zur Entwicklung der Symphonie -
von Gedankenaustausch und Gedankenarbeit
Vortrag in der Galerie f5komma6 vom 29. 11 2007
Die kulturelle Emanzipation des Individuums führte im Europa des 18.Jahrhunderts zu spektakulären Veränderungen und Neuerungen. Die Ideen und Schriften Jean Jacques Rousseaus spiegeln diese wieder. Dabei fällt auf, wie stark das Subjektive in unserer Kultur bereits an Bedeutung gewonnen hatte. Rousseau betonte den empfindenden, bedürftigen und instinkthaften Teil der menschlichen Persönlichkeit. Eine vernunftorientierte, reglementierte Gesellschaft sah er als unnatürlich und daher als deformierend für das Individuum an. Sein Postulat, zum Einfachen und Natürlichen zurückzukehren, fand ein Pendant in den Schönen Künsten. Hier endete um die Jahrhundertmitte das reglementierte, etikettenhafte Barock, welches den Geist der Aufklärungsphilosophie wiederspiegelte. Im Bereich der Musik begann die sogenannte Vorklassik. Ihr empfindsamer, galanter und zuweilen stürmischer Tonfall zeugt davon, dass Individualität und Subjektivität sich von jetzt an freier als zuvor in der Kunst entfalten konnten. Der gestiegene Pegel an Subjektivität und Liberalität erlaubte es jetzt, viele strenge Vorschriften und Regeln der vorangegangenen Epoche einfach über Bord zu werfen. Im Vergleich zum Barock war diese neue Art Musik naiv und simpel. Das aber hatte den Vorteil, dass sie breiten Bevölkerungsschichten zugänglich war, selbst den wenig gebildeten. Die Philosophie der Aufklärung und die neue Rousseau-Strömung hatten interessanterweise ein feindseliges Verhältnis. Darin kommt jener Entfremdungsprozess zum Ausdruck, der signifikant für die westliche Kultur ist. In diesem Prozess sind Vernunft, Empfinden und Geist in heftige Eigendynamik geraten und haben sich voneinander separiert. In der Persönlichkeit der meisten Menschen des westlichen Kulturkreises hat einer dieser drei Bereiche ein Übergewichtt. Dadurch ist häufig die Beziehung zu den beiden anderen Sektoren gestört. Im Sprachgebrauch unterscheiden wir ja auch zwischen Kopf-, Gefühls- und vergeistigten Menschen.
Ihren Sieg über die anderen Gattungen der Absoluten Musik verdankte die Symphonie den neu gewonnenen Freiheiten im Stil. In der symphonischen Praxis spiegelte sich das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum übrigens genauso wieder, wie es von Rousseau gefordert wurde: der Staat sollte sich nach dem Individuum richten, nicht umgekehrt. Das Orchester, das die Gesellschaft symbolisierte, richtete sich nach einem Individuum, dem Dirigenten. Er war in der Regel auch zugleich Komponist der aufgeführten Werke.
Die Form und die neue Orchesterspielpraxis der Symphonie konnte sich vor allem dadurch entwickeln, dass man im vorklassischen Stil das Hauptaugenmerk auf die Oberstimme bzw. eingängige Melodik lenkte. Harmonik und Begleitung dagegen wurden sehr schlicht und einfach gehalten.
