Musik und Ideologie
Über den persönlichen und öffentlichen Missbrauch von Musik als Verführungskunst
Musik und Macht
„Mit Worten lässt sich trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten“, so heißt es im ersten Teil von Goethes Faust. Wenn Worte im Verbund mit Musik vorgebracht werden, gelingt dies noch besser. Oft genug kommt es gar nicht mehr zum Streiten, weil Worte im Gewand wohlgesetzter Noten widerstandslos in die Ohren, die Seele und den Geist der Hörer gleiten können. Musik besitzt also Macht, sie kann bezaubern, verzaubern, betören, manipulieren und verführen. In vielen großartigen Opern stellt diese Tatsache einen wesentlichen Teil der Handlung dar. Zum Beispiel Salome, die in Richard Strauss (1864 – 1949) gleichnamiger Oper sich das erotische Interesse ihres Stiefvaters zunutze macht. Nach einem aufreizenden Tanz zu noch aufreizenderen Klängen verspricht sie sich, die Enthauptung Johannes des Täufers als Belohnung vom aufgeheizten Herodes einfordern zu können. Oder Wolfgang Amadeus Mozarts (1756 – 1791) Don Giovanni, der Zerlina mit den schmeichelnden Worten: „Reich mir die Hand mein Leben“ auf sein Schloss einlädt. Weil das Objekt der Begierde bereits mit einem Anderen verlobt ist, kommt den einlullenden Klängen der Musik eine bedeutende Funktion bei der Verführung zu. Ebenso im zweiten Aufzug des Bühnenweihfestspiels „Parsifal“ von Richard Wagner. Hier versucht Kundry, im reinen Thoren erotische Empfindungen und Sexualität zu erwecken, um ihn auf ewig in Klingsors Gewalt zu bringen. Die Verführung wäre mit einer Sprechstimme alleine von vorne herein gescheitert. Durch die betörende Musik, ihre besondere Instrumentation, Melodik und Harmonik, kann hier die niedere Absicht Kundrys verschleiert werden. Verführung gelingt nur, wenn das Opfer sie nicht bemerkt.
Als Publikum sind wir freilich „Eingeweihte“, wir sind in einer kommoden, gefahrlosen Situation. Wir sind nicht Teil der Handlung von Opern und betrachten die jeweiligen Verführungen von außen. Aber was die Musik bei den Protagonisten der Dramen vermag, könnte sie auch bei uns vermögen. Wir hören im Schleiertanz der Salome gar, dass Verführung mittels Musik auch jenseits von Worten gelingen kann ja womöglich durch das Fehlen eines Textes noch viel einfacher und heimtückischer.
Musik hat einen ihrer wesentlichen Ursprünge im Trieb- und Instinkthaften. Sie spricht deshalb auch in einer rationalen, intellektualisierten, technisierten Welt diesen „archaischen“ Persönlichkeitsanteil des Menschen immer noch an. Weil aber dieser archaische Persönlichkeitsteil zumeist durch gesellschaftliche und kulturelle Konditionen größtenteils gemaßregelt bzw. ins Unbewusste verbannt ist, kann er für Verführungen sehr anfällig sein. Unsere intensiven Reaktionen auf mitreißende Rhythmen der Kunst-, vor allem aber der Tanzmusik zeugen davon, wie erfolgreich auf diesen Part des Menschen zugegriffen werden kann.
Wegen ihrer Verankerung im Trieb- bzw. Instinkthaften und infolge dessen aufstachelnden Wirkung spielte Musik vor allen anderen Schönen Künsten für autoritäre, diktatorische Regime verschiedenster Gesellschaftsformen eine besondere Rolle. Sie wurde reglementiert und bewusst eingesetzt, um ideologischer und politischer Stabilisierung willen.
Nach Augustinus ist Kunst jedoch philosophisch gesehen ein Spiegel der gottgegebenen Realität, theologisch gesehen ist sie Geschenk Gottes. Insofern leuchtet ein, dass Musik wie überhaupt jegliche Kunst nicht zur Manipulation oder Verführung missbraucht werden darf. Es gibt eine künstlerische Ethik, welcher sich Künstler zu beugen haben.
