eingang zur Seele. Musikalische Rezeption ist zwar immer nur augenblicklich, daher flüchtig, jedoch ihre Reizwirkung erweist sich als besonders intensiv und unmittelbar. Weil Erkenntnis Empfindung und Empfindung Erkenntnis bewirkt, lässt sich anhand der Musik als Erscheinungsform von Geist Einiges besonders deutlich demonstrieren. Daher sollen bestimmte Vorgänge herausgegriffen und im Zeitraffer betrachtet werden. So kann man die Wirkung der kulturimmanenten Faktoren gut erkennen.

Zunächst war Musik in Europa wie bei allen anderen Kulturen nur in einer Stimme existent, auch wenn sie von mehreren Sängern und Spielern zugleich ausgeführt wurde. In Europa spaltete sie sich jedoch um das Jahr 1000 in mehrere Stimmen auf. Mehrere verschiedene Töne erklangen nun gleichzeitig. Anfänglich bewegten sich die diversen Stimmen teilweise noch parallel nebeneinander her, jede einzelne entwickelte aber schon bald ihre höchste Eigenständigkeit. Die als Polyphonie bekannte Satztechnik erlebte im 16.Jahrhundert bei Palestrina und Orlando di Lasso ihren Höhepunkt.

Im Humanismus nun separierte sich der Mensch kulturell als Individuum aus einem Gesamtkontext. Dadurch entstand die Absolute Musik als völlig neues Phänomen. Bis zum Humanismus diente Musik ausschließlich den anderen Künsten. Sie untermalte Wort, Tanz oder weltliches und religiöses Ritual. Absolute Musik hatte sich aus jeglichem Dienstverhältnis herausgelöst und existierte um ihrer selbst willen. Den Komponisten bot sie nun die Möglichkeit, als Individuen aus dem musikalischen Gesamtgeschehen hervorzutreten. Vokalmusik und Tanzmusik blieben natürlich weiterhin bestehen, verloren aber in der Kunstmusik mehr und mehr an Bedeutung. Seit der Entstehung Absoluter Musik konnten die Komponisten ganz persönliche Gedanken und Empfindungen nach eigenem Willen und eigener Vorstellungskraft in Kunst umsetzen. Das Separationsphänomen geht aber auch hier noch weiter. Die ersten Werke Absoluter Musik trugen den ganz allgemeinen Namen Fantasia. Doch schon bald erhielten die Fantasien spezifizierende Namen, je nach ihrem Charakter, ihrer Länge oder ihrer Besetzung. Die Fantasie spaltete sich dann im Verlauf der nächsten zwei Jahrhunderte in diverse Gattungen mit eigenständiger geschichtlicher Weiterentwicklung auf. Man denke an Praeludium und Fuge, Sonate, Solokonzert und Symphonie, der imposantesten, monumentalsten Erscheinungsform Absoluter Musik. Die Emanzipation der Musik vom gesamtgesellschaftlichen Kontext spiegelt äußerlich die Emanzipation des Individuums. Aber auch innermusikalisch erfuhr sie diese.. Die „Stimme des Einzelnen“ sollte deutlich und eindrucksvoll vernehmbar sein. Die Musik begann sich nun in Hauptstimme und Begleitstimmen aufzuspalten. Das ende der polyphonen Satztechnik war eingeläutet. Ohne Rücksicht auf gleichberechtigte Stimmpartner nehmen zu müssen, konnte die Musik endlich dramatische Kunst werden. Dramatik hatte den Tonfall der Befreiung und des Befreienden. Der Fachausdruck für das neue Satzprinzip lautete anfänglich noch „Monodie“ (= Gesang des Einzelnen) , später Homophonie. Die Monodie spaltete sich ihrerseits wieder in Rezitativ -und Arie auf, wie uns aus Oper und Oratorium bekannt. Die Homophonie kam logischerweise dann auch in der Absoluten Musik zur Anwendung.

