Donnerstag, 18. Oktober 2007

Zwei kulturimmanente Faktoren Europas

Die zwei kulturimmanenten Faktoren Europas

Europas Kultur hat ihre Wurzeln im Christentum. Daher haben auch die beiden kulturimmanenten Faktoren Europas ihren Ursprung darin. Europas Kultur zeichnet sich durch eine ungeheuer rasante, mitreißende Dynamik aus. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der eine kulturimmanente Fakttor das Prinzip der Expansion, der andere das der Konzentration repräsentiert. Beide Faktoren wirken stets gemeinsam und verstärken sich gegenseitig.

1. Der expansive kulturimmanente Faktor

1.1. Ursprung

Das Christentum wurzelt bekanntlich im Monotheismus des Judentums. Dies hatte den einen, personellen Gott erkannt, von dem Alles kommt. Welch ein riesiger Sprung in der Entwicklung der Menschheit!

Doch in der Dreifaltigkeit des Christentums wird der eine Gott in drei selbstständigen Erscheinungsformen manifest. Als Gott Vater, Schöpfer aller Dinge auf der Ebene der Vernunft und Erkenntnis, In Christu Jesu auf der Ebene der persönlichen, menschlichen Begegnung und der Empfindung sowie im Heiligen Geist auf der Ebene der Abstraktion und des Geistigen. Drei wesentliche Wahrnehmungssektoren des Menschen wurden mit jeweils eigener göttlicher Wesenspräsenz erfüllt. Dies hat anscheinend deren Eigendynamik verursacht und die Entwicklung der europäischen Kultur gewissermaßen mit Separationsenergie beliefert.

Salopp gesagt: man kann im „göttlichen Splitting“ den Ursprung des expansiven kulturimmanenten Faktoren vermuten.

Er bewirkte kontinuierlich die Separation von Dingen, die anfänglich eine Einheit dargestellt hatten, die einst eng bzw. scheinbar untrennbar miteinander verbunden waren. Blicken wir auf die letzten zwei Jahrtausende zurück, so können wir diesen unaufhaltsamen Separationsprozess als typisch europäisch deutlich erkennen. Er ist in außereuropäischen Kulturen erst dann zu beobachten, nachdem sie von europäischer Kultur beeinflusst worden sind.

Das Separationsphänomen darf hier nicht mit Zerfall oder Verfall verwechselt werden. Es handelt sich auch nicht um ein Phänomen vergleichbar der Zellteilung. Dies wäre ganz einfach Vermehrung. Im europäisch signifikanten Separationsprozess drifteten die Dinge nicht einfach auseinander. Die herausgelösten Partikel entwickelten jeweils eine Eigendynamik. Aus den herausgelösten Teilen separierten sich durch den expansiven kulturimmanenten Faktor wieder welche, entwickelten ihrerseits Eigendynamik und so fort. Ein beständiger Hypostasierungsprozess fand statt und er hält immer noch an. Europa ist der dynamischste und expansivste aller Kulturkreise.

Für die Künste hatte diese Dynamik gravierende Folgen. Veränderungen geschahen auf rasante Weise und brachten die überwältigende Vielfalt der Stile und Epochen hervor. Unter dem zusammenwirken der beiden europäischen kulturimmanenten Faktoren steigerte sich der ständige, Alles erfassende Separationsprozess. Er führte zur Zersplitterung und Entfremdung als soziales, psychologisches, markantes kulturelles Ereignis in unserer Zeit.

1.2. Wirkung

In der Musik sind die Phänomene europäischer Kulturdynamik besonders auffällig. Das Gehör ist der direkte Eingang zur Seele. Musikalische Rezeption ist zwar immer nur augenblicklich, daher flüchtig, jedoch ihre Reizwirkung erweist sich als besonders intensiv und unmittelbar. Weil Erkenntnis Empfindung und Empfindung Erkenntnis bewirkt, lässt sich anhand der Musik als Erscheinungsform von Geist Einiges besonders deutlich demonstrieren. Daher sollen bestimmte Vorgänge herausgegriffen und im Zeitraffer betrachtet werden. So kann man die Wirkung der kulturimmanenten Faktoren gut erkennen.