Seit der Mitte des 18.Jahrhunderts stand das Mannheimer Hoforchester als weltbestes an der Spitze aller Ensembles. Mit seiner neuen Proben- und Orchestrierpraxis sowie seiner technischen Perfektion setzte es nicht nur Maßstäbe sondern trieb den Siegeszug der Symphonie voran. 1757 trat Johann Christian Caanabich (1731 – 1798) die Nachfolge von Johann Stamitz an, der das Orchester gegründet hatte. Cannabich war seit seinem 12.Lebensjahr schon Orchestermitglied. Er wurde vom pfälzischen Kurfürsten Carl Theodor wegen seines auffälligen Talents zu Kompositionsstudien bei Nicolo Jommelli, damals einer der bekanntesten Opernkomponisten, nach Italien
geschickt. Von dort zurückgekehrt wirkte er wieder im Orchester mit und komponierte 90 Symphonien. Darin kann man seinen Erfahrungsreichtum durch den Umgang mit einem Spitzenorchester vortrefflich erkennen. In den Briefen Mozarts gehört Cannabich zu den meist genannten Namen. Mozart war in Begleitung seiner Mutter auf Reisen gegangen, um an exponierter Stelle in Europa ein festes Arbeitsverhältnis zu finden. So hielt er sich 1777 einige Zeit in Mannheim auf, er lernte Cannabich kennen und es entstand eine lebenslange Freundschaft zwischen beiden. Cannabich hatte die Größe des jungen Genies sogleich erkannt. Seine Kollegen, so Mozart in einem Brief, nahmen ihn jedoch anfänglich nicht sehr ernst wegen seiner Jugend und seines kleinen Wuchses. Die Freunde hatten einen regen Gedankenaustausch über die Situation der Oper, die Symphonienkomposition und Angelegenheiten der Orchestrierung. Wir dürfen davon ausgehen, dass hier eine gegenseitige Befruchtung stattgefunden hat. Als dann Kurfürst Carl Theodor seinen Hof im Jahre 1778 nach München verlegte, übersiedelte natürlich auch sein Spitzenorchester dorthin. 1780 kam es zu einer weiteren fruchtbaren Begegnung Mozarts mit Cannabich. Dieser leitete die Proben sowie die Uraufführung des Idomeneo, der experimentellsten aller Mozartopern. Mit dieser Oper wurde die „späte und reife“ Schaffensperiode des Genies eingeleitet. Vergleichen wir die Sinfonie zu Beginn des Idomeneo mit der 10 Jahre später komponierten Symphonie Nr.63 von Cannabich, so ist unüberhörbar, dass beide Komponisten in ihrer Entwicklung einen langen Weg miteinander gegangen waren, man kann aber auch die Unterschiede nicht überhören, die Cannabich als großes Talent und Mozart als Genie ausweisen. Talent bringt Höchstleistungen im Überkommenen, Genie erschließt neue Räume und erbringt zugleich zeitübergreifend wirksame Höchstleistungen. Zu diesem gravierenden Unterschied zwischen beiden Freunden gesellten sich aber auch noch entscheidende kulturelle Veränderungen.
Die Künste waren im zweiten Drittel des Jahrhunderts dabei, sich aus ihrer gesellschaftlichen Funktion als Zierrat zu lösen und sich als eigenständige Valeurs in der Kultur zu etablieren. Der Anspruch auf Erbaulichkeit und Unterhaltsamkeit wich nach und nach jenem auf höchsten Ausdruck, Wahrhaftigkeit und höchste Qualität. So entstand schließlich „Ernste Musik“ - nicht mehr nur im geistlichen sondern auch im weltlichen Bereich. Damit war der Vorklassik ihr Ende bereitet. Ernsthafte Kunst konnte sich nach den fortschrittlichen bürgerlichen Vorstellungen nicht nur auf Details wie Erbaulichkeit und Unterhaltsamkeit beschränken. Sie musste sich des Gesamten annehmen. Das heißt: nicht nur des Freien, auch des Gebundenen, nicht nur des Subjektiven sondern auch des Objektiven, nicht nur des Menschlichen sondern auch des Göttlichen. Indem man Melodie, schlichte Harmonik und Begleitung in den Vordergrund stellte, war das nicht zu machen.
Wie aber konnte die Symphonie den neuen Anforderungen genügen?
In Mozarts Briefen der späten Siebzigerjahre taucht ein weiterer Name häufig auf: Bach (Johann Sebastian). Er ist stets mit der Bitte an den Vater verbunden, ihm Noten, insbesondere Fugen
des Thomaskantors zu schicken. Fugen kannte Mozart natürlich und er hatte ja selbst große kontrapunktische Fähigkeiten besessen.