Im 19.Jahrhundert steigerten sich Separation bzw. Expansion höchst dramatisch. Die neue bürgerliche Gesellschaft erhob die Schönen Künste zu eigenständigen Valeurs. Dadurch lösten sie sich aus ihrem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang und existierten um ihrer selbst willen. Gemälde und Skulpturen „wanderten“ in Galerien und Museen, Musik von Kaffees, Marktplätzen und Schlössern auf Konzertpodien und in Salons. Expansion und Separation erfasste die Künste. Stärker als zuvor vermochten sie nun ihre spezifischen Phänomene hervorzubringen und ihrer Eigendynamik zu folgen. Eines aber hatten sie von nun an gemein: dem Produktionsprozess jeglicher Kunst war jetzt höchster Anspruch auf Qualität a priori impliziert. Erfolg wurde fortan an der Umsetzung einer neuen künstlerischen Idee gemessen. Erfolg bei den Rezepienten war selbstverständlich willkommen, galt aber als sekundär, bei vielen Künstlern gar als anrüchig. Kunst war an Elite gerichtet. Der Künstler und sein Werk konnten in der Gesellschaft der emanzipierten Künste endlich „ungehindert“ zur Einheit werden. Jedoch an die Stelle der Entfremdung zwischen Künstler und Werk trat nun immer mehr diejenige zwischen Kunst und Publikum. Augenfällig wurde sie zum ersten Mal im Werk Richard Wagners, spätestens seit der Zwölftontechnik ist sie kulturelles Merkmal. Aber auch zwischen den Künstlern untereinander setzte Entfremdung ein. Sie fühlten sich nicht wie früher als „Verzierer“ der Gesellschaft, mit der ganzen Kraft ihrer „handwerklichen“ Fertigkeiten den göttlichen Eingebungen folgend. Sie begriffen sich als genuine Schöpfer, die geistiges Eigentum produzierten. So wurden sie auf der geistig/kreativen Ebene zu Konkurrenten. In den vorangegangenen Gesellschaftssystemen waren sie dies vorwiegend auf materieller Ebene, im Buhlen um die Gunst des Publikums oder bei der Bewerbung für ein Dienstverhältnis. In der neuen, marktorientierten Gesellschaft mussten sie sich stilistisch voneinander abgrenzen, weil der persönliche Stil Firmenzeichen, also „Logo“ war.

Der neue Stellenwert der Künste in der Gesellschaft des 19.Jahrhunderts, ihr immanenter Qualitätsanspruch und der einsetzende Entfremdungsprozess spaltete die Musik in die sogenannte E- und U-Musik. Wesentlich zutreffender als E-Musik erscheint indessen der Begriff „Kunstmusik“.

Die beiden großen Sektoren drifteten nach der Separation zügig auseinander. Die U-Musik war deutlicher als die Kunstmusik gnadenlosen Marktgesetzen unterworfen. Der Zwang, Produkte billig herzustellen, die maximalen Absatz garantieren mussten, führte zu einem ständigen Sinken der Qualität. Am Schlager ist dies gut nachzuweisen, wenn man die Entwicklung seiner Melodik, Harmonik, seiner Arrangements bis hin zur ausschließlichen Verwendung von Synthesizern analysiert. Die Anforderungen des Marktes, ständig Neues produzieren zu müssen, beschleunigte die Zersplitterung der U-Musik in ihre heute bekannten diversen Genres, Separationsgeschehen also auch hier.

Die Schaffenden der Kunstmusik befanden sich in einem schier zerreißenden inneren Widerspruch. Sie standen in der Verpflichtung, Tradition zu bewahren und gleichzeitig Neues zu kreieren. Dazu gesellte sich noch der Druck, von der Kunst leben zu müssen, ohne kommerziell zu werden.

Im 20.Jahrhundert schufen die Tonträger ein neues Problem: alles was auf ihnen gebannt war, blieb präsent und verstärkte noch zusätzlich den Druck auf die Schaffenden. Immer schneller und neuer musste produziert werden. Aber auch für die Reproduzierenden der Kunst- und U-Musik hat sich seit der zweiten Hälfte des 2.Jahrhunderts Entscheidendes geändert. Das Musikleben wurde nun von Markt und Medien dominiert. Letztere erhielten dadurch ungeheure Macht.

Und schon entstand wieder ein Separationsvorgang, diesmal mit geradezu atomisierender Wirkung. Um mehr neue Absatzmöglichkeiten zu erzeugen, setzten die Medien eine marktstrategische Ideologie an die Stelle authentischer und notwendiger Bewertungskriterien der Kunst.