Zunächst war Musik in Europa wie bei allen anderen Kulturen nur in einer Stimme existent, auch wenn sie von mehreren Sängern und Spielern zugleich ausgeführt wurde. In Europa spaltete sie sich jedoch um das Jahr 1000 in mehrere Stimmen auf. Mehrere verschiedene Töne erklangen nun gleichzeitig. Anfänglich bewegten sich die diversen Stimmen teilweise noch parallel nebeneinander her, jede einzelne entwickelte aber schon bald ihre höchste Eigenständigkeit. Die als Polyphonie bekannte Satztechnik erlebte im 16.Jahrhundert bei Palestrina und Orlando di Lasso ihren Höhepunkt.

Im Humanismus nun separierte sich der Mensch kulturell als Individuum aus einem Gesamtkontext. Dadurch entstand die Absolute Musik als völlig neues Phänomen. Bis zum Humanismus diente Musik ausschließlich den anderen Künsten. Sie untermalte Wort, Tanz oder weltliches und religiöses Ritual. Absolute Musik hatte sich aus jeglichem Dienstverhältnis herausgelöst und existierte um ihrer selbst willen. Den Komponisten bot sie nun die Möglichkeit, als Individuen aus dem musikalischen Gesamtgeschehen hervorzutreten. Vokalmusik und Tanzmusik blieben natürlich weiterhin bestehen, verloren aber in der Kunstmusik mehr und mehr an Bedeutung. Seit der Entstehung Absoluter Musik konnten die Komponisten ganz persönliche Gedanken und Empfindungen nach eigenem Willen und eigener Vorstellungskraft in Kunst umsetzen. Das Separationsphänomen geht aber auch hier noch weiter. Die ersten Werke Absoluter Musik trugen den ganz allgemeinen Namen Fantasia. Doch schon bald erhielten die Fantasien spezifizierende Namen, je nach ihrem Charakter, ihrer Länge oder ihrer Besetzung. Die Fantasie spaltete sich dann im Verlauf der nächsten zwei Jahrhunderte in diverse Gattungen mit eigenständiger geschichtlicher Weiterentwicklung auf. Man denke an Praeludium und Fuge, Sonate, Solokonzert und Symphonie, der imposantesten, monumentalsten Erscheinungsform Absoluter Musik. Die Emanzipation der Musik vom gesamtgesellschaftlichen Kontext spiegelt äußerlich die Emanzipation des Individuums. Aber auch innermusikalisch erfuhr sie diese.. Die „Stimme des Einzelnen“ sollte deutlich und eindrucksvoll vernehmbar sein. Die Musik begann sich nun in Hauptstimme und Begleitstimmen aufzuspalten. Das ende der polyphonen Satztechnik war eingeläutet. Ohne Rücksicht auf gleichberechtigte Stimmpartner nehmen zu müssen, konnte die Musik endlich dramatische Kunst werden. Dramatik hatte den Tonfall der Befreiung und des Befreienden. Der Fachausdruck für das neue Satzprinzip lautete anfänglich noch „Monodie“ (= Gesang des Einzelnen) , später Homophonie. Die Monodie spaltete sich ihrerseits wieder in Rezitativ -und Arie auf, wie uns aus Oper und Oratorium bekannt. Die Homophonie kam logischerweise dann auch in der Absoluten Musik zur Anwendung.

