Montag, 29. Oktober 2007

Mozarts und Haydns Sinfonik –

Mozarts und Haydns Sinfonik –

über komplementäre Genialität

Zeitreise durch die Musikgeschichte, Vortrag am 25. 10. 2007 in der Galerie f5komma6

Die westliche Kultur ist die Kultur des Individuellen und des Subjektiven. Sie wurde dies unter der Einwirkung ihrer kulturimmanenten Faktoren.

Weil die Schönen Künste reine Erscheinungsformen von Geist und Gesellschaft sind, nahmen sie in Europa zwangsläufig eine ganz spezifische Entwicklung. Dies sehen wir deutlich seit der Epoche des Humanismus um 1500.

Geist beinhaltet Dynamik. Konzentration und Expansion sind zwei wesentliche Prinzipien der Dynamik. Sie sind nicht einfach Gegensätze, sie stehen vielmehr in einem dialektischen Verhältnis zueinander und wirken meist im Verbund.

Je stärker sich die westliche Kultur auf das Individuelle konzentrierte, desto mehr expandierte das Subjektive und übernahm in der bürgerlichen Gesellschaft seit dem 19.Jahrhundert immer stärker die Vorherrschaft.

In der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts fand der Kopernikuseffekt in Europas Kultur statt. Zuvor erschien das Objektive als Fixpunkt, um welchen das Subjektive „kreiste“ . Jetzt aber sah man das Subjektive als Zentrum, um welches Objektivität kreist. Kant1 sagte in seiner kritischen Phase, das Objektive existiere erst durch die Wahrnehmung oder Erkenntnis durch das Subjekt.

In der Musik spiegelte sich der Kopernikuseffekt im Phänomen der Sonatenhauptsatzform wieder. In ihr bildeten die subjektiven Empfindungen und Gedankenprozesse das Zentrum. Um dieses „kreiste“ die Form als objektiver Rahmen. Sie gab sozusagen einen verbindlichen, immer gleichbleibenden Grundriss wie bei einem Bauwerk vor. Er wurde von allen Komponisten eingehalten. Proportionen, Maße und innere Gestaltung des Bauwerks wurden je nach subjektivem Inhalt individuell konzipiert. Die Hörer vermochten es dennoch, sich in jedem neuen „Gebäude“ zurecht zu finden, weil der Grundriss, den Alle ja kannten, immer der gleiche blieb.

Kunst kann nur dann von Bestand sein, wenn sie verstanden werden kann. Dazu bedarf es unabdingbar der Koexistenz subjektiver und objektiver Aspekte im Kunstwerk.

Das Vorzügliche der Wiener Klassik besteht in dem ausgewogenen Verhältnis beider Aspekte, welches die Komponisten in ihren Werken herstellten.

Die Sonatenhauptsatzform lag deshalb im letzten Drittel des 18.Jahrhunderts nahezu sämtlichen Kopfsätzen aller Gattungen der Absoluten Musik2 zugrunde. In der klassischen Symphonie findet Musik, die ausschließlich sich selbst und den Belangen der menschlichen Existenz an sich verpflichtet ist, ihre repräsentativste, relevanteste und monumentalste Erscheinungsform.

Am Beginn der Wiener Klassik stand die Bedeutung des Individuums und seiner Leistungen bereits deutlich im Vordergrund. Hier entstand die Vorstellung von Genialität im heutigen Sinn. Demnach ist sie eine kreative Begabung. Ihr Unterschied zum bloßen Talent besteht darin, dass sie nicht nur im Rahmen des Überkommenen Vollendetes leistet. Genialität erschließt völlig neue Bereiche und erfüllt sie zugleich mit Höchstleistungen. Je mehr die Subjektivität an Herrschaft in der Kultur errang, desto stärker wurde insbesondere die Originalität genialer Werke betont.

Je höher der Subjektivitätsstand einer Kultur ist, desto schwerer wird die Verständigung ihrer Individuen untereinander, zumal in einer Gesellschaft mit Entfremdung als charakteristischem Merkmal.

Insofern kann man sich gut ausmalen, wie schwer es da erst Genies haben, verstanden zu werden. Wie kann man denn Genies überhaupt verstehen? Bedürfte es seitens der Rezepienten eigentlich nicht der selben Genialität, um das Genie in seiner Gesamtheit zu begreifen?