Die Grenzen zwischen den Genres wurden hinwegideologisiert , um ein maximales Spektrum an Konsumenten zu erfassen. Kunstmusik sollte wie Popmusik erscheinen. Dadurch hielten Elemente der U-Musik bei ihr Einzug. Glättung und Verflachung von Interpretation um einer größeren Breitenwirkung willen war angesagt. Extreme Quantitäten werden inzwischen als individuelle Qualitäten verkauft. Zum Beispiel überzogene Tempi (Kick also) oder Konzentration auf Äußerlichkeiten wie Sound bis hin zu dessen Manipulation durch Aufnahmetechniken.

Teilen der U-Musik versucht man dagegen, durch klassisch anmutende Arrangements oder Klanggestikulation, das scheinbar berechtigte Wegfallen der Grenzen zwischen ihr und der Kunstmusik zu suggerieren.

Das Resultat dieses Vorganges: in der Medienpräsentation erscheinen nur noch einzelne Sätze von Werken. Sie sind aus diesen wie auch aus der Zugehörigkeit zu einem Genre herausgelöst. Sie fristen ihr Dasein, kryptisch, scheinbar ohne Wertesystem oder Hierarchie als „Artikel“, zu Konsumgütern degradiert. Kultur verfällt durch den Zwang, rentabel sein zu müssen, mit „Kick“ und „cool“ als Bewertungskriterien. Die Medien präsentieren oft genug nur noch Ausschnitte eines Satzes. In den versprengten Partikeln ohne Genrezugehörigkeit widerfährt der Kultur ihr höchstes Stadium an Zersplitterung.

Die zeitgenössische Musik führt in Medien und Konzertsälen nur ein Schattendasein.

2. Der konzentrierende kulturimmanente Faktor

2.1. Ursprung – Wirkung - Menschenbild

Der zweite kulturimmanente Faktor Europas wurzelt ebenfalls in einem wesentlichen Element christlichen Glaubens.

Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde. Er wurde selbst Mensch. Gott opferte sich den Menschen als Mensch. Die Menschen wurden durch dies Opfer erlöst, gelangen seitdem zum ewigen Leben, werden also unsterblich. Jedem einzelnen Menschen guten Willens stand nach dem Opfertod Christi die Vergebung seiner Sünden und gewissermaßen a priori eine Apotheose ins Haus.

Der Glaube, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf und sich sogar für ihn opferte, wertete den Menschen kulturell als Geschöpf in so hohem Maße auf, wie in keinem anderen Kulturkreis. Hieraus entstand der konzentrierend wirkende kulturimmanente Faktor. Er führte dazu, dass sich in Europas Kultur der Blick zunehmend auf den Einzelnen oder das Einzelne richtete. Europa wurde zur Kultur des Individuellen an sich.

Der buddhistische Kulturkreis ging bekanntlich nahezu den entgegengesetzten Weg, namentlich im Zen. Alles ist Nichts und Nichts ist Alles. Dies sind zwei kontradiktorische Gleichungen. Sie werden als Axiom gesehen und stellen die Grundlage der buddhistischen Kultur dar. Der Einzelne bzw. das Einzelne erfährt darin keine Aufwertung. Der Mensch erreicht hier seine höchste Daseinsform dadurch, dass er mittels Meditation und Entsagung zur Selbstaufgabe gelangt. Zum „Nichts“ geworden wird er Eins mit dem Alles, dem Gesamten.

Die Gleichsetzung der extremen Gegensätze von Alles und Nichts bedeuten Kompensation und Ausgleich. Die buddhistische Kultur wirkt ausgeglichen weil sie divergierender polarer Faktoren der Kulturimmanenz entbehrt. Sie verkörpert Ganzheitlichkeit. Gerade Letztere fasziniert viele Europäer zu recht, weil unsere Kultur ihrer verlustig gegangen ist.