Im 19.Jahrhundert steigerten sich Separation bzw. Expansion höchst dramatisch. Die neue bürgerliche Gesellschaft erhob die Schönen Künste zu eigenständigen Valeurs. Dadurch lösten sie sich aus ihrem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang und existierten um ihrer selbst willen. Gemälde und Skulpturen „wanderten“ in Galerien und Museen, Musik von Kaffees, Marktplätzen und Schlössern auf Konzertpodien und in Salons. Expansion und Separation erfasste die Künste. Stärker als zuvor vermochten sie nun ihre spezifischen Phänomene hervorzubringen und ihrer Eigendynamik zu folgen. Eines aber hatten sie von nun an gemein: dem Produktionsprozess jeglicher Kunst war jetzt höchster Anspruch auf Qualität a priori impliziert. Erfolg wurde fortan an der Umsetzung einer neuen künstlerischen Idee gemessen. Erfolg bei den Rezepienten war selbstverständlich willkommen, galt aber als sekundär, bei vielen Künstlern gar als anrüchig. Kunst war an Elite gerichtet. Der Künstler und sein Werk konnten in der Gesellschaft der emanzipierten Künste endlich „ungehindert“ zur Einheit werden. Jedoch an die Stelle der Entfremdung zwischen Künstler und Werk trat nun immer mehr diejenige zwischen Kunst und Publikum. Augenfällig wurde sie zum ersten Mal im Werk Richard Wagners, spätestens seit der Zwölftontechnik ist sie kulturelles Merkmal. Aber auch zwischen den Künstlern untereinander setzte Entfremdung ein. Sie fühlten sich nicht wie früher als „Verzierer“ der Gesellschaft, mit der ganzen Kraft ihrer „handwerklichen“ Fertigkeiten den göttlichen Eingebungen folgend. Sie begriffen sich als genuine Schöpfer, die geistiges Eigentum produzierten. So wurden sie auf der geistig/kreativen Ebene zu Konkurrenten. In den vorangegangenen Gesellschaftssystemen waren sie dies vorwiegend auf materieller Ebene, im Buhlen um die Gunst des Publikums oder bei der Bewerbung für ein Dienstverhältnis. In der neuen, marktorientierten Gesellschaft mussten sie sich stilistisch voneinander abgrenzen, weil der persönliche Stil Firmenzeichen, also „Logo“ war.

Der neue Stellenwert der Künste in der Gesellschaft des 19.Jahrhunderts, ihr immanenter Qualitätsanspruch und der einsetzende Entfremdungsprozess spaltete die Musik in die sogenannte E- und U-Musik. Wesentlich zutreffender als E-Musik erscheint indessen der Begriff „Kunstmusik“.

Die beiden großen Sektoren drifteten nach der Separation zügig auseinander. Die U-Musik war deutlicher als die Kunstmusik gnadenlosen Marktgesetzen unterworfen. Der Zwang, Produkte billig herzustellen, die maximalen Absatz garantieren mussten, führte zu einem ständigen Sinken der Qualität. Am Schlager ist dies gut nachzuweisen, wenn man die Entwicklung seiner Melodik, Harmonik, seiner Arrangements bis hin zur ausschließlichen Verwendung von Synthesizern analysiert. Die Anforderungen des Marktes, ständig Neues produzieren zu müssen, beschleunigte die Zersplitterung der U-Musik in ihre heute bekannten diversen Genres, Separationsgeschehen also auch hier.

Die Schaffenden der Kunstmusik befanden sich in einem schier zerreißenden inneren Widerspruch. Sie standen in der Verpflichtung, Tradition zu bewahren und gleichzeitig Neues zu kreieren. Dazu gesellte sich noch der Druck, von der Kunst leben zu müssen, ohne kommerziell zu werden.

Im 20.Jahrhundert schufen die Tonträger ein neues Problem: alles was auf ihnen gebannt war, blieb präsent und verstärkte noch zusätzlich den Druck auf die Schaffenden. Immer schneller und neuer musste produziert werden. Aber auch für die Reproduzierenden der Kunst- und U-Musik hat sich seit der zweiten Hälfte des 2.Jahrhunderts Entscheidendes geändert. Das Musikleben wurde nun von Markt und Medien dominiert. Letztere erhielten dadurch ungeheure Macht.

Und schon entstand wieder ein Separationsvorgang, diesmal mit geradezu atomisierender Wirkung. Um mehr neue Absatzmöglichkeiten zu erzeugen, setzten die Medien eine marktstrategische Ideologie an die Stelle authentischer und notwendiger Bewertungskriterien der Kunst.