Hingabe – Wille, gegensätzliche Prinzipien geistiger Dynamik
Im letzten Vortrag wurde gezeigt, wie viele Schnittmengen es zwischen Philosophie und Musik gibt. Beide nehmen sich des Seienden an.
Sie sind dabei dem Prinzip der Hingabe verpflichtet. Hingabe ist wie ein Kelch, er empfängt, nimmt auf, er kann aber auch spenden. Der Drang nach wahrer Erkenntnis des Seienden macht Philosophie von ihrem Wesen her zu einer Wissenschaft, worin eine Frage immer nur durch eine weitere Frage beantwortet wird.
Ideologie ist dem umgekehrten Prinzip verpflichtet, sie ist die Unterwerfung des Geistes oder der Erkenntnis unter den Willen von Einzelnen oder von Systemen. Ideologie ist kein Gefäß, sie ist die zwingende Faust, in der Alles zerquetscht wird. Philosophie heißt übersetzt „Freund der Weisheit“, Ideologie würde man mit „Lehre einer Idee“ übersetzen. Die Ideologie erforscht nicht das Seiende, sie erklärt zielgerichtet die Vorstellung, wie etwas zu sein hat. Sie kann keine Widersprüche mit der Realität dulden und versucht notgedrungener Weise, die Widersprüche durch Anspruch auf absolute Wahrheit zu negieren und zu kaschieren.
Musik gerät bei Ideologien, wie überhaupt alles Andere auch, in ein Dienstverhältnis. Sie hat den Zweck ideologischer Bestätigung zu erfüllen. Man nützt ihre Macht aus, um die Hörer gefühlsmäßig zur Akzeptanz verkündeter Ideen manipulieren zu können. Das funktioniert sogar mit solcher Musik, die von vorne herein gar nicht für irgendeine Ideologie komponiert worden war. Zum einen liegt dies am oben beschriebenen Phänomen, wonach Musik auch Zugriff auf die irrationalen, trieb- und instinkthaften Persönlichkeitsanteile hat. Zum anderen liegt es an zwei Elementen, die für Kunst und ihre Rezeption entscheidend sind: Ausdruck und Eindruck.
Der Ausdruck von Empfindungen in der Kunst erweckt beim Rezepienten, falls dieser nicht aus irgendwelchen Gründen blockiert ist, selbstverständlich einen Eindruck. Dabei gibt es – je nach „Sender“ und „Empfänger“ zwei Möglichkeiten. Die eine ist Empathie, in ihr befindet sich der Rezepient in mitfühlender, verstehender Distanz. Die zweite und wesentlich intensivere ist Echo. In diesem Fall wird die ausgedrückte Empfindung im Hörer selbst erzeugt. Ein Komponist kann dies bewusst oder unbewusst bewerkstelligen. In Horrorfilmen spielt Musik wegen dieses Effektes eine so wichtige Rolle, wenn es beispielsweise darum geht, Angst beim Zuschauer im Sinne des Genres zu mobilisieren.
Wille (aktiv) und Hingabe (passiv) sind zwei gegensätzliche Prinzipien, sie stehen in einem Zusammenhang wie Protagonator und Antagonator. Das Gleiche gilt für Ausdruck und Eindruck sowie für Echo und Empathie, wobei Eindruck und Empathie dem passiven Prinzip Hingabe, Ausdruck und Echo hingegen dem aktiven Prinzip Wille zugeordnet werden können.
Alles Seiende ist Erscheinungsform von Geist.
Geist beinhaltet Dynamik, in welcher mechanische Gesetze dialektisch wirksam sind. Dialektisch bedeutet: Dinge stehen in konditionalem Zusammenhang, von harmonischen Konstellationen bis hin zu vollkommenen Gegensätzen. Insbesondere durch diese existieren sie. Ohne Licht kein Schatten, ohne Hoch kein Tief, ohne das Individuum kein Kollektiv, ohne Konzentration keine Expansion, ohne Wille keine Hingabe.