Ausgehend von der christlich/europäischen Menschensicht leitete sich im Laufe der geistesgeschichtlichen Entwicklung nun immer deutlicher der Anspruch jedes Einzelnen auf Wahrung seiner Würde, auf angemessene Rechte, auf Gleichheit und auf Freiheit ab. Aus dieser Sicht konnte weder eine Sklaven- oder Adelsgesellschaft dauerhaft eine Legitimation beziehen. Der kulturelle Zug Europas steuerte unaufhaltsam auf sein Ziel zu, eine gesellschaftliche Realität gemäß ihrem ethisch hochstehenden Menschenbild herzustellen. Die moderne Demokratie. Nur in ihr schienen alle Ansprüche auf eine menschengemäße bzw. –würdige, freie Existenz verwirklichbar.

2.2. Zunahme der Subjektivität

Philosophie und Schöne Künste spiegeln als Erscheinungsformen des Geistes den Individualisierungs- und Vermenschlichungsprozess unserer Kultur wieder.

Im Humanismus und seinen Künsten, der Renaissance, wird er zur Hauptseite und zum ersten Mal wirklich sichtbar.

Der konzentrierende kulturimmanente Faktor Europas bewirkte seit dem Humanismus einen kontinuierlichen Wandel von der Orientierung am Gesamten zur Orientierung am Einzelnen. Die Bedeutung des Subjektiven nahm beständig zu, im selben Maße schwand die des Objektiven. Spiritualität und Gotteserkenntnis begann einst mit der Fähigkeit des Menschen, sich und seine Innenwelt (das Subjektive) als den winzigen Partikel einer Außenwelt (dem Objektiven) gegenüber zu erkennen. Im frühen 19.Jahrhundert erklärt Arthur Schopenhauer dann, das Objekt sei nur Objekt im Bezug auf ein Subjekt. Individuelle Wahrnehmung hatte damit die Vorherrschaft über Alles gewonnen. In Schopenhauer hypostasiert der konzentrierende kulturimmanente Faktor Europas.

Die Entstehung der Absoluten Musik zeigt deutlich die Verselbstständigung des Individuums und die Zunahme des Subjektiven in Europas Kultur.

Für die Künste ist aber Objektivität unentbehrlich, weil sie verstanden werden wollen und sollen. In einer Sprache sind Teilnahme und Mitteilung nur durch die Existenz der Objektivität in Form von Grammatik und Wortschatz möglich.

Gerade bei Musik spielt Objektivität eine entscheidende Rolle.

Sie besitzt keine materiell greifbare Körperlichkeit wie etwa das Bild oder das Buch. Flüchtig ist das Wesen ihrer Rezeption.

2.4. Descartes im Spiegel der Fuge

Bevor es Absolute Musik gab, besaß Musik Objektivität in der Funktion, welche sie jeweils zu erfüllen hatte. Zum Beispiel in einem Text, den sie ausdrückte oder im Charakter eines Tanzes und Rituals, das sie untermalte. Ihre Funktion machte Musik zwar nicht greifbar, jedoch begreifbar. Objektivität wie Bindung an außermusikalische Funktionen fielen in der Absoluten Musik weg. Aus der Notwendigkeit ihrer Entstehung heraus entwickelte sich eine neue Objektivität. Somit war Absolute Musik Stimme des Individuums und zugleich begreifbar. Das bedeutendste Anschauungsobjekt dafür finden wir in der Fuge. Sie spiegelt auf musikalischer Ebene den Stand der Subjektivität im 17.Jahrhundert genauso wieder, wie ihr philosophisches Äquivalent, die Lehren Descartes.

Der Philosoph Descartes bezieht zum ersten Mal die Subjektivität relevant in philosophische Betrachtungen ein. Er entwickelte eine Erkenntnistheorie, die nur das als richtig akzeptierte, was durch die eigene Analyse und logische Reflexion plausibel nachweisbar war.

Der Fugenkomponist übernahm keine bereits vorhandene geistliche oder weltliche Melodie, wie in der nicht absoluten Instrumentalmusik. Er erfand sein eigenes musikalisches Gebilde, das bis zum Ende des Barock (Mitte des 18.Jahrhunderts) Subjekt genannt wurde. Aus diesem alleine setzte er ohne Variierungen der erfundenen Substanz sein Werk zusammen.

Nach Descartes Ethikvorstellung hatte sich das Individuum im Sinne bewährter gesellschaftlicher Konventionen pflichtbewusst und moralisch einwandfrei zu verhalten.