Um wie Vieles leichter fällt es dagegen, Genialität zu bewundern oder zu verehren. Doch Verehrung bedeutet nicht notwendigerweise Verständnis. Verehrung und Bewunderung von Genialität kompensiert oft genug die Erkenntnis des eigenen Talentdefizits oder ist die Projektion narzisstischer Sehnsüchte. Man verehrt also vielfach vor allem die Kluft zwischen dem „Normalen“ und dem Genie und geht dabei an der wahren Bedeutung der Genialität vorbei. Dies sehen wir deutlich im Virtuosenkult.

Komponisten sind keine Virtuosen, sie haben es infolgedessen viel schwerer. So häufte sich mit Zunahme von Subjektivität und Entfremdung in der Gesellschaft seit dem 19.Jahrhundert denn auch das Phänomen des von den Zeitgenossen völlig unverstandenen Genies.

Im letzten Drittel des 18.Jahrhunderts, als noch die alte Gesellschaftsform bestanden hat, war die Situation in dieser Hinsicht ein wenig einfacher. Noch hatten sich die Schönen Künste nicht als eigenständige Valeurs aus ihrem gesamtgesellschaftlichen Kontext separiert. Musik hatte kunstvoll und gleichzeitig unterhaltsam zu sein.

Mozarts3 und Haydns4 Genialität sind komplementär, sie ergänzen sich also jeweils. Im Bereich der Absoluten Musik ist Haydn von expansiver, Mozart von konzentrierender Genialität. Im Bereich der Oper ist es genau umgekehrt.

Über Mozarts Symphonien kann man nicht sprechen, ohne stets auf Haydn zu verweisen (ähnlich verhält es sich mit Beethovens Symphonien). Haydns expansive Genialität im sinfonischen Schaffen wurde durch Mozarts Genialität bestätigt und vervollkommnet. Eine konzentrierende Genialität, die ständig fand, ohne zu suchen und die im Moment ihrer Entstehung schon perfekt war. Haydn schuf Neuerungen in der Absoluten Musik, Mozart griff sie auf und folgte Haydn mit der ihm eigenen Perfektion. Die letzten Symphonien der Beiden zeigen dies besonders deutlich. Allerdings versetzt uns der Tonfall von Haydns späten Symphonien bereits ins 19.Jahrhundert, während Mozarts symphonischer Tonfall konservativer anmutet. In der Oper ist Mozart der Avantgardist. Er empfand die Genrezuordnung in Opera serea5 und Opera buffa6 als hinderlich, weil es ihm darum ging, vom Klischee Abstand zu nehmen und wahrhaftige Menschen mit all ihren Fassetten auf die Bühne zu stellen. Damit nahm tatsächlich eine Entwicklung bis hin zum Verdischen7 Verismo8 ihren Anfang. Gleichwohl bleibt Mozart stilistisch vollkommen im 18.Jahrhundert.

Mozart und Haydn waren auch in ihrer Persönlichkeit und Vita zwei sehr unterschiedliche Genietypen. Mozart, der als Wunderkind bereits mit 7 Jahren Symphonien schreiben konnte, war im Verbund mit seiner Virtuosität das auffällige Genie. Genialität, das muss uns immer vor Augen sein, besteht aber nicht darin, etwas mit 7 Jahren zu komponieren, was Andere vielleicht erst mit 30 zustande bringen. Genialität erschließt neue Räume, verbunden mit Höchstleistung und zeitübergreifender Wirksamkeit. In dieser Hinsicht sind Haydns Symphonien der frühen 60er Jahre seines Jahrhunderts die genialeren. Haydn fehlte der Wunderkindaspekt, er war zudem von ungewöhnlicher Bescheidenheit und er besaß kein exzentrisches Wesen. Er war dadurch ein unauffälliges, unspektakuläres Genie. Seine expansive Genialität war jedoch für die Entwicklung der Symphonik des 19.Jahrhunderts von größter Wirksamkeit. Gerade das 19.Jahrhundert aber erkannte dies aufgrund seiner Vorstellung vom Genie als narzisstisch und exzentrisch gar nicht.