Zwischen den Dingen im dialektischen Zusammenhang kommt es zu mechanischen Wirkungen, wie zum Beispiel:
Mit der Konzentration auf Kollektives reduziert sich Subjektivität, mit der Konzentration auf das Individuelle expandiert Subjektivität.
Steigt das Maß an Subjektivität, reduziert sich Hingabe, und Wille wird wirksam. Nimmt dagegen Orientierung am Gesamten zu, steigert sich die Neigung zu Hingabe.
Die Erkenntnis und Handhabung dieser Gesetzmäßigkeiten spielen bei jeglicher Organisation von Gesellschaftsformen eine wichtige Rolle, weil es in diesem Zusammenhang stets darum geht, Macht aufzubauen, zu verwalten und zu erhalten. Dies wiederum erweist sich gar um so nötiger, je ungerechter die Besitzverhältnisse einer Gesellschaft sind bzw. je unfreier deren Mitglieder gehalten werden müssen. Musik ist dabei ein unentbehrliches Werkzeug.
Die mechanische Wirkung des Willens in den diversen Epochen
Platon, der Vertreter der sogenannten „Ideenlehre“ schenkt der Musik in seinem Werk „Politea“ (5. vorchristliches Jahrhundert) erstaunlich viel Aufmerksamkeit. Er verschmähte im Grunde die Künste, weil er sie als bloße Nachahmung des Natürlichen ansah. Der Musik sprach er jedoch eine große ethische Wirkung zu, die sie ja in der Tat besitzt (wie oben schon ausgeführt wurde) weil sie Einfluss auf Gefühle und Unbewusstes ausübt. „Politea“ ist ein frühes Beispiel für Ideologie, weil letzten Endes Vorstellungen darin erörtert werden, wie eine kleine Gruppe von Besitzenden am effektivsten eine Sklavengesellschaft in Schuss halten kann. Daher verwundert es keineswegs, wenn hier Instruktionen enthalten sind, welche die Musik reglementieren. Die griechische Antike kannte eine ganze Reihe verschiedener Tongeschlechter, die eine Charakteristik des Ausdrucks nachsagte. Platon, dem das Rezeptionsprinzip Empathie oder Echo bewusst war, sagte ihnen aber tatsächlich eine charakterprägende Wirkung nach. Seiner Meinung nach dürfen nur zwei Tongeschlechter überhaupt gebraucht werden, nämlich das Dorische und das Phrygische. Dorisch stimuliert gemäß Platon die Kriegs- und Kampfeslust, es schürt Aggressivität. Man soll junge Männer dorische Musik hören lassen, um sie für kriegerische Handlungen zur Expansion eines Reiches stimulieren zu können. Auch über die Verwendung von Instrumenten lässt Platon sich aus. Von einer beträchtlichen Anzahl an Instrumenten bleiben nur gerade 3 übrig, die nicht im Verdacht stehen, des Edlen (=Besitzenden) Wesen zu verderben. Auch dürfen die gebrauchten Musikinstrumente eine gewisse Anzahl von Saiten nicht überschreiten, um nicht zu Überfluss oder Größenwahn zu erziehen. Wir sehen an dieser Reglementierung, wie wenig die antike Demokratie mit der modernen, bürgerlichen Demokratie zu tun hat.
Es entbehrt übrigens keineswegs einer gewissen Komik, dass der Philosoph das ionische Tongeschlecht, welches unserem heutigen Dur entspricht, das bekanntlich am meisten Verwendung in Kunst- und Unterhaltungsmusik findet, als das verwerflichste aller Tongeschlechter angesehen hat.
Die Ideen Platons waren im Mittelalter in abgeschwächter Form noch wirksam. Eine ideologische Instrumentalisierung der Musik war jedoch nicht vorrangig. Die Widersprüche zwischen den gesellschaftlichen Kräften und dem christlichen Glauben mit seiner Erlösungsverheißung waren zu gering, um Machthabern in Staat oder Kirche gefährlich werden zu können. Die kulturelle Orientierung hatte sich noch nicht vom Gesamten zum Einzelnen gewendet.