In Werken absoluter Musik, also auch in der Fuge, waren verbindliche, erkennbare Kompositionsprinzipien vorgegeben. Ein Beispiel hierfür ist die Imitation. Alle beteiligten Stimmen setzen wie beim Kanon nacheinander mit dem Subjekt ein. Nachdem alle Stimmen eingesetzt haben, wird das Subjekt in einer von ihnen immer wieder zitiert. Das Subjekt darf nicht verändert werden, es sei denn, dass es in seiner veränderten Form dann verbindlich so weitergeführt wird.

Gefühlsregungen wie Liebe oder Hass etc. sieht Descartes als natürliche mentale Ausflüsse der Körperlichkeit des Menschen als Kreatur. Er verpflichtete diesen aber zu ihrer Kontrolle durch den Willen und die Vernunft.

Länge, Dramatik, Gefühlsintensität und Charakter seiner Fuge ordnet der Komponist seinem Willens und seiner Vernunft unter.

In diesem Stadium europäischer Kultur erscheinen Gefühl und Vernunft bereits als abgegrenzte, selbstständige Sektoren. Der separierende kulturimmanente Faktor wird im Zusammenwirken mit dem konzentrierenden die Dialogfähigkeit beider Sektoren immer mehr erschweren.

2.5. Kopernikuseffekt in der Kultur

Der Siegeszug des Subjektiven setzte sich unaufhaltsam fort. Blieb das Objektive in Form der Vernunft bis in die Aufklärung hinein (18.Jahrhundert) der Subjektivität noch übergeordnet, so sehen wir in Kants kritischer Phase der 70ger Jahre des 18.Jahrhunderts einen entscheidenden kulturellen Wendepunkt indem er sagt, Objektivität ist erst durch subjektive Erfahrungen in Verbindung mit individueller Erkenntnisfähigkeit möglich. Er nannte es den Kopernikuseffekt. Mittelpunkt war nicht mehr das Objektive, um welches die Subjektivität kreiste, nun war Subjektivität das Zentrum, um welches sich die Objektivität bewegte.

Auch In Rousseaus Soziologie und seinen philosophischen Beiträgen ist der Kopernikuseffekt zu konstatieren. Descartes sah Erkenntnis noch als Grundlage des Seins („cogito ergo sum“). Rousseau hingegen erklärte, das Sein ist Grundlage der Erkenntnis („sum ergo cogito“). Die Animosität zwischen der aufgeklärten und der rousseauschen Strömung darf als typisch abendländisch gesehen werden. Sie zeigt die fortgeschrittene Separation der Vernunft von der Empfindung. Rousseau betonte sehr stark den empfindenden, bedürftigen und instinkthaften Teil der Persönlichkeit. Sigmund Freud wird diesen Teil einst als das „Es“ bezeichnen. In unserer Zeit leiten Viele ihre Identität in erster Linie aus diesem Persönlichkeitsteil ab.

Entsprechend der Expansion des Subjektiven verschärften sich die Widersprüche zwischen Untertanen (Subjekten) und absolutistischem Staat, Objekt. Der Staat hatte sich den Bedürfnissen der Subjekte anzupassen und nicht umgekehrt. Auch in wachsenden Widersprüchen zwischen Individuen und Kirche sehen wir Auswirkungen des Kopernikuseffektes. Die Revolution und das Ende der alten Gesellschaft waren unausweichlich.

Diese kulturellen und gesellschaftlichen Prozesse beendeten in den Künsten um 1750 die Epoche des Barock.

Die Zunahme der Subjektivität führte zum feindseligen Konflikt zwischen Vernunft und Empfindung in Europas Kultur. Die Animosität der rousseauschen Strömung gegenüber Teilen der vernunftorientierten Aufklärung sind die Symptome dafür. Künstlerisch entlud sie sich kurz im sogenannten Sturm und Drang. Goethe schlug sich im Werther auf die anti-aufklärerische Seite. In seinem Briefroman kommt vor allem der bedürfniserfüllte, triebhafte Persönlichkeitssektor, den Rousseau so stark betonte, zu Wort. Werther klagt ausgiebig über unerfüllte Sehnsüchte und Begehren. Bedürfnisse seiner Geliebten Lotte, vor allem deren Beziehungsglück mit ihrem Verlobten Albert finden vergleichsweise wenig Erwähnung. Die Empfindung von Defiziten wird mit der Liebe verwechselt. Liebe wurde nicht mehr empfangen, sie wurde beansprucht. Sie war nicht mehr göttliches Geschenk sondern etwas, das einem zustand und das man besitzen musste. In der Romantik (erste Hälfte des 19.Jahrhunderts) wurde dieser Irrtum kulturelles Markenzeichen.