Jedoch die absolute Konsequenz von Bachs Fugen, die rationelle, ökonomische Handhabung des Kompositionsmaterials übten eine starke Faszination auf ihn aus. Kein Ton in Bachs polyphonen Werken war Zierrat oder überflüssig. Die Fugen stellten sinndurchdrungene Stücke dar, jede einzelne Note besaß Legitimation durch die Begrenzung auf das am Anfang exponierte Motivmaterial. Dies schien Wege aufzuweisen, die Symphonie gemäß den sich verändernden Ansprüchen der Kunst weiterzuentwickeln. Erst Gedankenarbeit konnte die Klassische Symphonie zur vollendeten Kunstform von Bestand erheben. Haydn war dies gelungen, indem er „thematische Arbeit“ in den Durchführungsteil des Symphonienkopfsatzes eingeführt hatte. Kühnes harmonisches Geschehen, Stutzung, Wiederholung oder kollagenartige Kombination des Motivmaterials führten den Hörern die Denkprozesse des Komponisten vor. Haydn veränderte auch hin und wieder Details der allgemein bekannten Formvorlage. So entstand ein „Überraschungseffekt“ bei den Hörern, durch den ein Gedanke bzw. eine Konsequenz aus der Gedankenarbeit unterstrichen werden konnte. Mozart folgte Haydn auch in diesem Punkt, zumeist jedoch auf wesentlich maßvollere Weise. Als er 1786 die Prager Symphonie KV504 in D-Dur komponierte (sie wurde 1787 In Prag uraufgeführt, daher ihr Name) ist unter dem Einfluss Bachscher Fugengenialität seine vielleicht ungewöhnlichste Symphonie entstanden. Hier einige Beispiele: Diese Symphonie besitzt
eine langsame Einleitung vor dem schnellen Kopfsatz. Bei Haydn war dies der Regelfall, bei Mozart hingegen gibt es dies nicht all zu häufig. Kraftvoll, affirmativ im Unisono beginnt die Einleitung. Dann hören wir eine zaghaft aufsteigende Dreiklangsbrechung über der Tonika, nur von den Streichern abrupt im piano vorgetragen. In dem Augenblick aber, wo das Phrasenende auf einem harmonieeigenen Ton der Tonika vermutet wird, erklingt im forte überraschend ein unerwarteter, Akkord, eine sogenannte Wechseldominante (Fis-Dur). Alsdann wird piano mit Seufzern in der Mollparallele fortgefahren. Schon in diesen ersten Takten kündigt sich an, dass wir im weiteren Verlauf durch Ungewöhnliches gefordert werden. Trotz des D-Dur hat dieser recht lange Einleitungssatz nichts Strahlendes, in seinem weiteren Verlauf schreitet er gar mit düsterer, unheimlicher Majestät, die an Don Giovannis Ende erinnert, voran, um dann klagend, fragend auf der Dominante im piano stehen zu bleiben. Der darauf folgende Sonatenhauptsatz (allegro) wartet dann bereits mit der nächsten Überrascheng auf: Die ersten Violinen beginnen alleine mit dem d’ in Synkopen, als blende sich das Thema allmählich ein, dann beginnen 2.Violinnen, Bratschen, Celli und Kontrabässe mit langsamen Notenwerten, als stellten sie eine Frage. Diese wird dann in Takt 7 und 8 von den Bläsern selbstbewusst beantwortet. Wir haben bereits innerhalb der ersten 8 Takte einen extremen Dualismus. Der gesamte Satz beeindruckt, weil er durchwegs vielschichtig, polyphon angelegt ist. Kein motivisches Füllmaterial wird aufgefahren, um Übergänge zu gestalten, statt dessen bezieht er sich konsequent, rationell und ökonomisch auf Motivmaterial des Haupt und Nebengedankens. Waren bereits im Teil der Themenaufstellung (Exposition) imitatorische Einwürfe zu vernehmen, so gebärdet sich der Durchführungsteil fugenartig, mit imitatorischem Geschehen und dramatischer Verknüpfung der Motivik. Mozart hat hier Bachs kompositorische