Die Grenzen zwischen den Genres wurden hinwegideologisiert , um ein maximales Spektrum an Konsumenten zu erfassen. Kunstmusik sollte wie Popmusik erscheinen. Dadurch hielten Elemente der U-Musik bei ihr Einzug. Glättung und Verflachung von Interpretation um einer größeren Breitenwirkung willen war angesagt. Extreme Quantitäten werden inzwischen als individuelle Qualitäten verkauft. Zum Beispiel überzogene Tempi (Kick also) oder Konzentration auf Äußerlichkeiten wie Sound bis hin zu dessen Manipulation durch Aufnahmetechniken.

Teilen der U-Musik versucht man dagegen, durch klassisch anmutende Arrangements oder Klanggestikulation, das scheinbar berechtigte Wegfallen der Grenzen zwischen ihr und der Kunstmusik zu suggerieren.

Das Resultat dieses Vorganges: in der Medienpräsentation erscheinen nur noch einzelne Sätze von Werken. Sie sind aus diesen wie auch aus der Zugehörigkeit zu einem Genre herausgelöst. Sie fristen ihr Dasein, kryptisch, scheinbar ohne Wertesystem oder Hierarchie als „Artikel“, zu Konsumgütern degradiert. Kultur verfällt durch den Zwang, rentabel sein zu müssen, mit „Kick“ und „cool“ als Bewertungskriterien. Die Medien präsentieren oft genug nur noch Ausschnitte eines Satzes. In den versprengten Partikeln ohne Genrezugehörigkeit widerfährt der Kultur ihr höchstes Stadium an Zersplitterung.

Die zeitgenössische Musik führt in Medien und Konzertsälen nur ein Schattendasein.

2. Der konzentrierende kulturimmanente Faktor

2.1. Ursprung – Wirkung - Menschenbild

Der zweite kulturimmanente Faktor Europas wurzelt ebenfalls in einem wesentlichen Element christlichen Glaubens.

Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde. Er wurde selbst Mensch. Gott opferte sich den Menschen als Mensch. Die Menschen wurden durch dies Opfer erlöst, gelangen seitdem zum ewigen Leben, werden also unsterblich. Jedem einzelnen Menschen guten Willens stand nach dem Opfertod Christi die Vergebung seiner Sünden und gewissermaßen a priori eine Apotheose ins Haus.

Der Glaube, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf und sich sogar für ihn opferte, wertete den Menschen kulturell als Geschöpf in so hohem Maße auf, wie in keinem anderen Kulturkreis. Hieraus entstand der konzentrierend wirkende kulturimmanente Faktor. Er führte dazu, dass sich in Europas Kultur der Blick zunehmend auf den Einzelnen oder das Einzelne richtete. Europa wurde zur Kultur des Individuellen an sich.

Der buddhistische Kulturkreis ging bekanntlich nahezu den entgegengesetzten Weg, namentlich im Zen. Alles ist Nichts und Nichts ist Alles. Dies sind zwei kontradiktorische Gleichungen. Sie werden als Axiom gesehen und stellen die Grundlage der buddhistischen Kultur dar. Der Einzelne bzw. das Einzelne erfährt darin keine Aufwertung. Der Mensch erreicht hier seine höchste Daseinsform dadurch, dass er mittels Meditation und Entsagung zur Selbstaufgabe gelangt. Zum „Nichts“ geworden wird er Eins mit dem Alles, dem Gesamten.

Die Gleichsetzung der extremen Gegensätze von Alles und Nichts bedeuten Kompensation und Ausgleich. Die buddhistische Kultur wirkt ausgeglichen weil sie divergierender polarer Faktoren der Kulturimmanenz entbehrt. Sie verkörpert Ganzheitlichkeit. Gerade Letztere fasziniert viele Europäer zu recht, weil unsere Kultur ihrer verlustig gegangen ist.