Liebe aber ist allgegenwärtig, sie ist allgegenwärtige Präsenz Gottes. Sie wird erkannt, man kann ihrer durch Beziehungsfähigkeit teilhaftig werden. Dies bedeutet die Fähigkeit, das „Ich“ auf das „Du“, das Innere auf das Äußere, das Subjektive auf das Objektive beziehen zu können. Liebe lässt sich nicht dem bloßen Willen oder dem Ego unterwerfen. Dies gilt genauso für Kunst.

Je subjektiver und individueller eine Kultur akzentuiert ist, umso mehr bedürfen Kunst und Künstler der Fähigkeit zur Objektivierung und der Beziehung.

Nach dem Barock musste die Glanzzeit der Fuge zwangsläufig enden. Ihr Inneres war von strengen, verbindlichen Kompositionsregeln durchdrungen, um sie vermittels objektiver Vorgaben begreifbar zu machen. Die Fuge setzte Vernunft und Bildung bei den Komponisten, den Spielern und Hörern voraus. Mit Zunahme der Subjektivität und dem Anspruch des Individuums auf Freiheit und Entfaltung, wurden ihre Prinzipien als Gefängnis empfunden.

Im Empfindsamen Stil besaß das Gefühl für kurze Zeit die Oberhand, allerdings zu ungunsten kompositorischer Qualität. Die Leistung der Wiener Klassiker bestand darin, die entfremdeten Persönlichkeitsbestandteile Vernunft und Empfindung dialogfähig zu machen. Nicht als Willensentscheidung sondern aus der Erkenntnis heraus, das nur der Dialog beider die Kunst aussage- und überlebensfähig machen konnte. Absolute Musik löste die Anforderungen der neuen, liberalen Epoche auf eindrucksvolle Weise. Im Sonatenhauptsatz hatte sich eine feste Form entwickelt. Sie war wie der immer gleichbleibende Grundriss eines Hauses. Der Komponist füllte diese Vorgabe (Objektivität) mit seinen Gedanken und Empfindungen (Subjektivität). Er veränderte je nach subjektivem Inhalt die Maße des Grundrisses, behielt ihn jedoch bei und entwarf individuell die Inneneinrichtung des „neuen Bauwerks“. Die Objektivität in Gestalt der Form wurde also stets beibehalten und jeweils dem subjektiven Inhalt angepasst. Die elastische Handhabung der objektiven Vorgabe, die Jedem bekannt war, gab somit Orientierungshilfe und die Hörer konnten den Gedanken des Komponisten folgen. Deshalb lag die Sonatenform fast allen Gattungen im letzten Drittel des 18.Jahrhunderts zugrunde. Das ideale Verhältnis von Form und Inhalt machte Die Wiener Klassik zum unübertroffenen Höhepunkt menschlicher Kultur überhaupt. Ihre Ethik ist typisch europäische Errungenschaft von weltweiter, zeitloser Bedeutung.

2.6. Totalität des Subjektiven

Doch die Dynamik von Gesellschaft und Kunst führte unter der Ägide unserer Kulturimmanenz zur vollkommenen Kongruenz von Subjektivität und Individualität seit der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts.