Im gregorianischen Gesang sowie in den Messvertonungen bis zur Renaissance hören wir die Hingabe an den göttlichen Willen, daraus resultierend die Ruhe und die Zentrierung von Geist und Seele. Ohne tiefe religiöse Überzeugung wäre die perfekte Intervallische und satztechnische Gestaltung dieser Musik undenkbar gewesen. Ihre Heiligkeit ereignet sich von innen heraus, sie ist nicht das Ergebnis eines gewollten „Sounds“, wie er beispielsweise später vom Atheisten Richard Wagner perfekt erzeugt wird, wenn er im Lohengrin oder Parsifal scheinbar religiöse Aspekte vertont.
Im Humanismus wendet sich nun der Blick vom Gesamten zum Einzelnen, von der Ganzheit göttlicher Schöpfung auf den einzelnen Menschen als deren Zentrum. Subjektivität nimmt zu und menschlicher Wille beginnt kulturell zu dominieren. Damit setzt zwangsläufig und unaufhaltsam Europas große Säkularisation ein, der Weg für das Erstarken bürgerlicher Kräfte ist bereitet. Menschlicher Wille wird nun offen über göttlichen Willen gestellt, man denke nur an die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg: „Cuius regio, eius religio“ (in einem Land herrscht jeweils die Religion des Herrschers). Wo es der Festigung von Macht nützlich ist, kaschiert man Herrscherwillen als göttlichen Willen. Theologie erhält hier nicht nur ideologische Züge, sie wird von Ideologien vereinnahmt. Das deutlichste Beispiel hierfür sehen wir im Absolutismus, der den König oder Fürsten als gottgewollten Herrscher verkündet. Im Zentrum seines Hoheitsgebietes steht dieser ganz und gar als Monade, nach welcher sich Alles im Staate auszurichten hat, weil ihr Wille schließlich göttlicher Wille ist. In dieser neuen kulturellen Ära der Fusion des Menschlichen und Göttlichen und des Willenstriumphs müssen sich künstlerische Konzeptionen freilich entsprechend verändern. Durch den individuellen Willen in der Kultur wandelt sich die Musik um 1600 von einer lyrisch deskriptiven zu einer dramatischen Kunst mit persönlichem Tonfall. Ziel der Komposition wird nun immer stärker die Resonanz des Affektes im Rezepienten. Musik wird im Absolutismus ideologisch instrumentalisiert. Wo menschlicher Wille sich als göttlicher präsentiert, wo die Herrlichkeit Gottes zur Herrlichkeit des absoluten Herrschers deklariert wird, entstehen erstmals Monumentalstile, z. B. in der venezianischen Mehrchörigkeit eines Giovanni Gabrieli (ca. 1557 1612). Die pompöse Verherrlichung des gottgewollten Herrschers durch Musik mit Pauken und Trompeten lässt im Sinne von Propaganda ein Sound-Know-how entstehen. Es ist so überzeugend und prachtvoll, dass geistliche Musik sich von nun an dessen gerne bedient. Der Beginn von Marc Antoine Charpentiers (ca. 1643 – 1704) „Te Deum“ (bekannt als die Eurovisions-Fanfare im Fernsehen) könnte auch die Eröffnungsmusik eines Banketts des Sonnenkönigs sein.
Im 18. Jahrhundert werden die bürgerlichen Kräfte gesellschaftlich und kulturell bestimmend. Widersprüche zum Absolutismus, der sich inzwischen selbst als aufgeklärt gibt, verschärfen sich. Die Säkularisation erreicht beträchtliche Ausmaße. Das Oratorium bleibt zwar geistliches Drama, wird aber als Konzert auf dem Podium präsentiert. Noch wird es nicht auf breiter Front gewagt, die Existenz Gottes anzuzweifeln, die meisten Komponisten glauben authentisch, auch wenn ein Unbehagen im Bezug auf den Klerus nicht zu übersehen ist. In der „Schöpfung“ Joseph Haydns (1732 – 1809) paaren sich noch hymnische Chöre als Ausdruck aufrichtiger Gläubigkeit und Ehrfurcht vor der Schöpfung mit dem weltlichen Prachtklang der Symphonik. Aber durch die Französische Revolution war das Ende der alten Gesellschaft bereits eingeläutet worden. Das christliche, das humanistische und das Menschenbild der Aufklärung sind verschmolzen und jener ethisch hochstehende Codex ist entstanden, der „Menschenrechte“ genannt wird.