Ausgehend von der christlich/europäischen Menschensicht leitete sich im Laufe der geistesgeschichtlichen Entwicklung nun immer deutlicher der Anspruch jedes Einzelnen auf Wahrung seiner Würde, auf angemessene Rechte, auf Gleichheit und auf Freiheit ab. Aus dieser Sicht konnte weder eine Sklaven- oder Adelsgesellschaft dauerhaft eine Legitimation beziehen. Der kulturelle Zug Europas steuerte unaufhaltsam auf sein Ziel zu, eine gesellschaftliche Realität gemäß ihrem ethisch hochstehenden Menschenbild herzustellen. Die moderne Demokratie. Nur in ihr schienen alle Ansprüche auf eine menschengemäße bzw. –würdige, freie Existenz verwirklichbar.

2.2. Zunahme der Subjektivität

Philosophie und Schöne Künste spiegeln als Erscheinungsformen des Geistes den Individualisierungs- und Vermenschlichungsprozess unserer Kultur wieder.

Im Humanismus und seinen Künsten, der Renaissance, wird er zur Hauptseite und zum ersten Mal wirklich sichtbar.

Der konzentrierende kulturimmanente Faktor Europas bewirkte seit dem Humanismus einen kontinuierlichen Wandel von der Orientierung am Gesamten zur Orientierung am Einzelnen. Die Bedeutung des Subjektiven nahm beständig zu, im selben Maße schwand die des Objektiven. Spiritualität und Gotteserkenntnis begann einst mit der Fähigkeit des Menschen, sich und seine Innenwelt (das Subjektive) als den winzigen Partikel einer Außenwelt (dem Objektiven) gegenüber zu erkennen. Im frühen 19.Jahrhundert erklärt Arthur Schopenhauer dann, das Objekt sei nur Objekt im Bezug auf ein Subjekt. Individuelle Wahrnehmung hatte damit die Vorherrschaft über Alles gewonnen. In Schopenhauer hypostasiert der konzentrierende kulturimmanente Faktor Europas.

Die Entstehung der Absoluten Musik zeigt deutlich die Verselbstständigung des Individuums und die Zunahme des Subjektiven in Europas Kultur.

Für die Künste ist aber Objektivität unentbehrlich, weil sie verstanden werden wollen und sollen. In einer Sprache sind Teilnahme und Mitteilung nur durch die Existenz der Objektivität in Form von Grammatik und Wortschatz möglich.

Gerade bei Musik spielt Objektivität eine entscheidende Rolle.

Sie besitzt keine materiell greifbare Körperlichkeit wie etwa das Bild oder das Buch. Flüchtig ist das Wesen ihrer Rezeption.

2.4. Descartes im Spiegel der Fuge

Bevor es Absolute Musik gab, besaß Musik Objektivität in der Funktion, welche sie jeweils zu erfüllen hatte. Zum Beispiel in einem Text, den sie ausdrückte oder im Charakter eines Tanzes und Rituals, das sie untermalte. Ihre Funktion machte Musik zwar nicht greifbar, jedoch begreifbar. Objektivität wie Bindung an außermusikalische Funktionen fielen in der Absoluten Musik weg. Aus der Notwendigkeit ihrer Entstehung heraus entwickelte sich eine neue Objektivität. Somit war Absolute Musik Stimme des Individuums und zugleich begreifbar. Das bedeutendste Anschauungsobjekt dafür finden wir in der Fuge. Sie spiegelt auf musikalischer Ebene den Stand der Subjektivität im 17.Jahrhundert genauso wieder, wie ihr philosophisches Äquivalent, die Lehren Descartes.

Der Philosoph Descartes bezieht zum ersten Mal die Subjektivität relevant in philosophische Betrachtungen ein. Er entwickelte eine Erkenntnistheorie, die nur das als richtig akzeptierte, was durch die eigene Analyse und logische Reflexion plausibel nachweisbar war.

Der Fugenkomponist übernahm keine bereits vorhandene geistliche oder weltliche Melodie, wie in der nicht absoluten Instrumentalmusik. Er erfand sein eigenes musikalisches Gebilde, das bis zum Ende des Barock (Mitte des 18.Jahrhunderts) Subjekt genannt wurde. Aus diesem alleine setzte er ohne Variierungen der erfundenen Substanz sein Werk zusammen.