Die Revolution war gescheitert, die Verwirklichung der neuen Gesellschaft gestaltete sich anders als man sich gewünscht hatte. Illusionen waren von der Realität eingeholt worden. Kirche und Glaube wurden mit der „Alten Gesellschaft“ assoziiert, abgelehnt und angefeindet. Es fehlte damit ein spiritueller Überbau. Die

Individuen waren auf sich selbst zurückgeworfen, Pessimismus hielt allenthalben Einzug. Die Totalisierung des Subjektiven setzte auf allen Ebenen des Lebens und der Kunst ein. Bei der Reproduktion von Musik sehen wir dies im Austausch von Begriffen. Bis ins frühe 19.Jahrhundert sprach man beim Musizieren vom Vortragen, danach aber vom Interpretieren. Vortragen, mit dem Zitieren vergleichbar, liegt näher beim Objektiven. Interpretieren als Akt der Hermeneutik ist subjektive Reflektion. Objektive Vorgabe in Gestalt musikalischer Formen erschien beim Komponieren irrelevant, ja sogar als Hindernis. Kunst war zugespitzt gesagt zum Rohstoff des Subjekts geworden. Gerade Absolute Musik musste dadurch mehr und mehr in eine Krise geraten. Die Romantiker gaben ihren Kompositionen Überschriften, als wären sie Gedichte. Poetische Bezüge gaben den Hörern anstelle der Form eine gewisse Orientierung. Debussy wählte für seine Stücke Titel, welche dem Publikum Orientierung über malerische Assoziationsmöglichkeiten gaben.

Die Totalität des Subjektiven in der Kultur individualisierte sämtliche Phänomene bis an den Rand ihrer Isolation. Dies kann man an folgendem innermusikalischen Entwicklungsprozess zwischen 1840 – 1900 sehr drastisch erkennen.. Zuvor hatten sich einheitliche Stilistik und Ästhetik in diverse Individualstile und –Ästhetiken bereits aufgespaltet. Jetzt wurde auch das Ton- und Klangmaterial privatisiert. Der universale Orchesterklang wurde bei Wagner erstmals in ein Reservoire eigenständiger Klangfarben zerteilt. Bezug und Hierarchien von Klängen wurden zugunsten der persönlichen Note immer weniger beachtet, bei Debussy dann ganz aufgegeben. Nach der Abschaffung der Verbindlichkeit sowie der Wertehierarchie unter den Klängen verloren Tonsysteme an Bedeutung. Um das Jahr 1900 wurden sie dann ganz aufgegeben. In der freien Atonalität bestand nun nicht einmal mehr eine Verbindlichkeit zwischen den einzelnen Tönen. Ein Vergleich mit der Sprache macht den ungeheuren Vorgang vielleicht besser vorstellbar: man stelle sich vor, die Grammatik einer Sprache wird zunächst abgeschafft, danach besteht sie nur noch aus Wortneuschöpfungen, deren Bedeutung man nicht kennt und letzten Endes gibt es nur noch aus einzelnen Buchstaben. Rein subjektive Kunst hält die Rezepienten in ihrer eigenen Subjektivität gefangen.

In der freien Atonalität hatte die Musik ein ähnliches Stadium erreicht wie die Bildende Kunst dann im Art informell.

Mit der Einführung seiner Zwölftontechnik stellte Arnold Schönberg eine Verbindlichkeit zwischen den tönen wieder her. So gab der Musik um 1920 wieder Objektivität zurück. Gleichwohl blieb der Zwölftonmusik und ihrer Weiterentwicklung, der seriellen- und der Avantgardemusik eine breite Akzeptanz beim Publikum verwehrt. Das Gehör ist subjektiv, es bewertet akustische Reize automatisch als „schön“ oder „hässlich“ – mit jeweils divergierender Empfindlichkeit der Individuen. Die Erfindung einer neuen Kompositionstechnik, welche sich der Subjektivität anpasst, ist undenkbar. Die kulturimmanenten Faktoren haben alle Erscheinungsformen der Kultur, also auch die Künste und die Künstler separiert und individualisiert. Erkenntnisse und Konsequenzen daraus können aber eine reintegrierende Entwicklung initiieren.