Das 19. Jahrhundert versucht einen neuen Gesellschaftsentwurf gemäß den Menschenrechten zu realisieren. Nun soll nicht mehr länger eine Monade alleine im Zentrum gesellschaftlichen Geschehens stehen, jeder soll Souverän seines eigenen Lebens sein dürfen. Doch die Französische Revolution ist gescheitert, konterrevolutionäre Kräfte versuchen die Umsetzung der neuen Ideen zu verhindern, Glaube und Kirche, mit der alten Gesellschaft assoziiert werden vielfach abgelehnt, an ihre Stelle treten individualistische Weltanschauungen, die Kunst flüchtet in die Romantik, träumt und verklärt die „gute alte Zeit“ - das Mittelalter. Der subjektive Status unserer Kultur ist nun bereits so hoch, dass wir berechtigt sind, auf geistiger Ebene von babylonischem Sprachgewirr zu sprechen. In der Musizierpraxis findet zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Wechsel vom „Vortrag“ eines Werkes zu dessen „Interpretation“ statt. Die Interpretation tritt mit hermeneutischem Anspruch auf. Dies ist im Grunde nichts anderes als ein ideologischer Ansatz. Oft genug wird ein Werk dabei so deformiert, dass man es als Opfer der Ideologie seines Interpreten bezeichnen darf.
Jedoch steht zunächst an der Schwelle zur neuen Gesellschaft ein epochales Werk, welches wie kaum ein anderes dem Missbrauch durch Ideologien anheim fallen wird: die 9. Symphonie von Ludwig van Beethoven (1770 – 1827). Im ersten Satz wartet der Komponist als Reaktion auf die ernüchternden Verhältnisse des Jahrhundertbeginns durchaus mit düsteren, pessimistischen Klängen auf. An seinem Schluss meint man gar, Beethoven trüge die Hoffnung auf eine bessere Welt zu Grabe. Doch im 4. Satz des 1824 uraufgeführten Werkes siegt mit den Worten von Schillers Ode an die Freude der Glaube an die Weltverbrüderung und eine dem Individuum angemessene Welt.
In den Chören des letzten Haydn Oratoriums war es noch der Glaube an den wohlmeinenden göttlichen Schöpferwillen, der zum Ausdruck kam, nun wird mit dem gleichen hymnischen Pathos eine Welt beschworen, in welcher individueller menschlicher Wille frei und froh walten kann. Und schon entsteht neben dem demokratischen Entwurf der bürgerlichen Gesellschaft der chaotische Gegenentwurf, nämlich Anarchismus, sowie der diktatorische, Sozialismus.
Im Jahre 1849 hört der russische Anarchist Michael Bakunin die Generalprobe zu einer Aufführung der 9. Symphonie Beethovens unter dem Dirigat Richard Wagners. Hinterher sagt er zum Dirigenten, dass dieser beim bevorstehenden Weltenbrand, wenn alle Musik in Flammen aufgeht, für den Erhalt dieser Symphonie sein Leben wagen solle.
Das 20. Jahrhundert wurde trotz aller Bemühungen um die von Beethoven beschworene Welt durch die Existenz von Diktaturen links und rechts entstellt.
In der Diktatur fallen wir zurück ins absolutistische Stadium, nur dass jetzt an Stelle eines Fürsten oder Königs, ein Führer oder ein Zentralkomitee als Monade im Zentrum des Staates steht, nach dem sich Alles zu richten hat. Und auf die gleiche Weise, wie sich einst der Absolutismus eines grandiosen Sound-Know-hows bedient hatte, um die Untertanen auf die überragende Größe ihres Herrschers gefühlsmäßig einzuschwören, tun dies die Diktaturen – sogar mit Werken, die aus einem vollkommen anderen ethischen Kontext heraus entstanden sind.