Ethik und konsequente, durchorganisierte Kontrapunktik nicht einfach manieristisch imitiert, er hat sie genial transformiert und als Arbeitsmethode in die moderne Symphonie seiner Zeit integriert. Der langsame Satz lässt das (üblicherweise) Liedhafte weit hinter sich. Er gibt sich klagend, melancholisch, man ahnt bereits Schubert. Das Finale beeindruckt mit seinen extremen Klangkontrasten zwischen instabil anmutenden, verwischten Episoden, die jäh von aggressiven, markanten Fortissimopassagen abgelöst werden. Der Prager Symphonie fehlt das Menuett, welches üblicherweise an dritter Stelle steht. Manche Musikwissenschaftler rätseln herum, was der Grund dafür sei. Bedenkt man den Charakter und die Dichte der drei beschriebenen Sätze, so muss man erkennen, dass hier ein höfischer, womöglich galanter, charmanter Menuettsatz gar keinen Sinn ergeben würde. Es war folgerichtig von Mozart, hier auf die Einhaltung einer Konvention zu verzichten. Haydn hat polyphone Arbeitsmethoden weniger bemüht als Mozart, seit Beethoven gehören sie jedoch zum Standard in der Symphonie. Dort begegnen uns hin und wieder eindrucksvolle Fugenepisoden, so etwa im zweiten Satz der 3.Symphonie „Eroica“.
Die Prager Symphonie ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Leistungen der Wiener Klassik. Haydn und Mozart haben rationale Elemente wieder in die Musik, die ganz von der Empfindung vereinnahmt worden war, zurückgeführt. Die Balance zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven ist für die Kunst und die Rezepienten von größter Wichtigkeit.
Nach der Aufklärung mit ihrer Überbetonung des Rationalen war es den Gesetzen der Dialektik entsprechend logisch und notwendig, das Subjektive und Empfindsame zu fokussieren, wie es Rousseau getan hat. Individualität aber besteht aus Beidem und Kunst ist für alle Bereiche menschlicher Existenz zuständig, also muss sie Beides ansprechen. Dies ist der Wiener Klassik gelungen, darin liegt ihre zeitlose Bedeutung. Kunst kann in einer Kultur mit Entfremdung zwischen Vernunft und Empfindung als integrierender Faktor wirken. Mit der Einführung von Gedankenarbeit in die Symphonienkomposition hat man die Musik vor dem Verharren im Schlichten, Subjektiven und Einseitigen bewahrt. In der Klassik wurde dem oberflächlichen Zuhörern der Zugang erschwert. Die Komponisten forderten sowohl emotionales wie rationales Mitgehen. Es soll mitgedacht werden. Wer da aber sagt, es genüge, sich am schönen Klang zu ergötzen, der bleibt den Komponisten Einiges schuldig. Wer die Musik wirklich in sich aufnehmen möchte, der braucht Energie, aber er bekommt sie um das Vielfache auf einer anderen Ebene zurück. Damit ist wohl auch völlig klar, dass Kunst nicht für den bloßen Konsum bestimmt ist. Sie gerät in der bürgerlichen Gesellschaft in ihren bekannten inneren Widerspruch: sie kann niemals Massenprodukt sein oder werden. Man ist aber seitens der Veranstalter oder Tonträgerproduzenten immer wieder dazu gezwungen, zumindest dazu verführt, dies zu versuchen, weil Kunst und Kultur profitabel sein müssen. Dieser Widerspruch der bürgerlichen Kunst ist so schnell wahrscheinlich kaum zu lösen. Abgesehen von allen Zwängen der Produktionsverhältnisse und auch jenseits aller geschmacklichen Verschiedenheit bei den Rezepienten:
Musik hören bedeutet Wahrnehmen und das wiederum erfordert Hören als eine Einheit von Fühlen und Denken.
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