Nach Descartes Ethikvorstellung hatte sich das Individuum im Sinne bewährter gesellschaftlicher Konventionen pflichtbewusst und moralisch einwandfrei zu verhalten.

In Werken absoluter Musik, also auch in der Fuge, waren verbindliche, erkennbare Kompositionsprinzipien vorgegeben. Ein Beispiel hierfür ist die Imitation. Alle beteiligten Stimmen setzen wie beim Kanon nacheinander mit dem Subjekt ein. Nachdem alle Stimmen eingesetzt haben, wird das Subjekt in einer von ihnen immer wieder zitiert. Das Subjekt darf nicht verändert werden, es sei denn, dass es in seiner veränderten Form dann verbindlich so weitergeführt wird.

Gefühlsregungen wie Liebe oder Hass etc. sieht Descartes als natürliche mentale Ausflüsse der Körperlichkeit des Menschen als Kreatur. Er verpflichtete diesen aber zu ihrer Kontrolle durch den Willen und die Vernunft.

Länge, Dramatik, Gefühlsintensität und Charakter seiner Fuge ordnet der Komponist seinem Willens und seiner Vernunft unter.

In diesem Stadium europäischer Kultur erscheinen Gefühl und Vernunft bereits als abgegrenzte, selbstständige Sektoren. Der separierende kulturimmanente Faktor wird im Zusammenwirken mit dem konzentrierenden die Dialogfähigkeit beider Sektoren immer mehr erschweren.

2.5. Kopernikuseffekt in der Kultur

Der Siegeszug des Subjektiven setzte sich unaufhaltsam fort. Blieb das Objektive in Form der Vernunft bis in die Aufklärung hinein (18.Jahrhundert) der Subjektivität noch übergeordnet, so sehen wir in Kants kritischer Phase der 70ger Jahre des 18.Jahrhunderts einen entscheidenden kulturellen Wendepunkt indem er sagt, Objektivität ist erst durch subjektive Erfahrungen in Verbindung mit individueller Erkenntnisfähigkeit möglich. Er nannte es den Kopernikuseffekt. Mittelpunkt war nicht mehr das Objektive, um welches die Subjektivität kreiste, nun war Subjektivität das Zentrum, um welches sich die Objektivität bewegte.

Auch In Rousseaus Soziologie und seinen philosophischen Beiträgen ist der Kopernikuseffekt zu konstatieren. Descartes sah Erkenntnis noch als Grundlage des Seins („cogito ergo sum“). Rousseau hingegen erklärte, das Sein ist Grundlage der Erkenntnis („sum ergo cogito“). Die Animosität zwischen der aufgeklärten und der rousseauschen Strömung darf als typisch abendländisch gesehen werden. Sie zeigt die fortgeschrittene Separation der Vernunft von der Empfindung. Rousseau betonte sehr stark den empfindenden, bedürftigen und instinkthaften Teil der Persönlichkeit. Sigmund Freud wird diesen Teil einst als das „Es“ bezeichnen. In unserer Zeit leiten Viele ihre Identität in erster Linie aus diesem Persönlichkeitsteil ab.

Entsprechend der Expansion des Subjektiven verschärften sich die Widersprüche zwischen Untertanen (Subjekten) und absolutistischem Staat, Objekt. Der Staat hatte sich den Bedürfnissen der Subjekte anzupassen und nicht umgekehrt. Auch in wachsenden Widersprüchen zwischen Individuen und Kirche sehen wir Auswirkungen des Kopernikuseffektes. Die Revolution und das Ende der alten Gesellschaft waren unausweichlich.

Diese kulturellen und gesellschaftlichen Prozesse beendeten in den Künsten um 1750 die Epoche des Barock.