Kultur - Spiritualität - Transzendenz

Spiritualität – Transzendenz - Kultur


Kulturimmanenz wurzelt im spirituellen Ursprung des betreffenden Kulturkreises. Kultur ist natürlich überhaupt nur in Verbindung mit Spiritualität möglich. Spirituelle Erfahrungen oder Erkenntnisse waren freilich erst ab einem bestimmten Entwicklungsstadium des Menschen möglich. Zum Einen: in dem Augenblick, wo das Individuum (Subjekt) sich als solches im Gegensatz zur Gruppe (Objekt) bewusst wahrnehmen konnte. Zum anderen: als sich seine rein intuitive Wahrnehmung der Realität als unerklärlich oder magisch in bewusstes Erkennen von Zusammenhängen gewandelt hatte. Wer seine Individualität einerseits und große Zusammenhänge andererseits vernünftig zu begreifen vermag, der steht an einem Scheideweg. Er hat die Wahl, sich zum Missbrauch seiner Kenntnisse bis hin zu Größenwahn und Allmachtsfantasien hinreißen zu lassen. Er hat aber auch die Wahl, seine eigene Nichtigkeit, seine Begrenzung und Kleinheit zu erkennen. Er gelangt so zur Fähigkeit, zwischen Subjekt und Objekt zu unterscheiden.

Er erlebt das Subjekt als einen winzigen Partikel innerhalb einer großen, übergeordneten Objektivität. Über die Fähigkeit, seine eigene Individualität zu relativieren gelangen wir zu dem wesentlichen Element von Spiritualität: Transzendenz.

Das begreifen des Großen bedingt stets die Erkenntnis des Kleinen.

Transzendenz und Spiritualität bedingen sich ebenso wie Kultur und Spiritualität.

Selbst atheistische Gesellschaften können den Zusammenhang von Kultur und Spiritualität nicht widerlegen. Sie liefern geradezu Beweise dafür. Sie sehen sich gezwungen, quasi-religiöse Phänomene, Bezüge oder Rituale zu installieren, um ihren künstlerischen Produkten Inspirationsquellen zu verschaffen. Ohne diese besäßen sie keine Aura, oder könnten nicht den Anschein von Bedeutsamkeit, Größe oder Dauerhaftigkeit erwecken. Pseudospiritualität kann durch die quasi-Apotheose einer Klasse oder eines ihrer Helden bzw. der Geschichte eines Volkes oder eines seiner Helden geschehen .

Kulturimmanenz

Kulturimmanenz


Die Schönen Künste, die Philosophie sowie alle mit ihnen verbundenen Phänomene sind reine Erscheinungsformen des Geistes und der gesellschaftlichen Bedingungen eines jeweiligen Kulturkreises.

Somit verwundert es denn auch nicht, dass sich Übereinstimmungen zwischen den Schönen Künsten untereinander finden lassen und natürlich auch zwischen ihnen und der Philosophie.

Wir beobachten hier zwei Gruppen von Übereinstimmungen: die vertikalen und die horizontalen.

Als vertikal bezeichne ich jene, welche innerhalb einer bestimmten geschichtlichen Epoche bestanden haben.

Horizontale Übereinstimmungen sind diejenigen, die zwischen den verschiedenen Epochen untereinander bestehen. Sie scheinen bedeutungsvoller, denn sie führen uns vor Augen, was einer bestimmten Kultur immanent ist.

Auf den ersten Blick mögen die verschiedenen Epochen eines Kulturkreises große Unterschiede erkennen lassen. Dennoch findet man in ihnen allen etwas, das immer wiederkehrt, etwas, das sich sozusagen als beständiges Motto wie ein Leitfaden durch sie hindurchzieht. Ja selbst Wandlungen und radikale Umwälzungen innerhalb einer Kultur vollziehen sich immer unter der Ägide des Kulturimmanenten. Alle Veränderungen von Epochen und Stilen vollziehen sich bei genauem Hinsehen nur vordergründig unter dem Aspekt von Mode, neuer Erfindung oder des Trachtens nach Abwechslung. Solche Aspekte sind Wahrnehmungen und Ambitionen auf der individuellen Ebene. Individuen und individuelle Aspekte aber sind den Tropfen in einem großen, mächtigen Strom vergleichbar. Tropfen sind zwar eigenständige Partikel, sie können sich der Gesamtströmung eines Flusses jedoch nicht erwehren und sie sind in sein Bett gebannt. Ebenso wenig können sich Individuen der Kulturimmanenz ihres Kulturkreises entziehen.

Kulturimmanenz stellt einen Faktor dar, welcher die gewaltige Eigendynamik einer Kultur von innen heraus in Gang setzt und sie steuert.

Kulturimmanenz erzeugt das Spezifische der Kulturkreise und unterscheidet sie voneinander.