Von Anfang an aber zeichnete sich Haydns Schaffen durch hohen und originellen Einfallsreichtum und ebenso individuelle wie gelungene Experimente aus. Dabei stammte er aus einfachen Verhältnissen und einer Familie ohne musikalische Vorfahren. In der neuen Ära nach dem Ende des Barock fand er zudem nur wenig worauf er aufbauen konnte. Ganz anders dagegen Mozart. Er stammte bekanntlich aus einer Familie mit musikalischen Vorfahren und stand unter der Fuchtel seines Vaters, der ihn von frühester Jugend an mit Musik an Hof, in Theater und Kirche „bombardiert“ hat. Die vielen Reisen führten bereits als Kind zur Begegnung mit der italienischen Oper und den Werken Johann Christian Bachs9 (des jüngsten Sohnes des Thomaskantors). Seine Opern und Symphonien beeinflussten Mozarts Stil bis in die letzte Schaffensperiode. Auch in der Instrumentalmusik war die Oper stets Mozarts Inspirationsquelle, oft genug scheinen imaginäre Texte seinen Themen zugrunde zu liegen. Man denke zudem auch an das „singende Allegro“ in seinen Instrumentalwerken.

Die Oper stellte für Haydn eine sekundäre Inspirationsquelle dar. Bei ihm war es unter anderem die Volksmusik Österreichs und Ungarns. Immer wieder können wir dies deutlich vernehmen und zugleich Haydns expansive Genialität erkennen. Er verfiel nicht in „volkstümelnde“ Gestikulation sondern er absorbierte das schlichte und eingängige, gleichwohl kraftvolle Material und wandelte es in große Symphonik. Entschlossen und zielstrebig steuerte er auf die Klassische Symphonie zu. Sie ist sein Werk. Sie wurde durch ihn vom handwerklich meisterhaften Gebrauchsstück zur originellen, bedeutsamen und beständigen Kunstgattung transformiert und erhoben. Er schaffte in der Absoluten Musik also genau das, was Mozart in seinen späten Opern gelang.

Europas Kultur und Gesellschaft befand sich am Ende des 18.Jahrhunderts an einem Wendepunkt, welcher in der Musik zu einem Glücksfall als Erscheinungsform führte.

In Haydns Symphonik und in Mozarts Opern sprach erstmals der Mensch als Individuum zum Menschen als Individuum. Komponist und Rezepient wurden als paritätisch angesehen. Weder biederte sich das Werk den Hörern an, noch zwang das Werk den Hörer zur sklavischen Subordination. Wo es der subjektive Inhalt erforderte, wurde die formale Konzeption abgeändert, wo es die Verständlichkeit erforderte, wurde das Subjektive dem Formalen untergeordnet.

Die engen Freunde Mozart und Haydn erkannten jeweils die Genialität des Anderen. Sie waren keine Rivalen, weil sie das Komplementäre ihrer Genialität erkannt haben mochten, ganz sicher waren sie beide von gleichen ethischen Grundsätzen geleitet. Ihr Schaffen liefert ideales Lehrmaterial für das Verhältnis von Individualität zur Gesellschaft und von Gesellschaft zur Individualität.

Genialität ist für die Entwicklung einer Kultur immer ein Glücksfall. Für das Genie selber bedeutet sie jedoch oftmals Bürde, Qual und Einsamkeit – aber nicht nur. Genialität ist ein Geschenk Gottes, wodurch dem Schaffenden die Gnade und der Vorzug gewährt wird, dem größten und eigentlichen Schöpfer aller Dinge nicht nur verbunden sondern sogar nahe zu sein.

In den Werken Haydns und Mozarts spüren wir immer wieder tief berührt, wie stark sie dies gefühlt haben.



Rolf Basten

Copyright

1Immanuel Kant 1724 – 1804, Philosoph der Deutschen Aufklärung

2Absolute Musik ist rein instrumentale Musik ohne funktionale Bindung an außermusikalische Vorgänge wie staatliches oder geistliches Ritaul beispielsweise

3Wolfgang Amadeus Mozart 1756 - 1791

4Joseph Haydn 1732 - 1809

5ernste Oper

6komische Oper

7Giuseppe Verdi 1813 - 1901

8Fachausdruck für die von Verdi entwickelte Konzeption zur wahrhaftigsten Darstellung des Menschlichen im Bühnenwerk

9Johann Christian Bach 1735 - 1782

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