Die Zunahme der Subjektivität führte zum feindseligen Konflikt zwischen Vernunft und Empfindung in Europas Kultur. Die Animosität der rousseauschen Strömung gegenüber Teilen der vernunftorientierten Aufklärung sind die Symptome dafür. Künstlerisch entlud sie sich kurz im sogenannten Sturm und Drang. Goethe schlug sich im Werther auf die anti-aufklärerische Seite. In seinem Briefroman kommt vor allem der bedürfniserfüllte, triebhafte Persönlichkeitssektor, den Rousseau so stark betonte, zu Wort. Werther klagt ausgiebig über unerfüllte Sehnsüchte und Begehren. Bedürfnisse seiner Geliebten Lotte, vor allem deren Beziehungsglück mit ihrem Verlobten Albert finden vergleichsweise wenig Erwähnung. Die Empfindung von Defiziten wird mit der Liebe verwechselt. Liebe wurde nicht mehr empfangen, sie wurde beansprucht. Sie war nicht mehr göttliches Geschenk sondern etwas, das einem zustand und das man besitzen musste. In der Romantik (erste Hälfte des 19.Jahrhunderts) wurde dieser Irrtum kulturelles Markenzeichen.

Liebe aber ist allgegenwärtig, sie ist allgegenwärtige Präsenz Gottes. Sie wird erkannt, man kann ihrer durch Beziehungsfähigkeit teilhaftig werden. Dies bedeutet die Fähigkeit, das „Ich“ auf das „Du“, das Innere auf das Äußere, das Subjektive auf das Objektive beziehen zu können. Liebe lässt sich nicht dem bloßen Willen oder dem Ego unterwerfen. Dies gilt genauso für Kunst.

Je subjektiver und individueller eine Kultur akzentuiert ist, umso mehr bedürfen Kunst und Künstler der Fähigkeit zur Objektivierung und der Beziehung.

Nach dem Barock musste die Glanzzeit der Fuge zwangsläufig enden. Ihr Inneres war von strengen, verbindlichen Kompositionsregeln durchdrungen, um sie vermittels objektiver Vorgaben begreifbar zu machen. Die Fuge setzte Vernunft und Bildung bei den Komponisten, den Spielern und Hörern voraus. Mit Zunahme der Subjektivität und dem Anspruch des Individuums auf Freiheit und Entfaltung, wurden ihre Prinzipien als Gefängnis empfunden.

Im Empfindsamen Stil besaß das Gefühl für kurze Zeit die Oberhand, allerdings zu ungunsten kompositorischer Qualität. Die Leistung der Wiener Klassiker bestand darin, die entfremdeten Persönlichkeitsbestandteile Vernunft und Empfindung dialogfähig zu machen. Nicht als Willensentscheidung sondern aus der Erkenntnis heraus, das nur der Dialog beider die Kunst aussage- und überlebensfähig machen konnte. Absolute Musik löste die Anforderungen der neuen, liberalen Epoche auf eindrucksvolle Weise. Im Sonatenhauptsatz hatte sich eine feste Form entwickelt. Sie war wie der immer gleichbleibende Grundriss eines Hauses. Der Komponist füllte diese Vorgabe (Objektivität) mit seinen Gedanken und Empfindungen (Subjektivität). Er veränderte je nach subjektivem Inhalt die Maße des Grundrisses, behielt ihn jedoch bei und entwarf individuell die Inneneinrichtung des „neuen Bauwerks“. Die Objektivität in Gestalt der Form wurde also stets beibehalten und jeweils dem subjektiven Inhalt angepasst. Die elastische Handhabung der objektiven Vorgabe, die Jedem bekannt war, gab somit Orientierungshilfe und die Hörer konnten den Gedanken des Komponisten folgen. Deshalb lag die Sonatenform fast allen Gattungen im letzten Drittel des 18.Jahrhunderts zugrunde. Das ideale Verhältnis von Form und Inhalt machte Die Wiener Klassik zum unübertroffenen Höhepunkt menschlicher Kultur überhaupt. Ihre Ethik ist typisch europäische Errungenschaft von weltweiter, zeitloser Bedeutung.

2.6. Totalität des Subjektiven

Doch die Dynamik von Gesellschaft und Kunst führte unter der Ägide unserer Kulturimmanenz zur vollkommenen Kongruenz von Subjektivität und Individualität seit der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts.