Sowohl sozialistische Regime als auch faschistische wollten im 4. Satz von Beethovens letzter Symphonie den Aufbruch zur Verwirklichung ihrer Ideale sehen. Dies geht vor allem so erfolgreich, weil die dichte, imposante Komposition Beethovens den Text Schillers „über tönt“, so dass bestimmte, gefährliche Schlüsselworte überhört werden können. Als Gipfel missbräuchlicher Handlungen mit Musik darf man die Ernennung Beethovens zum Ehrenbürger der Sowjetunion durch Stalin, anlässlich seines 100.Todesjahres, erwähnen.
Russland hatte bis ins 20. Jahrhundert keine nennenswerte symphonische Tradition. Dem sozialistischen Regime lag jedoch sehr viel am Aufbau einer imposanten symphonischen Kultur. Die Symphonie war in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts als die emblematische musikalische Erscheinungsform fortschrittlicher, freiheitlicher, weltbürgerlicher Ideen hervorgegangen, sie spiegelte repräsentativ die Vision einer neuen Gesellschaft. Diesen Glanz wollte man sich zueigen machen. Es sollte der Anschein erweckt werden, als sei die Sowjetunion Besitzer und Bewahrer bewährter, zeitloser, humaner und hochstehender Ethik. Dimitri Schostakowitsch (1906 – 1975) ist der zu recht prominenteste Symphoniker Russlands. Zugleich strafte sein Leben die ethischen Ansprüche der sozialistischen Diktatur Lügen, er wurde gegängelt und gepeinigt. In der Stalin-Ära war sogar sein Leben in Gefahr. Schostakowitsch hat stets darunter gelitten, nicht das tun zu dürfen, wozu ihn seine künstlerische Existenz gedrängt hat: Realität zu spiegeln. Die 10. Symphonie aus dem Jahr 1953, wenige Monate nach Stalins Tod uraufgeführt, lässt einen glänzenden Symphoniker vernehmen, der es trotz gnadenloser Vorschriften vermochte, individuell zu komponieren und das vom Staat diktierte konventionelle Tonmaterial neu und fortschrittlich zu handhaben.
Zweck der Kunst
Musik hat Macht, und Mächtige glauben, durch Missbrauch von Musik leichter mächtig erscheinen zu können. Aber Kunst und Künstler unterliegen einer zeit- und gesellschaftsübergreifenden Ethik.
Kunst möchte von ihrem Urgrund her nicht manipulieren und sie darf es auch nicht. Staaten, egozentrische Individuen und Reklame machen sich des Missbrauchs gleichermaßen schuldig, wenn sie Kunst zu ihren Zwecken instrumentalisieren. Die Rezepienten sind, je weniger Erfahrung, Bildung, Erkenntnisse bzw. (sozial bedingte) Erkenntnismöglichkeiten sie besitzen, umso machtloser. Dieser Machtlosigkeit entgegen zu treten, wäre ein notwendiger Bildungsauftrag. Dies würde aber bedeuten, dass in den sogenannten demokratischen Systemen, Kunst nicht weiterhin als Konsumgut oder Wirtschaftsfaktor behandelt und gehandelt wird. Es ist zu befürchten, dass wir darauf vergebens warten müssen.
Wille blockiert, er verhindert zur Erkenntnis, zur Weisheit oder zum Kern eines Kunstwerkes. Als Konsumgut widerfährt der Kunst Verflachung, letzten Endes Sinnentlehrung. Schon Aristoteles verband Kunst mit Denk- und Erkenntnisprozessen. Über das Kunstwerk kann erkannt werden, wie etwas ist. Dies bezeichnet er als die Seelentätigkeit. Kunst ist von Gott gegeben, er ist apriori der genuine Schöpfer. Kunst hat von da her weitaus mehr als nur den Zweck von Ausdruck oder Eindruck, Kunst bezweckt Erkenntnis. Ziel jeglicher Erkenntnis ist Erkenntnis des Wesentlichen, des wahren Wesens: Gottes.
Kunst hat Gotteserkenntnis als höchsten Zweck!