Die Revolution war gescheitert, die Verwirklichung der neuen Gesellschaft gestaltete sich anders als man sich gewünscht hatte. Illusionen waren von der Realität eingeholt worden. Kirche und Glaube wurden mit der „Alten Gesellschaft“ assoziiert, abgelehnt und angefeindet. Es fehlte damit ein spiritueller Überbau. Die

Individuen waren auf sich selbst zurückgeworfen, Pessimismus hielt allenthalben Einzug. Die Totalisierung des Subjektiven setzte auf allen Ebenen des Lebens und der Kunst ein. Bei der Reproduktion von Musik sehen wir dies im Austausch von Begriffen. Bis ins frühe 19.Jahrhundert sprach man beim Musizieren vom Vortragen, danach aber vom Interpretieren. Vortragen, mit dem Zitieren vergleichbar, liegt näher beim Objektiven. Interpretieren als Akt der Hermeneutik ist subjektive Reflektion. Objektive Vorgabe in Gestalt musikalischer Formen erschien beim Komponieren irrelevant, ja sogar als Hindernis. Kunst war zugespitzt gesagt zum Rohstoff des Subjekts geworden. Gerade Absolute Musik musste dadurch mehr und mehr in eine Krise geraten. Die Romantiker gaben ihren Kompositionen Überschriften, als wären sie Gedichte. Poetische Bezüge gaben den Hörern anstelle der Form eine gewisse Orientierung. Debussy wählte für seine Stücke Titel, welche dem Publikum Orientierung über malerische Assoziationsmöglichkeiten gaben.

Die Totalität des Subjektiven in der Kultur individualisierte sämtliche Phänomene bis an den Rand ihrer Isolation. Dies kann man an folgendem innermusikalischen Entwicklungsprozess zwischen 1840 – 1900 sehr drastisch erkennen.. Zuvor hatten sich einheitliche Stilistik und Ästhetik in diverse Individualstile und –Ästhetiken bereits aufgespaltet. Jetzt wurde auch das Ton- und Klangmaterial privatisiert. Der universale Orchesterklang wurde bei Wagner erstmals in ein Reservoire eigenständiger Klangfarben zerteilt. Bezug und Hierarchien von Klängen wurden zugunsten der persönlichen Note immer weniger beachtet, bei Debussy dann ganz aufgegeben. Nach der Abschaffung der Verbindlichkeit sowie der Wertehierarchie unter den Klängen verloren Tonsysteme an Bedeutung. Um das Jahr 1900 wurden sie dann ganz aufgegeben. In der freien Atonalität bestand nun nicht einmal mehr eine Verbindlichkeit zwischen den einzelnen Tönen. Ein Vergleich mit der Sprache macht den ungeheuren Vorgang vielleicht besser vorstellbar: man stelle sich vor, die Grammatik einer Sprache wird zunächst abgeschafft, danach besteht sie nur noch aus Wortneuschöpfungen, deren Bedeutung man nicht kennt und letzten Endes gibt es nur noch aus einzelnen Buchstaben. Rein subjektive Kunst hält die Rezepienten in ihrer eigenen Subjektivität gefangen.

In der freien Atonalität hatte die Musik ein ähnliches Stadium erreicht wie die Bildende Kunst dann im Art informell.

Mit der Einführung seiner Zwölftontechnik stellte Arnold Schönberg eine Verbindlichkeit zwischen den tönen wieder her. So gab der Musik um 1920 wieder Objektivität zurück. Gleichwohl blieb der Zwölftonmusik und ihrer Weiterentwicklung, der seriellen- und der Avantgardemusik eine breite Akzeptanz beim Publikum verwehrt. Das Gehör ist subjektiv, es bewertet akustische Reize automatisch als „schön“ oder „hässlich“ – mit jeweils divergierender Empfindlichkeit der Individuen. Die Erfindung einer neuen Kompositionstechnik, welche sich der Subjektivität anpasst, ist undenkbar. Die kulturimmanenten Faktoren haben alle Erscheinungsformen der Kultur, also auch die Künste und die Künstler separiert und individualisiert. Erkenntnisse und Konsequenzen daraus können aber eine reintegrierende Entwicklung initiieren.

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